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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2018

Mehr Freiheiten für das Kapital
von Jakob Schäfer

Das Tarifergebnis, das die IG Metall am 6.Februar in der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie erzielte, ist im Kern, nämlich bei der Arbeitszeitverkürzung, ein Kuhhandel.

 

Was wurde vereinbart?

Für die Monate Januar bis März dieses Jahres gibt es eine Einmalzahlung von 100 Euro, was weniger als 1 Prozent des Durchschnittsentgelts ausmacht. Am 1.April werden die Entgelte um 4,3 Prozent erhöht. Spätestens im Juli 2019 ist ein tarifliches «Zusatzgeld von 27,5 Prozent eines Monatsentgelts» fällig. Hinzu kommt ein Festbetrag von 400 Euro. Dieser wird 2020 «tabellenwirksam und fließt in das Volumen des tariflichen Zusatzgelds ein». Dies muss dann logischerweise ab 2020 zu einer Änderung der Entgeltschlüssel führen, was zu einer etwas stärkeren Anhebung der unteren Entgeltgruppen führt. Ein kleines Bonbon.

Aber beim Festbetrag von 400 Euro ist schon der erste Haken: Bei «schlechter Wirtschaftslage» des Unternehmens kann ? mit Zustimmung der IGM ? die Auszahlung verschoben, gekürzt oder gar ganz gestrichen werden. In der Vergangenheit haben wir bei Lohnerhöhungen wie auch bei der Arbeitszeit schon unzählige solcher Zugeständnisse seitens der IGM erlebt, größtenteils basierend auf dem «Pforzheimer Abkommen» von 2004.

Im positivsten Fall kommen wir damit (für das Durchschnittsentgelt in der Metall- und Elektroindustrie, das sind heute 3418 Euro) in diesem Jahr auf eine Entgelterhöhung von knapp 3,7 Prozent und 2019 auf etwas über 3 Prozent (etwa 3,6 Prozent, wenn die 400 Euro voll gezahlt werden). Auf die Gesamtdauer von 27 Monaten bezogen kommen wir beim Durchschnittsentgelt auf eine – aufs Jahr umgerechnete – Entgelterhöhung von etwa 3,5 Prozent, bei den unteren Entgeltgruppen etwas mehr (aber nur, wenn die 400 Euro gezahlt werden). Bei einer prognostizierten Preissteigerungsrate von 2 Prozent gleicht dies zwar die Teuerungsrate aus, nicht aber den Produktivitätsfortschritt.

 

Arbeitszeitverkürzung?

Im Mittelpunkt vieler Kommentare stand die vereinbarte angebliche Arbeitszeitverkürzung. Faktisch wurde ein abscheulicher Kuhhandel betrieben, der dem Kapital mehr nutzt als den abhängig Beschäftigten. Es wurde nämlich nur eine individuelle, zeitlich befristete reduzierte Vollzeit (auf bis zu 28 Stunden) mit Rückkehrrecht auf die 35 Stunden ausgehandelt. Erkauft wurde dies mit der Möglichkeit der Unternehmer, noch mehr als bisher Arbeitsverträge mit 40 Stunden abzuschließen. Nun können über die bisherigen 13 Prozent (in Baden-Württemberg 18 Prozent) hinaus Verträge mit 40 Stunden abgeschlossen werden, und zwar bis auf 30 Prozent per Betriebsvereinbarung, wenn ein Fachkräftemangel nachgewiesen werden kann, und auf 50 Prozent («Strukturquote») für Technologiebetriebe per Betriebsvereinbarung, wenn im Betrieb mindestens 50 Prozent der Beschäftigten in der (auf Baden-Württemberg bezogenen) Entgeltgruppe 12 oder höher eingestuft sind. Der Betriebsrat hat Widerspruchsrecht.

Darüber hinaus gibt es künftig die Möglichkeit für die Betriebe, statt einer Quotenregelung ein Modell eines «kollektiven betrieblichen Arbeitszeitvolumens» zu fahren; die Festlegung dieses kollektiven Volumens auf durchschnittlich 35,9 Stunden pro Woche ergibt sich aus 18 Prozent 40stünder und 82 Prozent 35stünder. Jeder Teilzeitbeschäftigte eröffnet mit diesem Modell die Möglichkeit für zusätzliche 40-Stunden-Verträge. So ermöglicht ein Teilzeiter mit 20 Stunden (15 Stunden weniger) drei zusätzliche 40stünder (3 x 5 Stunden mehr).

Um das Maß voll zu machen, gibt es künftig die Möglichkeit für die Betriebe, im Einvernehmen mit dem Betriebsrat aus Zeitkonten bis zu 50 Stunden pro Jahr per Auszahlung auszubuchen – das entspricht rechnerisch einer Arbeitszeitverlängerung von mehr als einer Stunde pro Woche. Auch dies ist ein Instrument, die Nichteinhaltung der 35-Stunden-Woche zu legalisieren.

