Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2018

Die Regierungskrise: eine Farce mit Sprengstoff
von Angela Klein

Am Tag nach der „Einigung“ der Unionsparteien übten sich die Medien im Ratespiel „Wer hat gewonnen?“ Die Antwort fiel natürlich je nach Präferenz aus, doch es überwog der Tenor: Keiner von beiden. Eine Forsa-Umfrage wollte ermittelt haben: „29 Prozent der Befragten sind der Ansicht, Merkel habe sich stärker mit ihren Vorstellungen durchgesetzt. 25 Prozent glauben, dies sei Seehofer besser gelungen. 40 Prozent können nicht sagen, wer als Sieger hervorgeht.“

Das Recht auf Asyl

Schaut man sich den erzielten „Kompromiss“ genau an, so fällt es schwer, darin einen Sieg von Seehofer zu erkennen. Als Messlatte müssen die von der Kanzlerin ausgegebenen Kriterien dienen: „nicht unabgesprochen, nicht unilateral, nicht zu Lasten Dritter“.

Nun sind die mit Seehofer vereinbarten Transitzentren, die für ihn das Brückchen waren, doch noch Innenminister zu bleiben, nichts anderes als Hotspots oder ANKERzentren an der deutschen Grenze. Mit der Einschränkung, dass Flüchtlinge, die in anderen Staaten bereits registriert wurden, mit denen es aber kein Rückführungsabkommen gibt, nach Österreich verbracht werden sollen – das setzt jedoch voraus, dass es eine entsprechende Abmachung mit Österreich gibt. Die allerdings steht in den Sternen.

In den Transitzentren gelten die Dublin-Regeln, also all die Ausnahmen, die vorgesehen sind, wenn Fristen überschritten, Gerichtsverfahren anhängig sind, Verwandte im Land sind oder Sonderregelungen für Schwangere oder in anderen Fällen greifen. Das ist ein Mindestmaß an Rechten für die Flüchtlinge, die einer schnellen Abschiebung entgegenstehen. Seehofers Wunsch, mit den Flüchtlingen kurzen Prozess machen zu können, wurde also nicht entsprochen.

Auf der anderen Seite sollen jetzt nicht nur an Flughäfen, sondern auch an einer deutschen Grenze Flüchtlinge daran gehindert werden, auf deutschem Boden überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Die Transitzentren sollen als „Niemandsland“ ausgewiesen werden, wo der deutsche Staat zwar das alleinige Sagen hat, Flüchtlingen aber, denen in anderen EU-Staaten ein ordentliches Verfahren wie auch immer verweigert wurde (oder wo die Umstände zu unerträglich sind), ein solches auch in Deutschland vorenthalten wird.

Der Kompromiss mit Seehofer wurde (aus seiner Sicht) bei der Absprache mit dem dritten Koalitionspartner, der SPD, nochmals verwässert. Erstens dürfen die Transitzentren nicht so heißen, sondern irgendwie anders. Zweitens sollen es keine gesonderten Einrichtungen sein, sondern bei der Bundespolizei angesiedelt werden. Drittens sollen dort nur die Flüchtlinge "gesammelt" werden, die schon einen Asylantrag gestellt haben, nicht auch solche, die schon anderweitig registiert sind. Viertens sollen sie dort nur 48 Stunden festgehalten werden dürfen. Fakt ist aber auch, dass sie in diesen 48 Stunden die Zentren nicht verlassen dürfen – und das ist Freiheitsentzug. Zumal es bei den 48 Stunden nicht bleiben wird, weil die Flüchtlinge gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen können – und das dauert.

In den Zentren bei der Bundespolizei werden „Flughafenverfahren“ durchgeführt, das bedeutet laut Asylgesetz, „das Asylverfahren vor der Entscheidung über die Einreise durchzuführen“. Der Anspruch auf ein reguläres Asylverfahren entsteht erst mit dem Aufenthalt in einem Land. Auf diese Weise ermöglicht das Flughafenverfahren beschleunigte Entscheidungen und Rückweisungen. Deshalb die „Fiktion einer Nicht-Einreise“: Die Transitzentren werden einfach per bürokratischem Akt zu extraterritorialem Gebiet erklärt.

