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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2012

Ein alternatives Modell zum Kapitalismus
von Eva Haule

Im März und April besuchen zwei verschiedene Delegationen von Arbeitern aus Venezuela die Bundesrepublik, um über ihre Erfahrungen mit Arbeiterselbstverwaltung zu berichten (für die Termine siehe Kästen). In Venezuela wächst auf bemerkenswerte Weise der Anspruch der organisierten Arbeiterschaft, einen eigenen Beitrag zur Zukunft der bolivarischen Revolution zu leisten. Dabei stoßen sie auf Hindernisse nicht nur seitens der privaten Unternehmer und der ihnen nahe stehenden Medien, sondern auch in der Regierungspartei PSUV und bei den Gewerkschaften. Der nachstehende Text wurde im Jahr 2011 geschrieben.

Nach den Wahlen vom 26.September 2010 kamen große Erwartungen auf, wie die Führungsspitze der Partido Socialista Unida Venezuela (PSUV) die Wahlergebnisse analysieren und welche Konsequenzen sie daraus ziehen würde. Gemessen an den Verhältnissen in den bürgerlich-parlamentarischen Systemen Europas erreichte die regierende PSUV eine starke Mehrheit: 48,3% und 98 Sitze; das Oppositionsbündnis «Tisch der Freiheit» errang 47,2% und 65 Sitze. Zur Verwirklichung weiterer tiefgreifender Vorhaben der bolivarischen Revolution reichte das Ergebnis dennoch nicht, weil Änderungen der Verfassung oder von Organgesetzen eine Zweidrittel- oder Dreifünftelmehrheit verlangen.

Einige Wochen lang dreht sich die Debatte eher um seit längerem existierende Probleme der Partei. Die PSUV entstand als Wahlkampfbündnis und hat kaum eine Geschichte der politischen Organisierung und Kaderbildung. Das ist besonders gravierend, weil sie nominell mehrere Millionen Mitglieder zählt. Ihr politisches Programm hat sie erst im vergangenen April verabschiedet. Die Basisgliederungen der Partei lieferten bislang eine Fülle sehr konkreter Analysen und Schilderungen über Mängel in der Umsetzung der großen politischen Linie, an der grundsätzlich festgehalten wird. Nun kamen weitere Diskussionsbeiträge und Impulse für den Fortgang des bolivarischen Prozesses aus gesellschaftlichen Bereichen, die nicht in der vordersten Reihe der PSUV stehen.

Die Dynamik der ersten Jahre der bolivarischen Revolution stützte sich vor allem auf die Misiones für Gesundheit, Alphabetisierung, Bildung, und auf Verbesserungen der Infrastruktur in den Barrios. Erst kürzlich bescheinigte die UNO Venezuela beeindruckende Leistungen im Hinblick auf Bildung, Gesundheit und die Zurückdrängung der Armut. Doch jetzt drängen Stimmen und Forderungen aus den sich formierenden Arbeiterorganisationen nach vorn.

Der sog. Unternehmerstreik 2002/03 in der venezolanischen Ölindustrie, mit dem die Oligarchie schon bald nach ihrem gescheiterten Putsch Chávez aufs Neue aus dem Amt zwingen wollte und dabei die alten, den privaten Unternehmensleitungen gefügigen Gewerkschaften auf ihrer Seite hatte, war die Geburtsstunde für die neuen Gewerkschaften. Doch diese sind bis heute noch im Aufbau begriffen.

Verstaatlichungen

Zum Thema Ökonomie finden sich in den internationalen Medien regelmäßig und fast ausschließlich Meldungen über die Verstaatlichung vormals privater Unternehmen. Dabei erscheint die Regierung Venezuelas der einzige Akteur zu sein.

Bei den Verstaatlichungen lässt sich die Regierung vor allem von den politischen Zielen Nahrungsmittelsouveränität und Diversifizierung der venezolanischen Wirtschaft leiten, um alte Strukturen der Abhängigkeit zu überwinden. Daneben gibt es aber auch immer wieder Verstaatlichungen, wenn beispielsweise Unternehmen dauerhaft Produkte spekulativ zurückhalten oder die Rechte der Belegschaft verletzen. Die internationalen Medien berichten dabei nie über die Belegschaften, obwohl diese in mehrfacher Hinsicht bei den Verstaatlichungen eine bedeutende Rolle spielen und oft schon vor der faktischen Verstaatlichung die treibende Kraft waren.

Es gibt Fabrikbesetzungen, Übernahmen der Produktion in Regie der Belegschaften und die Aufforderung an die Regierung, den Betrieb zu verstaatlichen. Parallel zu diesen Klassenkämpfen diskutiert die venezolanische Arbeiterschaft Organisationsformen und Konzepte einer sozialistischen Wirtschaft. Die größte und landesweit organisierte Gewerkschaft ist heute die UNETE.

Konflikte mit den Gewerkschaften

Mitte September 2010 fand in Caracas ein Treffen statt, das die UNETE einberufen hatte. Daran beteiligten sich 220 Gewerkschaftsführer und Arbeiter aus verschiedenen verstaatlichten Betrieben, in denen eine Arbeiterkontrolle aufgebaut wird. Das Ziel war, Erfahrungen auszutauschen und Wege für den Aufbau eines Modells der sozialistischen Leitung dieser Unternehmen zu diskutieren.

