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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2014

SOS Gesundheit

von Paul B. Kleiser

Mitte Februar fuhren sieben Ärztinnen und Ärzte zusammen mit der Geschäftsführerin des Verbandes demokratischer Ärzte und Ärztinnen, Nadja Rakowitz, und dem Autor dieses Artikels nach Athen, um die Lage im Gesundheitswesen genauer kennenzulernen und Hilfsmaßnahmen zu besprechen. Wir besuchten u.a. die Solidarische Praxis in Piräus, die Soziale Klinik in Hellenikon (vgl. das Interview in SoZ 11/2012) und die Vertretung der Ärzte der Welt.

Im Gesundheitswesen ist die Lage besonders dramatisch, zumal es schon immer unter Unterversorgung und Korruption litt: Arbeitslose verlieren nach einem Jahr ihre Krankenversicherung, mindestens ein Drittel der Bevölkerung ist deswegen ohne diesen Schutz. Medikamente muss man selbst bezahlen und kann hoffen, irgendwann einmal max. 75% der Kosten zurückerstattet zu bekommen; doch dabei lässt sich der Staat sehr viel Zeit. Außerdem ist er sehr erfinderisch im Ausdenken weiterer Selbstbeteiligungen: Für einen Arztbesuch muss man 5 Euro hinlegen, für ein Rezept 1 Euro; die Zuzahlung für gewisse Medikamente ist um 10% gestiegen. Auch die Kosten für einen Telefonanruf beim Arzt oder einen Krankentransport sind gestiegen.

Manche Medikamente sind gar nicht mehr zu bekommen, weil die Krankenkassen mit der Erstattung der Kosten an die Apotheken im Rückstand sind und diese deshalb Schulden aufgehäuft haben, die sie nicht begleichen können. Die aus einem Zusammenschluss mehrerer Kassen neugeschaffene Krankenversicherung EOPYY soll bei den Versicherten mit fast 2 Milliarden Euro in der Kreide stehen.

Die Folge ist, dass im vergangenen Jahr gut zwei Drittel der Bevölkerung keinen Arzt gesehen hat, weil sie nicht über die nötigen Mittel dafür verfügt. Das führt zu unvorstellbaren Zuständen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser – diese sind jetzt für viele, die sich keinen Arztbesuch leisten können, die erste Anlaufstation. Das Klinikpersonal muss bis zur Erschöpfung arbeiten – und kann dabei oft genug auf die (gekürzten) Lohnzahlungen lange warten.

Die Troika ist verantwortlich

Die Regierung möchte um jeden Preis die Vorgaben der Troika erreichen und im Haushalt einen «Primärüberschuss» vorweisen können, damit sie nach Auslaufen der Memoranden Ende 2014 mit den internationalen Institutionen neue Kredite vereinbaren kann. Seit Beginn der Krise wurden 35000 Arbeitsplätze im Gesundheitssektor gestrichen (SZ, 3.Juli 2013). Laut Encyclopaedia Britannica gab es 2007 in Griechenland 47944 Ärzte, einen auf 229 Einwohner, was etwa der deutschen Ärztedichte entsprach; diese Zahl ist bis 2012 auf 22462 oder 1:502 Einwohner gesunken. Denn die Ausgaben für Gesundheit wurden auf 6% des (schrumpfenden) Bruttoinlandsprodukts gedeckelt (Deutschland 11%, USA 18%).

Allein die staatlichen Ausgaben für Medikamente wurden von 4,3 Mrd. Euro auf 2,8 Mrd. Euro zusammengestrichen und sollen noch weiter, bis auf 2 Milliarden sinken (The Lancet, 22.Februar 2014). Damit gäbe Griechenland weniger für Gesundheit aus als alle Länder, die vor 2004 der EU beigetreten sind. Der frühere Gesundheitsminister Andreas Loverdos meinte zynisch, man habe das «Metzgermesser» angesetzt. Der jetzige Gesundheitsminister, Antonis Georgiadis – er ist der vierte auf diesem Stuhl innerhalb von etwas mehr als einem Jahr –, kommt aus der rechtsextremen Partei LAOS und ist gerade dabei, die zur Krankenkassenvereinigung EOPYY gehörenden ambulanten Polikliniken zu schließen, um weitere 8500 Beschäftige loszuwerden. Die Troika hat zur Auflage gemacht, dass in diesem Jahr nochmals 10000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden.

Bei den Polikliniken waren die Ärzte angestellt, manche betrieben nebenher noch eine Privatpraxis. Durch die Schließung haben sich viele ganz auf ihr privates Geschäft verlegt, das für viele Menschen jedoch aus Kostengründen nicht zugänglich ist. Am 20.März sollte ein kleiner Teil der Polikliniken wieder eröffnet werden, doch werden es sehr viel weniger sein als vorher, nur 1700 Ärzte haben sich dafür gemeldet; sie arbeiten dort für 1000 Euro im Monat. Eine flächendeckende Versorgung gibt es nicht mehr.