Durch diese zahlreichen Einschränkungen ist dem Anliegen Seehofers, Flüchtlinge zu entrechten, um sie kurzerhand abschieben zu können, akut die Spitze genommen worden. Wir werden keine Hotspots an der deutschen Grenze bekommen. Dennoch wurde mit dem "Sommertheater" eine rote Linie überschritten: Erstmals hat ein deutscher Bundesminister offen den Bruch europäischen Rechts fordert und sich damit in die Fußstapfen der Länder begeben, wo die extreme Rechte an der Regierung ist. Und das ist nicht seine persönliche Marotte. Auch der bayrische Ministerpräsident, Markus Söder, hat im bayrischen Fernsehen (am 14.Juni) offen mit dem Gedanken gespielt, den „geordneten Multilateralismus“ in der EU aufzukündigen zugunsten von nationalen Alleingängen. Das ist eine politische Zäsur, ebenso wie die AfD-Töne, die Alexander Dobrindt von sich gegeben hat. Dieser Graben ist nun aufgerissen und wird auch durch die erzielte pragmatische Einigung nicht wieder zugeschüttet. Ein Teil der CSU hat begonnen, sich auf einen Anti-EU-Kurs zu begeben, und zwar nicht, um mehr soziale Rechte und Gleichheit zu erstreiten, sondern um bestehende Rechte abzubauen und die EU zu einer "Sicherheitsgemeinschaft" umzufunktionieren.

Auch die Regierungskrise ist nicht beigelegt. Seehofer hat bereits erklärt, dass er doch zu einseitigen Abschiebungen greifen will, wenn die anderen Maßnahmen nicht greifen – Recht hin oder her. Wie wenig sein Kreuzzug gegen Flüchtlinge mit realen "Belastungen" durch deren Sturm auf die bayrisch-österreichische Grenze zu tun hat (die einzige, um die es hier geht), zeigt die Tatsache, dass die meisten Asylsuchenden, die 2017 von der Bundespolizei aufgegriffen wurden, gar nicht über diese Grenze kamen, sondern über die Flughäfen und über die Schweiz (also Baden-Württemberg). Während aber bei "Kontrollen des grenzüberschreitenden Verkehrs" insgesamt 15.414 Menschen aufgegriffen wurden, die um Asyl baten, wurden beim BAMF 198.317 Asylanträge gestellt. Im Klartext: Die allermeisten Flüchtlinge wurden nicht an der Grenze abgepasst – trotz Schleierfahndung, die natürlich auch intensiviert werden soll.

Zur Verbesserung der Kontrolle der Flüchtlingsströme trägt Seehofers Kreuzzug rein gar nichts bei, was noch einmal unterstreicht, dass er in Wirklichkeit ganz andere Motive hatte. Selbst wenn sein Vorschlag sich voll durchgesetzt hätte, hätten die Maßnahmen nur symbolische Wirkung gehabt, die aber wäre verheerend gewesen. Dafür hat er das Land an den Rand einer Regierungskrise gebracht. Dass so etwas in Deutschland, das bislang auf seine politische Stabilität so bedacht war, möglich geworden ist, ist ein Grund zu großer Besorgnis. Denn Linke können sich über diese Art, wie sich eine rechte Regierung zerlegt, nicht freuen. Es war immer schon Teil rechter Strategien, Chaos zu stiften und die Verhältnisse zu destabilisieren, um umso härter durchgreifen zu können. Dazu gehört auch, die eigene Verwaltung zu chaotisieren und außerstande zu setzen, für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Das Chaos, das sie angeblich beenden wollen, stellen sie selber her.

Die Orbanisierung Europas

Dass Transitzentren den Vereinbarungen widersprechen würden, die die EU-Regierungen Ende Juni getroffen haben, kann man nicht sagen. Die sehen explizit die Einrichtung von Hotspots in verschiedenen EU-Ländern vor, um die bisherigen Hauptankunftsländer zu „entlasten“. Dass sich eine solche Linie als „europäische“ Linie durchsetzen konnte, zeigt nur, wie weit die extreme Rechte in der Besetzung von Regierungen der Mitgliedstaaten oder auch in der Einflussnahme auf sie schon gediehen ist. Dabei mag kein Staat solche Zentren wirklich haben, denn solange die Rückführungsregeln nicht greifen, also auf purer Freiwilligkeit beruhen, besteht immer die Gefahr, dass sie zu Massengefangenenlager werden, wie es in Griechenland der Fall ist. Je näher diese aber in die Mitte Europas rücken, umso unerträglicher werden sie, umso unhaltbarer auch gegenüber der öffentlichen Meinung

