Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018

Eindrücke vom Wahlkampf der LINKEN in Hessen
Interview mit Direktkandidatin Violetta Bock

Am 28. Oktober 2018 wurde in Hessen der Landtag gewählt. SPD und CDU fuhren eine krachende Niederlage ein, die Grünen setzten den Höhenflug von Bayern fort, DIE LINKE konnte gestärkt wieder in den Landtag einziehen und die AfD ist nun in allen Landesparlamenten vertreten. Eine Besonderheit gab es jedoch: In Kassel holte DIE LINKE mehr Stimmen als die AfD. Es geht also. Darüber sprachen wir mit Violetta Bock, sie war Direktkandidatin für die LINKE im Wahlkreis Kassel-Ost, hier holte die LINKE ebensoviel Erststimmen wie Zweitstimmen. Zweifellos auch ein persönlicher Erfolg. Das Gespräch führte Manuel Kellner.

Du warst Direktkandidatin der LINKEN in Kassel. Ihr habt 11,7 Prozent der Stimmen geholt, im Landesdurchschnitt waren es 6,3 Prozent. Im Wahlkreis Kassel-Ost hast du 11,9 Prozent bekommen. Wie schätzt du diese Ergebnisse ein?
Insgesamt können wir mit dem Ergebnis der LINKEN in Hessen zufrieden sein. Wir ziehen mit drei weiteren Abgeordneten ein, haben im Wahlkampf neue Mitglieder gewonnen und konnten dabei noch wehrhafte Strukturen aufbauen. Kassel ist schon immer eine Hochburg der LINKEN, das war jetzt also keine Überraschung, sondern Ergebnis der Arbeit von Jahren. Dadurch konnte Die LINKE in Kassel mehr Stimmen als die AfD erhalten, die hier bei 10,7 Prozent gelandet ist.

Natürlich ist es angenehm, gegenüber der Wahl vor fünf Jahren um über einen Prozentpunkt zuzulegen und nicht knapp an den 5 Prozent um den Einzug in den Landtag bangen zu müssen. Sind die 6,3 Prozent nicht dennoch ein eher bescheidenes Ergebnis, auch angesichts der Wahlergebnisse von AfD und Grünen?
In Umfragen lag die LINKE bei 8 Prozent, trotzdem bleibt der Hinzugewinn ein Erfolg. Die LINKE legte da zu, wo sie im Alltag verankert ist, Arbeit an der Basis macht, Gesichter hat. Das ist bisher eher in Städten der Fall als auf dem flachen Land. Die AfD hingegen hat auch Wahlerfolge, wenn sie noch nicht einmal plakatiert, die Grünen übrigens auch. Deren Wähler entscheiden sich eher anhand der allgemeinen Debatten, nicht ihrer realen Erfahrungen mit den ParteienvertreterInnen vor Ort.
Bei der LINKEN funktioniert das bei Landtagswahlen kaum. Übel ist, dass DIE LINKE wegen des allgemeinen Profils und der Politik eines Teils dieser Partei nicht als Teil der Rebellion gegen die bestehenden Verhältnisse wahrgenommen wird. Der Zwist wegen «Aufstehen» hat nicht dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit der LINKEN zu verbessern, bei der Hessenwahl aber auch nicht groß geschadet.

Was waren eure und deine persönlichen Schwerpunkte im Wahlkampf? Mit welchen Inhalten habt ihr besonders viel Zustimmung gefunden und mit welchen seid ihr am meisten auf Widerspruch gestoßen?
In Hessen lautete der Slogan «Mehr für die Mehrheit» – in Anlehnung an Corbyn in Großbritannien, der allerdings den Gegnerbezug «nicht für die Wenigen» betont. Die gesetzten Themen waren Mobilität (Nulltarif im ÖPNV), Wohnen (Mieten runter, Sozialwohnungen bauen), Bildung (gegen Sanierungsstau und für mehr Lehrpersonal), gegen rechts und gegen Rüstungsexporte.
Besonders viel Zustimmung kam beim Thema Wohnen. Bei der Wahlentscheidung ging es meiner Meinung nach nicht so sehr um Einzelthemen. Bis zum Wahltag waren laut Umfragen viele unentschlossen, wen sie wählen und ob sie wählen. Viele haben die Sehnsucht, dass Politik endlich im Interesse der Vielen gemacht wird und nicht mehr für die Interessen des Kapitals. Täglich führte ich solche Diskussionen, die damit endeten: «Aber an die kommen wir nicht ran.» Keiner Partei wird zugetraut, eine solche politische Wende wirklich durchzusetzen.
Das wird entscheidend sein in Zukunft: Hoffnung vermitteln und von unseren kleinen und großen Erfolgen erzählen und darauf aufbauen. Das heißt in meinen Augen auch die Systemfrage offen stellen. Uns fehlt eine Machtoption, die gleichzeitig radikal und vermittelbar ist. Das ist anders als in England, wo ein Corbyn sagen kann, er könnte der nächste Premier werden. Sicher, damit wäre er in der Regierung und nicht an der Macht. Trotzdem brauchen wir eine Vision, die nicht auf ein handzahmes Rot-Rot-Grün hinausläuft, eine, für die Menschen bereit wären zu kämpfen.

