Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2012

Versäumnis, Versagen, Verschulden

von Martina Renner

Allen, die in Thüringen antifaschistische Recherche betreiben, waren die Namen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ein Begriff. Anfang 1998 hatte deren von den Sicherheitsbehörden ungehindertes Abtauchen unzählige Fragen, Vermutungen und auch parlamentarische Aktivitäten nach sich gezogen. Und dann fragten sich viele 2003, als die Haftbefehle gegen die drei Neonazis wegen Herbeiführung bzw. Planung von Sprengstoffverbrechen aufgehoben wurden, ob sie nach ihrer Flucht nun nach Thüringen zurückkehren würden.

Auch wenn in den Strafverfolgungsbehörden verharmlosend von Einzeltätern ohne organisierten Bezug und «Bombenbastelei» die Rede war, hatten viele Antifaschisten damals eine ganz andere Einschätzung. Die mit 1,4 Kilogramm gefüllten Rohrbomben hatten tödliches Potenzial: Am 5.Februar 1995 starben im österreichischen Bundesland Burgenland fünf Roma bei einem Anschlag mit einer Rohrbombe. Dass Neonazis nicht nur «bastelten», sondern mordeten – gestern wie heute – war schon 1998 bekannt.
Die drei abgetauchten Neonazis tauchten Jahre später wieder auf – am 4.November 2011, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot, Beate Zschäpe auf der Flucht, bis sie sich am 8.November in Jena der Polizei stellte. Seitdem vergeht kein Tag, an dem nicht neue Details zu einem der größten Skandale bundesdeutscher Sicherheitsbehörden und zu einer gegenüber dem Neonazismus nachsichtigen Politik ans Tageslicht kommen.

Offene Fragen

Neun rassistische Morde, ein Mordanschlag auf eine Polizistin, viele Schwerverletzte durch antisemitische und ausländerfeindliche Bombenanschläge und eine Vielzahl von Banküberfällen gehen nach derzeitigem Stand der Ermittlungen auf das Konto der Neonazigruppierung «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU), zu der die drei Thüringer Neonazis gezählt haben sollen. Niemand, auch nicht diejenigen die seit Jahren vor militanten Strukturen, europaweiter Vernetzung, Waffen- und Sprengstofferwerb und -übungen bei Neonazis warnten, konnte sich dies vorstellen.
Dass Neonazis sich auf Terrorakte vorbereiten, war seit langem klar – u.a. in Zusammenhang mit Gruppen wie «Combat 18». Wenig Klarheit gibt es in Bezug auf den langen Zeitraum, in dem die Morde, Anschläge und Überfälle scheinbar unbemerkt vonstatten gingen und auf die zweifellos bestehenden Unterstützerstrukturen. Warum sind diese nie aufgeflogen? Inwieweit wusste die Neonaziszene von der Mordserie, die in dem Lied «Dönerkiller» des Nazirocksängers Daniel Giese besungen wurde?
Schließlich herrscht auch großes Unbehagen über die Rolle des Staates – der Geheimdienste, Polizei und Justiz. Was den Anfang und das vorläufige Ende der drei Nazimörder angeht, so müssen die Antworten in Thüringen gesucht werden.

Historische Kontinuitäten

Wer sich mit der Geschichte des Neonazismus nach 1945 in der Bundesrepublik beschäftigte, weiß, dass rechter Terror kein Novum ist, und dass immer alles daran gesetzt wurde, diese Taten verwirrten Einzeltätern zuzuschreiben, um abzulenken von der staatlichen Durchdringung von Neonazistrukturen, von Geheimdienstkontakten führender Rechtsterroristen oder gar von der Einbindung  paramilitärischer Gruppierungen in Verteidigungsstrategien gegen die  «kommunistische Gefahr» aus dem Osten.
Wir sind alle mit den investigativen Recherchen zur «Wehrsportgruppe Hoffmann», zum Attentat auf das Oktoberfest, zur NATO-Geheimarmee «Gladio», zur «Bajuwarischen Befreiungsfront» usw. vertraut. Und wir wissen um die NS-Kontinuitäten im Bundesnachrichtendienst oder dem Bundeskriminalamt, um die Verstrickungen der Geheimdienste beim Untertauchen gesuchter NS-Massenmörder wie Alois Brunner und Klaus Barbie und um neonazistische Organisationen wie die «Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte» die – auch mit staatlicher Unterstützung – NS-Verbrecher finanziell und ideell betreute und das Wissen über funktionierende Netzwerke, die das Untertauchen und die Illegalität von Nazis organisierten, an nächste Generationen weitergab.