Der Erfolg der Rückführungen hängt davon ab, dass die in Frage kommenden Staaten zustimmen. Ist das nicht der Fall, fällt das Konstrukt der „europäischen Lösung“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen und wird der Druck nochmals steigen, doch einseitige Maßnahmen durchzusetzen – das heißt, die Mauern zwischen den EU-Staaten wieder hochzuziehen. Die Ergebnisse des EU-Gipfels bannen diese Gefahr nicht, im Gegenteil. Die Logik des "Wir zuerst!" hat auf dem Gipfel überwogen, nur notdürftig zugedeckt durch Absichtserklärungen über bilaterale Abkommen. Am Ende dieser Logik steht nicht nur die mögliche Aufhebung des Schengener Abkommens, das die visafreie Einreise innerhalb der EU regelt – mit unabsehbaren Konsequenzen für die Freizügigkeit überhaupt in Europa. Am Ende steht die Frage, ob Kooperation überhaupt noch ein anstrebenswertes Ziel in der EU ist, oder ob auf breiter Front die Rückkehr zur Kleinstaaterei ansteht. Es wäre ein gigantischer Rückschritt mit ebenso unabsehbaren Folgen für die demokratischen (und sozialen) Rechte.

Einer Desintegration der EU stehen zwar andere Entwicklungen entgegen – etwa der Druck, eine wirkliche Militärunion auf die Beine zu stellen oder im internationalen Handel und Finanzwesen noch eine Rolle zu spielen. Das sind jedoch keine Baustellen, die mit einer Wahrung demokratischer und sozialer Rechte einhergingen. So oder so ist der Bestand dieser Rechte akut gefährdet.

So holprig und unsicher der Weg ist, die in den EU-Verträgen garantierten "4 Freiheiten", insbesondere die Personenfreizügigkeit noch weiter aufrecht zu erhalten, so einig sind sich die Regierungen darin, die Festung Europa mit allen, auch militärischen Mitteln auszubauen. Während kriminelle Regime, wie sie in Libyen herrschen, oder Halbdiktaturen wie die Türkei mit Milliarden gepampert werden, damit sie für die EU die Drecksarbeit erledigen, werden Nichtregierungsorganisationen, die Seenotrettung organisieren und inzwischen den größten Anteil daran haben, kriminalisiert und mit Geld- und Gefängnisstrafen bedroht. Die Werteunion, für die die Kanzlerin angeblich kämpft, ist nichts als eine Chimäre.

Die Krise des Nationalstaats…

Wir erleben nicht nur eine Krise der EU, wir erleben auch eine Krise des Nationalstaats. Die Notwendigkeit, dessen Beschränkungen zu überwinden, hatte die EU überhaupt erst hervorgebracht, aber auf eine Weise, die den Nationalstaat nicht abgelöst hat. Vom ganzen konservativen Staatsverständnis her steht der Nationalstaat weiter im Mittelpunkt und bleibt, trotz aller Integrationsleistungen in Teilbereichen – und im Gegensatz zu dem, was viele Linke behaupten –, das Grundprinzip der Konstruktion der EU. Diesem Konstruktionsprinzip verdanken wir, dass europäische Integration dort forciert wird, wo die Interessen des Großkapitals bedient werden (die Handelspolitik oder die Vereinheitlichung von Industriestandards, oder die Finanzpolitik), bzw. dort wo die repressiven Funktionen des Staates nach innen und außen berührt sind. Aber alles, was mit sozialen Regelungen zu tun hat, bleibt ausgeklammert, weil es der ungehinderten Konkurrenz preisgegeben sein soll.

Es ist klar, dass auf diese Weise die Ungleichheit innerhalb der EU – und damit ihr Krisenpotential – nur zunehmen kann. Der Nationalstaat kann aber auch viele andere Probleme, die heute anstehen, aus eigener Kraft nicht mehr lösen. Jeder der vielen kleinen europäischen Staaten würde für sich genommen in die ökonomische Bedeutungslosigkeit abrutschen, von den ökologischen und humanitären Herausforderungen ganz zu schweigen.

Im Lager der Rechten und der Konservativen wird die Verantwortung der Einzelstaaten für die EU-Misere überspielt, indem die Parole ausgegeben wird: Wir teilen nicht. Wir behalten unseren Reichtum für uns. Deswegen gibt es keine gemeinsame Schuldenhaftung, keine gemeinsame Flüchtlingspolitik, aber auch keine gemeinsamen Sozialstandards. Ein solcher Ansatz ist selbstmörderisch, er gefährdet nicht nur Errungenschaften der Arbeiterbewegung, sondern auch Kapitalinteressen. Deshalb zerlegen sich an dieser Frage nicht nur Linke, sondern auch Konservative und Rechte (selbst eine Front National!). Andererseits gibt es zwischen Merkel und Seehofer in dieser Frage nicht nur einen Bruch, sondern auch viele Gemeinsamkeiten.

