Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2018

Kohei Saitos Natur gegen Kapital rekonstruiert Marx’ ökologische Kritik des Kapitalismus
von hgm

Kohei Saito: Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2016. 328 S., 39,95 Euro

 

Auf der Grundlage eines detaillierten Studiums von veröffentlichten und zu Karl Marx’ Lebzeiten unveröffentlichten Marx-Texten zeigt Kohei Saito* überzeugend die «systematische Darstellung der Marx’schen ökologischen Kritik als unentbehrliches Moment seines ökonomischen Systems», und «dass das wahre Ziel der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie nicht richtig begriffen werden kann, wenn man den Aspekt der Ökologie vernachlässigt». Seine Studie zeigt nicht nur Marx’ Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft, sondern auch, wie sich seine Auffassungen mit der Zeit infolge seiner Beschäftigung mit den Naturwissenschaften entwickelt und verändert haben.

Saitos Studie untersucht durch eine detaillierte Textanalyse die Verbindung zwischen der wertbasierten Analyse des Kapitalismus durch Marx und seinen Studien der Naturwissenschaften. Sie zeigt, dass Marx’ Interesse an den Naturwissenschaften bei der Abfassung seines letztlich unvollendet gebliebenen Hauptwerks Das Kapital für seine zunehmende Betonung der ökologischen Nichtnachhaltigkeit der kapitalistischen Gesellschaft entscheidend war.

Wie Saito darlegt, war Marx durch die Verbindung seiner politisch-ökonomischen Studien mit der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften in der Lage, über das relativ unhistorische Konzept der menschlichen Entfremdung (von Arbeit, Natur und Gesellschaft), das er 1844 unter dem Einfluss der Feuerbachschen Philosophie in den «Pariser Manuskripten» entwickelt hatte, hinauszugehen. In den Manuskripten hatte er die radikale Auflösung einer ursprünglichen Einheit zwischen Mensch und Natur für die Entstehung des modernen entfremdeten Lebens verantwortlich gemacht und dem die emanzipatorische Idee der Wiedervereinigung von Mensch und Natur als «Humanismus = Naturalismus» entgegengesetzt.

Doch bereits in der Deutschen Ideologie (1845/46) begann Marx, ein nichtphilosophisches Konzept der Einheit zwischen Mensch und Natur zu entwickeln – eine Entwicklung im Marxschen Denken, die Saito als «Abschied von der Philosophie» charakterisiert. Marx thematisierte die Mensch-Natur-Beziehung nun mit Hilfe des physiologischen Begriffs des «Stoffwechsels», dessen Störung er zunehmend als Widerspruch des Kapitalismus kritisierte. Dadurch bewegte sich Marx’ Denken zunehmend von seinem anfänglichen «prometheischen» Optimismus fort, laut dem die Menschheit über das Potenzial verfügt, alle natürlichen Grenzen der Produktion zu überschreiten.**

 

Die natürliche Grenze

Saito kann überzeugend aufzeigen, dass Marx spätestens ab Mitte der 1860er Jahre zu der Überzeugung kam, dass die Natur nicht beliebig technologisch unterworfen und manipuliert werden kann, dass es vielmehr eine unüberwindliche natürliche Grenze gibt. Somit unterscheidet sich seine Auffassung wesentlich von dem technologischen Fortschrittsoptimismus, mit dem Marx vielfach in Verbindung gebracht wird. Die Bedeutung der modernen Naturwissenschaften und Technologien für eine zukünftige sozialistische Gesellschaft assoziierter Produzenten bleibt jedoch bestehen. Ihre Anwendung zielt aber nicht auf die Überwindung der Grenzen der Natur, sondern stets darauf, «innerhalb der stofflichen Grenze den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur nachhaltig bestehen zu lassen». Im Kapitalismus ist dieser vernünftige Umgang mit der Natur nicht möglich, «weil die gesamte gesellschaftliche Produktion durch die Privatarbeiten organisiert und jener Stoffwechsel dementsprechend durch den Wert vermittelt ist».