Die Bestandsaufnahme der bisherigen Erfahrungen beim Aufbau der Arbeiterkontrolle in den verstaatlichten Betrieben fiel sehr kritisch aus. Die vom Staat eingesetzten Betriebsleitungen wurden wegen ihres bürokratischen Verhaltens und der offenen oder versteckten Behinderung der Belegschaft von dieser oft nicht als Vertretung akzeptiert. Kritisiert wurde die Einmischung der Betriebsleitungen in die Organisation der Arbeiter und der Versuch, die Arbeiterräte zu einem Anhängsel der Betriebsleitungen zu machen. Besonders scharf wurde die mangelnde Information der Belegschaften über Planung, Verwaltung, Produktion und Vermarktung kritisiert. Die Arbeiter forderten, diese Informationen müssten ihnen und den Stadtteilen zugänglich sein, «um Transparenz und die demokratische Ausübung der gesellschaftlichen Kontrolle und der Arbeiterkontrolle zu gewährleisten».

Des weiteren berichteten die Anwesenden von Unklarheiten und Konflikten im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeiterräten, die unter Beachtung der «Autonomie und der Freiheit der Assoziation der Arbeiter» geklärt werden müssten. Die Arbeiter müssten über die Struktur, Reichweite und Ziele ihrer Organisationen selbst entscheiden können. Um die Bedingungen dafür zu verbessern, wurde im Rahmen der Bestandsaufnahme vorgeschlagen, eine nationale Behörde für die Artikulation, Systematisierung und Sozialisierung der Erfahrungen der Arbeiterkontrolle und Leitung einzurichten. Sämtliche Leitungsposten in den Unternehmen müssten demokratisch von den Arbeitern gewählt werden.

Nach diesem Treffen wurden die Forderungen an die Asamblea Nacional zusammen getragen. Die Arbeiter warnten vor einer Kriminalisierung von Arbeiterkämpfen und forderten die Aufklärung und Ahndung extremster Formen der Repression, wie etwa die von Bossen und Großgrundbesitzern veranlassten Auftragsmorde. Präsident Hugo Chávez und sein Vize Elías Jaua erhielten Videoaufnahmen des Treffens, damit sie sozusagen «durch die Protagonisten selbst, die ein alternatives Modell zum Kapitalismus aufbauen, die wahre Geschichte dieser Unternehmen kennen lernen». Der wachsende Anspruch der organisierten Arbeiterschaft, dass ihr Beitrag zur Zukunft der Bolivarischen Revolution beachtet werde, ist bemerkenswert.

Arbeiteruniversität

Während in der ersten Zeit des bolivarischen Prozesses die Misiones für Gesundheit, Bildung und Lebensmittelsicherheit starke Hebel waren, um die materiellen Lebensbedingungen der Massen zu verbessern, haben diese Instrumente gleichwohl nach ein paar Jahren ihre politische Dynamik verloren. Und obwohl viele Räume für die Ausübung von Poder Popular geöffnet wurden, werden sie nicht stark genutzt. Die Menschen verharren in einer Konsumhaltung. Obwohl der bolivarische Prozess große kulturelle Veränderungen im Leben der Bevölkerung gebracht hat, dominieren weiter kapitalistische Kulturformen das Massenbewusstsein.

Venezuela ist eingebunden in einen globalen Kapitalismus, der sich in der Krise befindet. In vielen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern treibt sie scharfe Klassenkonflikte hervor, wie in Europa zu beobachten ist. Da ist es schwierig, in Venezuela etwas isoliert davon zu entwickeln. Die Einschätzung der begrenzten politischen Reichweite des Systems der Misiones wird von Gliederungen der PSUV, oft den aktivsten, geteilt.

Der gegenwärtige kritische Diskurs in der organisierten Arbeiterschaft der verstaatlichten Unternehmen darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die große Mehrheit der Gewerkschaften in den Staatsbetrieben sehr zuverlässig auf der Seite der bolivarischen Regierung steht. Erst im Juni 2011 marschierten Tausende Arbeiter aus verstaatlichten Lebensmittel-, Elektrizitäts-, Öl- und Minengesellschaften und Viehzuchtbetrieben vor das Hauptquartier von FEDECAMARAS, dem größten Verband der Privatunternehmer Venezuelas, um gegen das unverantwortliche Verhalten der privaten Eigentümer zu protestieren. Sie bescheinigten Präsident Chávez, er führe die einzige Regierung an, die den Arbeitern Tarifverträge, Arbeitsplatzsicherheit und Lohn garantiere.

Tatsächlich gilt Chávez selbst als Verbündeter der Bestrebungen nach Arbeiterkontrolle in den Unternehmen. Vergangenes Jahr intervenierte Chávez in eine Krise in der  Schwerindustrie in der Region Guayana und initiierte auf der Grundlage von Vorschlägen, die die Belegschaft ausgearbeitet hatte, den «Sozialistischen Plan Guayana». Dieser sieht vor, die größten Stahl-, Aluminium- und Kohleunternehmen des Landes bis 2019 in sozialistische, von den Belegschaften kontrollierte Unternehmen umwandeln.

Im Mai dieses Jahres vereidigte Chávez Arbeiter, die von den Belegschaften gewählt worden waren, als Vorsitzende von Unternehmen. In der Stahlfabrik Sidor, die 2008 verstaatlicht wurde, hat die von Arbeitern geführte Verwaltung Fortbildungsseminare eingerichtet, an denen bislang 6000 Arbeiter, etwas weniger als die Hälfte der gesamten Belegschaft, teilgenommen haben. Sidor-Arbeiter haben im letzten Jahr eine bolivarische Arbeiter-Universität gegründet. Für die wöchentlichen Unterrichtseinheiten in grundlegenden technischen Fertigkeiten sowie für die Fächer Politik und Theorie haben sich bisher annähernd 1300 Arbeiter eingeschrieben.

Quelle: http://amerika21.de/analyse/17869/arbeiterraete-den-betrieben

 

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