…und die Ohnmacht der Linken

Menschen rebellieren zurecht dagegen, dass sie dem Walten des Kapitals immer schutzloser ausgeliefert sind und die politischen Entscheidungszentren immer weiter weg verlagert werden. Aber es ist falsch, wenn diese Rebellion sich gegen die Notwendigkeit einer europäischen Einigung (und einer internationalen Verständigung darüber hinaus) richtet und nicht dagegen, dass die Diktatur des Kapitals gebrochen werden muss, damit diese Einigung auf solidarische Grundlagen gestellt werden kann. Viele Linke treffen diese Unterscheidung nicht, weil sie nicht von einem internationalen Klassenstandpunkt ausgehen, sondern von einem nationalen, und deshalb die EU behandeln, als wäre sie eine Kolonialmacht, während sie doch nur der Wurmfortsatz der bestehenden Nationalstaaten ist.

Wir verteidigen nicht die Institutionen der EU, wir verteidigen aber auch nicht die Nationalstaaten, beide sind Teile des bürgerlichen Staatsapparats. Wir verteidigen demokratische und soziale Rechte – das ist etwas anderes. Es bleibt eine Riesenaufgabe, ein anderes, Drittes zu finden. Das Modell, das wir dafür haben, ist die Kommune. Es ist heute aktueller denn je, und es wäre verdienstvoll, wenn mehr Gehirnschmalz darauf verwendet würde, wie dieser Gedanke sich auf europäischer Ebene und darüber hinaus verwirklichen lässt.

Union – oder getrennte Wege?

Unmittelbar nach der Bundestagswahl gabe es in unseren Reihen eine Debatte, in der der Standpunkt vertreten wurde, dass Deutschland in eine Phase der politischen Instabilität eingetreten sei – nach dem Vorbild anderer EU-Länder. Und dass diese Instabilität vor allen Dingen auf eine Destabilisierung der Unionsparteien zurückzuführen sei. Die Regierungskrise ist dann schneller gekommen, als sich alle haben träumen lassen.

Kommentator*innen haben darauf hingewiesen, dass Seehofers Mätzchen nicht allein einem Konflikt mit Merkel in der Sache (europäische vs. nationale Lösung) geschuldet sind, sondern auch seiner Profilierungssucht auf Kosten der Kanzlerin im Vorfeld der bayrischen Landtagswahlen, die ihre Wurzel im Machtkampf innerhalb der CSU hat. Und auch Seehofers Einlenken in letzter Minute soll nicht einem Sinn für Regierungsverantwortung in Berlin, sondern der Angst in München geschuldet gewesen sein, dass, sollte die CSU es bis zum äußersten, d. h. bis zum Koalitionsbruch treiben, die Schwesterpartei CDU dann in Bayern einmarschieren würde – und zwar noch vor der bayrischen Landtagswahl. „Das geht sehr schnell“, verkündete NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, „8274 Unterschriften reichen.“ Nun kann es Seehofer passieren, dass er für die Wahlniederlage der CSU im Oktober verantwortlich gemacht wird. Es steht zu erwarten, dass er danach als Parteivorsitzender weggebissen wird.

Das „RTL/n-tv-Trendbarometer“ ermittelte am Dienstag nach der Einigung, 54 Prozent der Befragten hätten es lieber gesehen, wenn die Schwesterparteien CDU und CSU künftig bei Wahlen getrennt antreten würden. An einem Bruch der Union hätte die CSU allerdings immer noch mehr zu verlieren als die CDU, weil sie zu sehr eine bayrische Partei ist. Was sich in den Augen der Öffentlichkeit und der Unionsanhänger jedoch als Konflikt zwischen CDU und CSU darstellt, geht in Wahrheit als Riss durch beide Parteien. Schließlich ist Frau Merkel mit ihrer Linie auch in der CDU auf erheblichen Widerstand gestoßen, bevor es in Brüssel den Anschein einer europäischen Lösung gab. Und dem genannten RTL/n-tv-Trendbarometer zufolge unterstützten kurz vor dem Gipfel 48 Prozent der CSU-Anhänger*innen den Kurs von Seehofer, 49 Prozent hingegen die Position von Angela Merkel. In der allgemeinen Öffentlichkeit tendiert die Meinung deutlicher zu Merkel: Forsa zufolge wollen mehr als zwei Drittel der Bundesbürger*innen (69 Prozent) wie Merkel eine europäische Lösung. Nur unter den AfD-Anhänger*innen findet sich eine große Mehrheit von 88 Prozent für Seehofers Position.