Saito weist darauf hin, dass es auch im Verlauf der kapitalistischen Industrialisierung im 19.Jahrhundert schon Stimmen gab, die in bezug auf Umweltfragen nicht allzu optimistisch waren. Naturforscher wie u.a. die von Marx gründlich rezipierten Justus von Liebig und Carl Fraas warfen Fragen der landwirtschaftlichen und industriellen Nachhaltigkeit auf, und sogar vom Menschen verursachte Klimaveränderungen wurden kritisch thematisiert. Marx war sich dieser Kontroversen bewusst und baute sie kritisch in seine ökonomischen Arbeiten ein.

 

Rezeption naturwissenschaftlicher Debatten

Das machte es ihm natürlich schwerer, sein Hauptwerk Das Kapital zu vollenden, das schließlich unvollendet blieb, weshalb es umso wichtiger ist, seine nachgelassenen Schriften und Notizbücher zu studieren, um Marx’ ökologische Kritik des Kapitalismus umfassend darstellen zu können.

Genau dies tut Saito, wenn er sich in seiner Darstellung u.a. auf Marx’ Notizbücher stützt, die erst im Rahmen der seit 1975 publizierten, noch nicht abgeschlossenen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) nach und nach veröffentlicht werden. Im zweiten Teil seines Buches legt Saito daher detailliert dar, wie Marx sich mit den Arbeiten von Liebig, Fraas und anderen Autoren zur landwirtschaftlichen Nachhaltigkeit befasst, einschließlich der Kontroversen unter ihnen über die Behandlung der Bodenfruchtbarkeit und die Bedeutung klimatischer und topografischer Faktoren (Entwaldung und Wüstenbildung). In diesem Zusammenhang interessierte sich Marx zunehmend für die Frage des Klimawandels, der von menschlichen Aktivitäten wie der Entwaldung hervorgerufen wird – dies spiegelt sich in zahlreichen Bezügen auf die Entwaldung in den Manuskripten für die Bände II und III des Kapitals wider.

Saito zeigt, wie Marx’ Beschäftigung mit der Agrarwissenschaft seine Theorie der Grundrente, sein Konzept des kapitalistischen «ökologischen Bruchs», seine Skizzen einer nachhaltigen Produktion in einer nachkapitalistischen Gesellschaft und seine späteren Untersuchungen vorkapitalistischer ländlicher Gemeinden in seinen «Ethnologischen Exzerptheften» beeinflusst. In diesen Notizbüchern entwickelt Marx letztlich «eine wahrhaft kritische Theorie der menschlichen Entwicklung». Saito zieht den Schluss, «dass Marx mit größter Wahrscheinlichkeit viel stärker das Problem der ökologischen Krise als zentralen Widerspruch des Kapitalismus hervorgehoben hätte, wenn er das zweite und dritte Buch des Kapital vollendet hätte».

Natur gegen Kapital macht es heute schwerer, einen grundsätzlich antiökologischen Charakter der Marxschen Analyse des Kapitalismus und seiner Vorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft zu behaupten.

 

* Kohei Saito lehrt an der Universität Osaka (Japan). Er ist an der Herausgabe von Marx’ Notizbüchern im Rahmen der vierten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) beteiligt. Natur gegen Kapital beruht auf seiner Dissertation von 2016 und ist mittlerweile auch auf Englisch erschienen: Karl Marx’s Ecosocialism (Monthly Review Press).

 

** Zur Illustration dieses «Prometheismus» zitiert Saito stellvertretend den jungen Engels: «Die der Menschheit zu Gebote stehende Produktionskraft ist unermesslich. Die Ertragsfähigkeit des Bodens ist durch die Anwendung von Kapital, Arbeit und Wissenschaft ins Unendliche zu steigern.» (Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, MEW 1:517.) Im «Kommunistischen Manifest» loben Marx und Engels unkritisch die Beherrschung der Natur mit Hilfe der Steigerung der Produktivkraft: «Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau … Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen…» (MEW 4:467).

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.