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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2011

Zur Diskussion um einen Begriff
von Piet van der Lende
Zunehmend müssen Arbeitslose unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit verrichten, nur damit sie «die Disziplin» nicht verlernen.
Seit einigen Jahren treffen europäische Regierungen vermehrt Maßnahmen, um Arbeitslose wieder in einen Job zu bringen. Meist sehen diese Maßnahmen vor, dass Arbeitslose unbezahlte oder stark unterbezahlte Arbeit verrichten, damit sie im «Arbeitsrhythmus» bleiben und die Disziplin nicht verlernen. Zudem sollen sie gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten, die sonst liegen bleibt.
Oft leisten Arbeitslose jahrelang eine solche Arbeit, finden trotzdem keine reguläre Tätigkeit und bleiben weiter in Armut. Arbeitslosengruppen nennen dies auch «Zwangsarbeit», weil Arbeitslose gezwungen werden, sie zu leisten. Denn wenn sie es nicht tun, bekommen sie keine Arbeitslosen- oder Sozialhilfe.

Was ist Zwangsarbeit?

Die Reaktion darauf ist, dass Arbeitslosengruppen, die diese Art von Tätigkeit so nennen, gesagt wird, dass Zwangsarbeit doch etwas anderes ist, nämlich wenn Menschen in Diktaturen mit körperlicher Gewalt und Gefängnisstrafen gezwungen werden, schwere Arbeit zu verrichten. Die erzwungene Arbeit von heute so zu nennen, wäre übertrieben.
Dabei wird jedoch übersehen, dass, gemessen an den Vorgaben der Menschenrechtskonvention, viele Maßnahmen der europäischen Regierungen sehr wohl als Zwangsarbeit eingestuft werden können.

1930 definierte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf, was sie unter Zwangs- und Pflichtarbeit versteht: «Jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird, für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.»
Dann werden Formen von Arbeit erwähnt, die nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit gelten können, u.a. der verpflichtende Militärdienst. Auch zu «kleineren Gemeindearbeiten» kann man verpflichtet werden, wenn sie zu den «üblichen Bürgerpflichten der Mitglieder der Gemeinschaft» gerechnet werden können.
In einer Konvention von 1957 sprach die ILO ein Verbot der Zwangsarbeit aus. Demnach ist es verboten, Pflichtarbeit einzuführen, wenn sie als Mittel zur Arbeitsdisziplin und als Methode dienen soll, Arbeitskräfte zur ökonomischen Entwicklung zu mobilisieren.
Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) enthält einen Katalog von Grundrechten und Menschenrechten. Über deren Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Alle Staaten, die Mitglied des Europarats sind oder sein wollen, müssen diese Menschenrechtskonvention unterzeichnen und ratifizieren. Artikel 4 der Konvention verbietet es, eine Person in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu halten.
Derselbe Artikel verbietet Zwangs- oder Pflichtarbeit. Davon ausgenommen sind jedoch Pflichtarbeiten im Strafvollzug, im Wehr- oder Wehrersatzdienst oder in Katastrophenfällen.

Kriterien für Zwangsarbeit

In den Niederlanden führte der Bijstandsbond einen Prozess, bei dem die Internationalen Abkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit zurate gezogen wurden. Dieser Prozess gelangte bis zum Obersten Gerichtshof in den Niederlanden und wurde unlängst dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt.
In diesem Zusammenhang formulierte der Oberste Richter der Niederlande zum ersten Mal Kriterien, was Zwangsarbeit bedeutet und was dem Art.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht:

– die Art, Lage und Dauer der Arbeitszeiten der angebotenen Arbeit im Verhältnis zu den Möglichkeiten, Arbeitserfahrungen, Ausbildung und Familiensituation des Arbeitslosen;
– die Dauer der Arbeitslosigkeit;
– ob und auf welche Weise die angebotene Arbeit dazu beitragen kann, reguläre Arbeit abzulehnen;
– die Schwere der Sanktionen, wenn man der angebotenen Arbeit nicht zustimmt.

Gemäß diesen Kriterien ist es also wichtig, dass es eine individuelle Beurteilung gibt, die in Bezug steht zu den Möglichkeiten und der persönlichen Situation des Arbeitslosen. Die Chancen auf eine reguläre Arbeit müssen durch die angebotene Arbeit größer werden. Allgemeine Projekte, die Arbeitslose unter Druck setzen (z.Bsp. durch Sanktionen), bestimmte Arbeit zu verrichten, ohne Rücksicht auf ihre persönliche Situation, sind Zwangsarbeit.
Das Führen von Gerichtsprozessen im Kapitalismus birgt  Risiken, denn der Richter folgt den Gesetzen, die der Kapitalismus vorgibt, und mitunter sucht er einen Kompromiss. Wenn man einen Prozess verliert, steht man vielleicht schwächer da als vorher.
Die internationalen Menschenrechtsabkommen bieten jedoch auch Möglichkeiten. So hat der Richter in den Niederlanden gesagt, dass Work-First-Projekte möglich sind und sie keine Zwangsarbeit darstellen. Er sagte aber auch deutlich, dass diese Arbeit zeitlich eng beschränkt sein muss und dass bewiesen werden muss, dass sie dazu beiträgt, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, weil man z.B. etwas lernt und eine Weiterbildung bekommt. Wenn dies nicht der Fall ist, handelt es sich um Zwangsarbeit.
Das zeigt, dass Prozesse doch nützlich sein können, der Meinung der Gewerkschaften und der Arbeitslosen zur Geltung zu verhelfen. Diese Prozesse haben viel Aufmerksamkeit erregt und bieten die Möglichkeiten, unseren Standpunkt zu zu verteidigen.

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