«An diesem Fall stimmt nichts»

Wenige Tage nach dem Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes des rechten Terrors der NSU traf ich einen Kriminalisten. Er brachte es auf den Punkt: «An diesem Fall stimmt nichts.» Zum ersten Mal hatte ich da das Gefühl, dass wir uns mit unseren Fragen nicht in eine Verschwörungswelt verrannt haben, sondern dass man ernsthaft und offen alles in Erwägung ziehen muss – von der Schlamperei der Behörden bis hin zur staatlichen Lenkung der Terrorgruppe oder deren Umfeld. Es ging nicht mehr nur um die Frage, was der Geheimdienst 1998 wusste, als die drei Neonazis untertauchten, sondern auch inwieweit er Kenntnis von der Waffenbeschaffung, den Anschlägen und Morden hatte und welche Rolle er damals und heute in Bezug auf die Ermittlungsarbeit der Polizei spielte und spielt.
Die drei waren Mitglied der «Kameradschaft Jena», die in der neonazistischen Dachorganisation «Thüringer Heimatschutz» (THS), organisiert war. Chef des THS war der langjährige Spitzel Tino Brandt, der in den Jahren seiner V-Mann-Tätigkeit von 1994 bis 2001 vom Staat über 200000 Mark für sich und die Neonaziszene bekam. Neben Brandt muss es noch weitere Spitzel des Landesamts im Umfeld dieser Strukturen gegeben haben. Eine Spitzeltätigkeit sagte die Südthüringer Zeitung auch dem THS-Aktivisten Jörg Krautheim nach.
Böhnhard und Mundlos waren zudem in der militanten neonazistischen Szene «Blood & Honour» (B&H) aktiv. Mundlos schrieb sogar nach seinem Untertauchen noch für deren Zeitschrift White Supremacy unter falschem Namen. Zu den damaligen engen Vertrauten zählte auch Marcel Degner aus Gera, der 2001 als V-Mann enttarnt wurde. THS und die B&H-Strukturen waren durchsetzt mit Spitzeln, das Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen muss also von den Fluchtabsichten der drei, ihren Unterstützerkreisen und Aufenthaltsorten Kenntnis gehabt haben. Dies alles ist inzwischen belegt.

Geheimdienstlogik

Wie eng der Verfassungsschutz an den dreien «dran» war, belegt ein Vorgang aus dem Jahr 1999, als der Verfassungsschutz dem V-Mann Brandt 2000 Mark übergab, damit sich die drei neue Pässe besorgen konnten. Aus den Akten der Meldebehörde in Jena war bekannt, dass sowohl Personalausweise wie Reisepässe inzwischen abgelaufen waren oder in Kürze ablaufen würden. Jegliche Reisetätigkeit, das Anmieten von Wohnungen und Fahrzeugen oder das Eröffnen von Konten war also eng mit der Frage der Beschaffung neuer Passdokumente verbunden.
Der Verfassungsschutz behauptet, das Geld nur zur Verfügung gestellt zu haben, damit der Geheimdienst wieder näher an die Observierten heranrückte und dann die Informationen der Polizei übergeben konnte. Das muss er heute behaupten, will er nicht Gefahr laufen, der Beihilfe zur Flucht oder gar der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bezichtigt zu werden.
Das damalige Agieren gehört aber zum Selbstverständnis eines jeden Geheimdienstes, dem es allein darum geht, exklusive Informationen zu haben, die andere Geheimdienste und die Sicherheitsbehörden nicht haben. Das Ausbleiben der Weitergabe von Informationen an die Strafverfolgungsbehörden wird regelmäßig damit begründet, dass der VS eventuelle weitere Informationen, die vielleicht noch brisanter sind, nicht mehr erhalten würde, wenn er die Quellen auffliegen ließe.
In dieser Logik kann der Geheimdienst immer weiter machen, auch wenn er, wie in diesem Fall, erwiesenermaßen Kenntnis über Waffenerwerb oder beabsichtigte Straftaten hat.