Allerdings sind die Unionsparteien unterschiedlich aufgestellt. Während der Durchbruch der Reaktionäre in der CDU derzeit von der Kanzlerin noch blockiert werden kann (und die Partei die Kanzlerschaft nicht gefährden will), wird die Parteispitze in Bayern von einer Clique von Halbstarken angeführt, die sich nicht scheut, Rechtsaußenparolen zu schwingen, wenn das mehr Macht verspricht. Sie stellt einen anderen Politikertypus dar, als man es in Deutschland bislang gewohnt war, einen, der eher bei der FDP zu Hause war, bevor ihr die AfD den Rang ablief.

Für die Kanzlerin ist der Streit nicht erledigt. Dass weder die Einigung in Brüssel noch die in Berlin etwas taugen, wird jeden Tag deutlicher. Sie hat bis zur Selbstverleugnung die Einheit der Union (und den vorläufigen Bestand der Regierung) einer politischen Klärung in ihrer Partei vorgezogen – möglicherweise hätte sie bei letzterem auch den Kürzeren gezogen. Damit mündet ihre Kanzlerschaft – unter Umständen vorzeitig – in einen offenen Schlagabtausch innerhalb der CDU. Spätestens mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen werden hier die Karten neu gemischt und es sieht im Moment danach aus, als würde sich der rechtskonservative Flügel nach vorn arbeiten.

In beiden Unionsparteien stehen also Richtungsentscheidungen an. Dass sie unmittelbar zu einem Bruch einer dieser Parteien führen, ist derzeit schwer vorstellbar, doch ist damit zu rechnen, dass sie weiter an Zustimmung verlieren. An den Rändern könnten neue Formationen erwachsen, die nicht mehr in der Lage sein werden, das bisherige Spektrum der konservativen Volkspartei abzubilden.

Was sollten Linke tun?

Die SPD, aber auch die Fraktionsspitze der LINKEN, haben ein jämmerliches Bild abgegeben, indem sie sich darauf beschränkten, der Regierung ihre Unfähigkeit zu regieren vorzuwerfen – als hätten wir etwas davon, dass sie regieren. Dass Linke sich mit Macht gegen die dramatische Rechtsverschiebung stemmen, kam nur in dem Aufruf mit dem abseitigen Titel „Solidarität statt Heimat“ (https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org) zum Ausdruck, weshalb ihm breite Unterstützung gebührt. Allerdings müssen Taten folgen. Was könnte das sein?

– Wir müssen die Willkommenskultur stärken. Jeder Akt der Solidarität mit Flüchtlingen ist eine wirksame Tat gegen den Rechtsruck. Wo es möglich ist, sollten auch hier Formen des zivilen Ungehorsams geübt werden, etwa nach dem Vorbild der Rebel Cities, und es wäre schön, wenn sich diesem Netzwerk auch hierzulande Städte und Gemeinden anschließen könnten – etwa nach dem Vorbild der „atomwaffenfreien Zone“.

– Wir brauchen wieder Fluchthelfer*innen. Die Nichtregierungsorganisationen, die Seenotrettung betreiben, stehen unter Beschuss und brauchen politische und materielle Solidarität. Eine Kampagne dafür wäre prima. Gut wäre eine gemeinsame programmatische Grundlage in ein paar Punkten, etwa: Legalisierung der Fluchtrouten, Abschaffung aller Zentren zur Aufbewahrung von Flüchtlingen und dezentrale Unterkünfte, tatsächliche Integrationsmaßnahmen (Wohnung, Arbeit, Ausbildung). Die Notwendigkeit einer Registrierung kann an diese Integrationsangebote gekoppelt werden.

– Vielleicht eine Demonstration in München vor der bayrischen Landtagswahl? Spaziergänge zu Transit- und den ANKERzentren?

– Schaffung bzw. Ausweitung der europäischen Vernetzung von Fluchthilfeinitiativen.

– Kampagnen, die in die Betriebe hineinreichen: etwa in der Chemieindustrie gegen den Landraub, den die großen Konzerne etwa in Afrika organisieren und damit Kleinbauern und Kleinbäuerinnen die Lebensgrundlagen stehlen; oder in der Waffenindustrie für die Einstellung der Rüstungsexporte und die Konversion…

Das sind Vorschläge, weitere sind willkommen.

Vielleicht steuert der Aufruf „Solidarität statt Heimat“ ja auf eine Aktionskonferenz im Herbst zu, der Kreis der Unterzeichneten war ja erfreulich breit.

Heinsberg, 7. Juli 2018

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1 Kommentar
  • 22.07.2018 um 21:59 Uhr, Frank Slegers sagt:

    Warum behandelt dieser Artikel nicht die Ergebnisse des jüngsten Parteitags von Die Linke, wo dieses Thema im Mittelpunkt stand? Das war doch wichtig?


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