 

Bewertung

Wie ist das Gesamtergebnis zu bewerten? Dazu drei Gesichtspunkte:

 

Verkomplizierung 

Diesmal wurde die seit Jahren praktizierte Verkomplizierung von Tarifverträgen extrem auf die Spitze getrieben. Auf diese Weise blicken die Kolleginnen und Kollegen gar nicht mehr durch, welche Bestimmungen für sie zutreffen oder auf welche Ansprüche aus dem Tarifvertrag sie sich stützen können. Auch viele Betriebsräte in Mittel- und Kleinbetrieben sind mit den Regelungsmöglichkeiten und Regelungsanforderungen des Tarifvertrags schnell überfordert. Noch schlimmer ist es in den vielen Betrieben, die keinen Betriebsrat haben. Dort hat der Chef, selbst wenn das Unternehmen tarifgebunden ist, mit dem komplizierten Vertragswerk quasi Narrenfreiheit.

 

Differenzierung

Mit den neuen Arbeitszeitregelungen, den unterschiedlichen Quoten, die genutzt oder auch überschritten werden dürfen, dem Volumenmodell, dem «Überlastungsschutz» für die Betriebe usw. haben die Unternehmer eine ideale Klaviatur, um die Differenzierung zwischen den Beschäftigtengruppen noch weiter voranzutreiben. Völlig unabhängig davon, dass die Betriebsräte jetzt einen noch größeren Aufwand haben, wenn sie die Einhaltung des Tarifvertrags überprüfen wollen: Wie soll zweifelsfrei geklärt werden, ob nach dem neuen Manteltarifvertrag ein «Fachkräftemangel» besteht, der die Überschreitung der Quote für 40stünder rechtfertigt, oder etwa: Was sind denn nun «Technologiebetriebe»? Wer grenzt das ab? Nach welchen objektiven Kriterien wird definiert, was eine «Schlüsselqualifikation» ist, bei der die Unternehmensleitung eine Reduzierung der Vollarbeitszeit ablehnen kann?

Mehr noch als bisher wird Regelungsbedarf in die Betriebe verlagert, was nicht nur den Flächentarifvertrag immer mehr durchlöchert, sondern auch die Betriebsräte zwangsläufig überfordert. Schließlich fehlt ihnen nicht nur in vielen Fällen die fachliche Kompetenz, sie sitzen vor allem aus strukturellen Gründen am kürzeren Hebel (können nicht zum Streik aufrufen usw.).

 

Durchlöcherung kollektiver Regelungen

Im Gegensatz zu den Verlautbarungen in der bürgerlichen Presse enthält dieser Tarifabschluss gerade keine Arbeitszeitverkürzung. Dort, wo einzelne Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeitszeit individuell verkürzen, kann der Unternehmer im selben Ausmaß andere Beschäftigte länger arbeiten lassen. Bisher schon wurde die 13-Prozent- bzw. 18-Prozent-Regelung exzessiv genutzt und nicht selten überschritten. Und Opfer, die den Wünschen des Chefs nicht zu widersprechen wagen, findet er immer. So wird die Tendenz zur Auffächerung der Arbeitszeiten fortgesetzt.

Den geforderten Lohnausgleich gibt es nur für eine kleine Personengruppe, nämlich nur für diejenigen, die für Kinderbetreuung oder häusliche Pflege (und unter engen Voraussetzungen Schichtarbeitende) ihr tarifliches Zusatzentgelt (die 27,5 Prozent, die ab Juli 2019 zu zahlen sind) in freie Tage umwandeln, und das nur in extrem bescheidenem Maße: Statt der rechnerisch sechs freien Tage im Jahr bekommen sie acht freie Tage. Damit hat die IGM per Tarifvertrag die Forderung nach vollem Lohnausgleich aufgegeben, was sich schon bei der Aufstellung der extrem bescheidenen Forderung abgezeichnet hatte.

Eine Arbeitszeitverkürzung der Belegschaften findet also unter dem Strich gerade nicht statt. Die Zeiten werden nur anders verteilt, die bisherigen illegalen Überschreitungen der Quoten werden legalisiert, und es wird ein Scheunentor zu weiteren Überschreitungen geöffnet. Nicht zu Unrecht sagt der Verhandlungsführer für Südwest-Metall, Stefan Wolf: «Wir haben sehr viel bekommen, nämlich sehr viel Öffnung bei den Arbeitszeiten nach oben.»

 

Was bleibt?

Der einzige kleine Lichtblick dieser Tarifrunde liegt darin, dass mit der Umsetzung der Tagesstreiks viele Kolleginnen und Kollegen (allein in Baden-Württemberg über 190000) zum ersten Mal so etwas wie eine kleine Tarifkampferfahrung machen konnten. Bei den niedrigen Streikzahlen in Deutschland ist diese bescheidene Positivmeldung schon erwähnenswert, auch wenn die Gewerkschaftsbasis wieder mal von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen wurde.

Insgesamt wiegen dagegen die Mängel schwer. Vor allem ist bei einer Laufzeit von 27 Monaten die Tür für einen Kampf um eine tatsächliche Arbeitszeitverkürzung geschlossen. Die Auffächerung der Belegschaften in verschiedenste Beschäftigtengruppen (mit vielen unterschiedlichen Arbeitszeiten) fördert nicht gerade das Zusammengehörigkeitsgefühl. Für eine Umkehr in der Tarifpolitik (nicht nur der IG Metall) haben wir noch dicke Bretter zu bohren.

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