Alles ist denkbar

Mittlerweile belegen aufgetauchte Dokumente eindeutig, dass der Thüringer Heimatschutz von Spitzeln und Informanten durchsetzt war. Landesamt, Bundesamt, MAD, möglicherweise auch BND und Polizeibehörden hatten Neonazis in ihren Diensten. Vor und nach dem Abtauchen der drei gab es unzählige Aktivitäten im Umfeld der Neonaziterrorgruppe, etwa Telefonüberwachungen und Observationen. Die Behörden tauschten sich regelmäßig intensiv untereinander aus, auch über Ländergrenzen hinweg. Nur eines gab es nicht: eine Festnahme. Die zentrale Frage lautet: Warum?
Der «Thüringer Heimatschutz» mit zeitweise bis zu 170 Mitgliedern war nicht nur für den Landesgeheimdienst von Interesse, sicher hatte auch das Bundesamt für Verfassungsschutz dort Informanten platziert, und ziemlich sicher hatte auch das sächsische Landesamt Zuträger im Umfeld der Unterstützer der drei, nachdem sie ihren Wohnort nach Chemnitz und Zwickau verlegt hatten.
Es ist kein Skandal des Thüringer Verfassungsschutzes und schon gar nicht ein Skandal, der mit der Amtszeit des damaligen Thüringer Geheimdienstchefs Roewer 2001 endet. Es ist davon auszugehen, dass die Verbindungen der drei in ein Milieu, in dem illegal Waffen besorgt werden können, Geld aus Banküberfällen gewaschen wird und Auslandskontakte zu Neonazis aus dem Bereich des Söldnergewerbes bestehen, auch bundesdeutsche Inlands- und Auslandsgeheimdienste auf den Plan gerufen haben.
All das lässt die Schlussfolgerung zu, dass alles denkbar ist, auch dass der Selbstmord zweier Täter, die Sprengung des Wohnhauses in Zwickau durch Zschäpe, das Panoptikum der Tatwaffen im Wohnmobil und in den Trümmern des Gebäudes plötzlich in einem anderen Licht erscheinen könnten.

Wir brauchen keine Geheimdienste

Wir müssen Fragen nach weiteren Taten und weiteren Zellen des Neonaziterrors stellen. Wir wollen jeden Verantwortlichen und jeden Vorgang kenne, der dazu beigetragen hat, dass diese Gruppe agieren konnte.
Wir müssen klare politische Forderungen stellen: Wir brauchen keine Geheimdienste, sie sind eine Gefahr für die Demokratie. Wir wollen endlich ein klares antifaschistisches Bekenntnis des Staates. Es muss Schluss sein mit dem Geschwätz der Extremismustheoretiker vom «weichen Extremismus» der LINKEN, der gefährlicher sei als die Neonazis. Es muss Schluss sein mit der Verfolgung engagierter Antifaschisten und mit der antikommunistischen Staatsdoktrin im Gewand der Extremismus- und Totalitarismustheorie.
Möglicherweise müssen wir die Justiz einschalten, um zu klären, ob Behörden oder deren Mitarbeiter Straftaten begangen haben. Aber das wichtigste ist: Es gibt auch heute noch eine militante neonazistische Szene, es gibt Angst vor neuen Anschlägen und berechtigte Wut bei Migranten über die Ermittlungen der Polizei und der teils rassistischen Berichterstattung nach den Morden. Der «braune Sumpf» muss endlich trocken gelegt werden. Die Gesellschaft muss in Zukunft protestieren, wenn von «einem toten Dönermann» die Rede ist, und der Staat muss endlich konsequent auf Neonazis reagieren.
Ob es aber zu einer umfassenden Aufklärung, zu politischen Konsequenzen und zu einer Schwächung des Neonazismus kommt, hängt auch davon ab, ob wir uns endlich wieder wahrnehmbar mit unseren Forderungen auf die Straße begeben. Geschrieben, beantragt und debattiert wurde schon viel. An der Auseinandersetzung um den Naziaufmarsch im kommenden Februar in Dresden und der staatlichen Verfolgung von Demokraten und Antifaschisten wird sich einmal mehr zeigen, auf welcher Seite die Zuständigen stehen.

Martina Renner ist innenpolitische Sprecherin der LINKEN im Thüringer Landtag.

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