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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2018

68 kann es heute wieder geben
von Tullio Giannotti

50 Jahre nach 68 spricht Alain Krivine, einer der Protagonisten von damals, mit einem Reporter der italienischen Nachrichtenagentur ANSA.

«Das war eine fantastische Explosion, die Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern angesprochen hat. Aber viele Dinge fehlten und auf politischer Ebene war es ein Fehlschlag.» Alain Krivine, die Seele der Bewegungsfraktion vom Mai 68, auch heute noch konträr zur «spontanen» Fraktion unter Daniel Cohn-Bendit,  versteckt sich nicht 50 Jahre danach. Aber Krivine, 75 Jahre alt, Trotzkist, später Leiter der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR), danach der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), ist nicht pessimistisch: «Ich hege Hoffnung für das neue Proletariat», sagt er zur ANSA, «aber nicht für die unmittelbaren Zukunft.»

«Wie damals braucht es auch heute eine langwierige pädagogische Arbeit seitens der Linken. Oder einen Auslöser.» «Die Umstände sind heute ganz anders», so Krivine, «damals gab es rund 500000–600000 Studierende, mehrheitlich aus der Mittelschicht, heute gibt es 2 Millionen, und oft müssen sie arbeiten, um zu studieren. Als wir damals den großen Generalstreik organisierten, gab es große Fabriken wie Renault in Billancourt, heute gibt es die nicht mehr. Das Proletariat von heute ist viel größer, aber auch viel fragmentierter, die Gewerkschaft, die linken und die rechten Parteien durchleben eine Krise, es gibt eine Phänomen der allgemeinen Distanz zur Politik. Wir sehen lokale, sehr radikale und harte Kämpfe, jedoch ohne nationale Koordination. Oder lange Generalstreiks, an denen die Leute kein Interesse haben.»

Wohin wollten solche wie er 1968? Wie weit wollten sie die Revolution treiben? «Ich war schon sehr stark politisiert, ich war Trotzkist, aber wir wussten nicht, wohin wir gingen, wir wussten, wohin wir nicht gehen wollen. Wir suchten keine Revolution wie die Maoisten, weil wir keine Organisation oder Partei suchten. Wir wollten diese fantastische Explosion, die es gab, wir wussten aber nicht, welchen Punkt wir erreichen würden. All das geschah dank einer sehr radikalen Arbeiterklasse, die nicht so sehr an der Gewerkschaft interessiert war, und einer Studentenbewegung, deren Parole ‹Arbeiter an die Macht› lautete. Der andere Slogan hieß: ‹Zehn Jahre Gaullismus reicht!› Zehn Jahre lang hatte die Linke de Gaulle gewählt, dann merkte sie, dass sie irregeführt worden war, wie heute mit Macron.»

Macron wie de Gaulle, 2018 wie 1968? «Viele wählten damals de Gaulle, weil sie dachten, dass er die Dinge verändern würde», so Krivine, «heute haben sie Macron gewählt gegen die extreme Rechte und die extreme Linke, jedoch ohne große Illusionen. Und die vorhandenen Illusionen gehen bereits verloren. Macron ist weder rechts noch links von de Gaulle.» Heute favorisiert die Krise laut Krivine vor allem «die extreme nationalistische Rechte, in einigen Fällen die Faschisten wie in Griechenland, in anderen die Nationalisten wie in England und Frankreich. Heute ist es einfacher, sich antikapitalistisch zu geben und gegen die Einwanderer vom Leder zu ziehen, als revolutionär gegenüber den Machthabern aufzutreten.»

Wenig Hoffnung also? «Ich bin nicht pessimistisch,» versichert Krivine, «es gibt viele Konflikte, ökologische, feministische, soziale. Mitunter sind die Schlachten radikal und sehr hart, aber sie sind nicht auf nationaler Ebene koordiniert. Ich hege Hoffnung für das neue Proletariat, aber nicht für die unmittelbare Zukunft. Es braucht eine langwierige Erklärungsarbeit, die extreme Linke wäre in der Hinsicht erneut von Nutzen. Damals taten wir genau das, einige Wochen lang gab es eine fantastische Mobilisierung, aber alles ging schief, als die, die protestierten, eine institutionelle Lösung akzeptierten und das Vertrauen in den kollektiven Kampf verloren.» Und dann, wiederholt er, gibt es stets den möglichen «Funken»: «Ich erinnere mich, dass lediglich einige Tage vor dieser wunderbaren Explosion ein Leitartikel in der Zeitung Le Monde erschien, verfasst von dessen Direktor Hubert Beuve-Mery, mit dem Titel ‹Frankreich leidet an Langeweile›. Er irrte sich. Und das kann wieder geschehen.»

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