Dass die Austeritätspolitik Menschen buchstäblich umbringt, lässt sich am griechischen Beispiel leicht belegen. Im Jahr 2009 verlangte die Troika unter Führung des IWF, dass der Gesundheitsetat von 24 auf 16 Mrd. Euro gekürzt werde. Die Folgen: Die Kindersterblichkeit ist um 40% gestiegen, Krebspatienten gehen solange nicht zum Arzt, bis ihnen der Tumor durch die Haut wuchert, die Zahl der neu HIV-Infizierten ist von 15 im Jahr 2009 auf 484 im Jahr 2012 gestiegen, einigenorts kehrt die Malaria zurück, weil die Gemeinden Sprühaktionen gegen Moskitos zurückgefahren haben. Es fehlt an allem, an sauberen Spritzen, Handschuhen, Desinfektionsmitteln. Vor allem Herz/ Kreislauferkrankungen und Diabetes, aber auch Krebserkrankungen treten vermehrt auf. Und auf dem Land ist die Lage noch schlimmer. Es ist eine humanitäre Katastrophe!

Im Abschiebegefängnis

Angesichts dieser Situation bilden sich überall in Griechenland Formen der Selbsthilfe und der Selbstorganisation. Bauern verkaufen ihre Produkte direkt an die Verbraucher, Menschen schließen sich zusammen, um Suppenküchen zu organisieren, es gibt Formen des geldlosen Austausches von Gütern und Dienstleistungen usw. Mit «Solidarity for all» ist auch eine Art Dachorganisation entstanden, die die verschiedenen Initiativen koordiniert und untereinander vernetzt. Die Abgeordneten von SYRIZA spenden 20% ihrer Diäten, um das Büro und die Aktivitäten von «S4A» zu finanzieren.

Ursprünglich waren «soziale» oder «solidarische» Gesundheitspraxen vor allem für Migranten gegründet worden, die per se ohne Krankenversicherung sind. Doch inzwischen bilden Griechen die überwiegende Mehrheit der Patienten. Fotis und Quin arbeiten in der Solidarischen Praxis in Piräus. Sie zeigen uns Räume, die eine Woche zuvor von Neonazis angegriffen wurden, aber auch eine Schule für Migranten, in der diese Griechisch und andere Sprachen lernen können. Als Entlohnung bringen die Schülern ein Stück Seife oder ein Shampoo mit, die dann zusammen mit gesammelten Kleidungsstücken in großen Kartons in ein Abschiebegefängnis gebracht werden.

Nach längeren Diskussionen mit dem diensthabenden Polizeioffizier dürfen wir alle (zusammen mit vier schwerbewaffneten Polizistinnen, denn man befürchtet eine Geiselnahme) einen etwa 60 Quadratmeter großen Raum des Knastes betreten, in dem etwa zwanzig Häftlinge aus verschiedenen Herkunftsländern zusammengepfercht sind. Ihr einziges «Verbrechen» besteht darin, sich illegal in Griechenland aufgehalten zu haben. Sie werden bis zu 18 Monate – ohne Hofgang, ohne sportliche Betätigung – in diesem Stall aus blankem Beton verwahrt. Matratzen gibt es nur wenige, weil die Krätze aufgetreten ist und die von Milben befallenen Matratzen verbrannt wurden, ohne neue zu besorgen. Tische und Stühle sind auch nicht vorhanden, man behilft sich mit Kartons. Ein Mann aus Rwanda hatte sich 14 Jahre lang in Griechenland aufgehalten und dort auch gearbeitet, bevor er geschnappt wurde: Die Krise machte ihn arbeitslos und dadurch verwirkte er auch seine Aufenthaltserlaubnis. Er sitzt nun, zusammen mit traumatisierten Männern aus Syrien und Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Irak, die Zeit ab und hofft, danach im Land bleiben zu dürfen.

Ein- bis zweimal im Jahr schaut ein Arzt im Gefängnis vorbei. Die Freunde der «solidarischen Praxis» versuchen, sich um die Flüchtlinge zu kümmern und ihnen nach Möglichkeit auch eine juristische Beratung zu vermitteln.

Auch im Haus der «Ärzte der Welt» sind zwei Stockwerke von Migranten belegt, die dort medizinisch und juristisch betreut werden. Die ÄdW versorgen arme Familien mit Lebensmittelpaketen, die eine Grundversorgung für zwei bis drei Wochen bieten. Das Wartezimmer für medizinische Behandlung quillt über. Die ÄdW haben mehrere Kleinbusse, mit denen sie in abgelegene Landesteile fahren, um dort einfache medizinische Behandlungen vorzunehmen. Es gibt zahlreiche kleine Dörfer, in die normalerweise kein Arzt kommt; Transporte in Krankenhäuser können Stunden dauern und unter Umständen unbezahlbar sein. Man kann sich leicht ausrechnen, welche Überlebenschance man im Falle eines Herzinfarkts hat.

 

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