Warum hast du kandidiert und was waren eure wichtigsten Erfahrungen im Wahlkampf?
Wir wollten ausprobieren, ob es gelingt, Akzente durch einen Wahlkampf zu setzen, Wahlkampf zu verbinden mit der Mobilisierung gegen Vonovia, gegen den Abbau des Nahverkehrs usw. Meine Kandidatur sollte die Beziehung zwischen der LINKEN und den sozialen Bewegungen stärken. Da haben wir auch einige neue Bande knüpfen können, aber da steht von allen Seiten noch ein größerer Selbstveränderungsprozess an.
Viele aus den sozialen Bewegungen in Kassel haben den Wahlkampf aktiv mitgetragen, obwohl sie nicht Mitglied sind. Die Zeit intensiver Aktivität im Wahlkampf ist gut genutzt worden, neue Strukturen aufzubauen. Das sind für mich Maßstäbe eines lohnenden Wahlkampfs: die Zeit zu nutzen um zu lernen, enger zusammenzuarbeiten, neue Bündnisse zu schmieden und mehr Menschen zu erreichen. Mein Motto für den Wahlkampf war «Mut zum Widerstand», um klare Kante zu zeigen und Menschen zu ermutigen, selbst aktiv zu werden. Das ist bei einigen durchaus angekommen.

Vielerorts verselbständigen sich die Ratsfraktionen und tragen zur Verparlamentarisierung der Partei Die LINKE bei. Wie sieht das bei euch in Kassel aus?
Ich finde, dass unsere Ratsfraktion das ganz gut hinbekommt. Ich bin z.B. wohnungspolitische Sprecherin und sehe meine Aufgabe darin, Unterstützung für den Aufbau von Mieterbündnissen zu leisten, sie zu stärken und zu stabilisieren. Ich habe nicht den Eindruck, dass unsere Ratsfraktion von der Partei abhebt, obwohl das natürlich jeden Tag neu entschieden wird und auch in dem Maße weniger wahrscheinlich wird, wie wir uns alle, ob Fraktion, Kreisverband oder Ortsgruppe, in den realen Kämpfen vor Ort wiederfinden und unsere Arbeit darauf konzentrieren.

Bundesweit scheint DIE LINKE kaum vom spektakulären wahlpolitischen Abschwung der SPD zu profitieren, sondern stagniert in den Umfragen bei rund 10 Prozent. Was sind aus deiner Sicht die Gründe dafür?
Du legst mit deiner Frage etwas nahe, was in jüngster Zeit immer wieder gesagt wird: Angesichts des Niedergangs der SPD müssten wir es doch sein, die davon mehr profitieren. Aber das ist zu mechanisch. Warum sollten Menschen, die von der Sozialdemokratie immer noch gebunden werden konnten, trotz aller Schweinereien, nun LINKE wählen?
DIE LINKE hat «nur» ein linkssozialdemokratisches Profil, aber man sollte doch nicht vergessen, dass sie damit immer noch hart gegen die neoliberale Hegemonie anrennt. Richtig, wir wollen mehr. Aber dafür brauchen wir geduldige Aufbauarbeit und Verankerung. DIE LINKE muss einen sichtbaren Trennungsstrich zu den etablierten prokapitalistischen Kräften ziehen. Die berechtigte Wut der Ausgebeuteten, Benachteiligten und von Armut Bedrohten in linke, rebellische Bahnen zu leiten gelingt dann, wenn wir den bestehenden Interessengegensatz offenlegen. Das ist nicht ohne, denn dann müssen wir auch vielen Menschen ihre Hoffnung in einen «besseren Kapitalismus» nehmen, aber alles andere wäre gelogen.
Es ist an der Zeit, die Frage der gesellschaftspolitischen Alternative wieder zur Debatte zu stellen: Ohne die Macht des Kapitals brechen zu wollen, gewinnen wir nichts, sondern können das Elend nur mitgestalten.
Die Wahlergebnisse sind aber nicht allein Maßstab. Die außerparlamentarisch Aktiven müssen in der Praxis erleben, dass die Partei DIE LINKE für ihre Kämpfe nützlich ist, sie verstärkt, Türen öffnet usw. Hoffnung werden wir nicht stärken, indem wir sozialdemokratische Fehler versuchen besser umzusetzen, sondern wenn wir durch organisierende Arbeit Menschen zusammenbringen, Dinge durchsetzen, Gegenmacht aufbauen.
Ob wir dadurch Wahlen gewinnen? Keine Ahnung, aber wir werden mehr bewegen.

Wie erklärst du dir den wahlpolitischen Erfolg der Grünen, obwohl die doch bei keinem der großen umweltpolitischen Themen für eine konsequent ökologische Politik stehen und ganz offensichtlich seit vielen Jahren zur etablierten Politik gehören?
Hessen ist in Sachen Klimaschutz trotz oder wegen grüner Regierungsbeteiligung bundesweit Schlusslicht. Ihr Erfolgsrezept ist, dass sie Veränderungen in Aussicht stellen und zugleich garantieren, dass alles bleibt wie es ist.
Die Grünen bedienen ein Harmoniebedürfnis, eine Sehnsucht nach schmerzlosen Alternativen, scheinbarer Vernunft und der absurden Vorstellung eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Sie können glaubhaft vermitteln, wenn sie Frontex mitgestalten, wird alles weniger schlimm – passiert aber natürlich trotzdem. Und sie stehen dafür, sich nicht mit den Mächtigen anzulegen.
Ich kann sogar verstehen, dass man sowas erträumt, wer hat schon immer Bock auf all die Konflikte? Aber das ist, glaube ich, ein Schritt, den das Alltagsbewusstsein durchmachen muss. Hinzu kommt das Motiv der «nützlichen Wahl», man gibt seine Stimme gegen die Berliner Große Koalition lieber einer größeren, auf Bundesebene oppositionellen Partei als einer, die weniger Wählerstimmen hat und damit vermeintlich weniger Einfluss.
Meine Erfahrung aus Gesprächen mit Neumitgliedern ist übrigens: Die meisten haben sich vorher die Grünen als alternative linke Partei angeguckt. Die Grünen bieten eine Plattform, die in vielen Feldern fortschrittlich wirkt: Multikulti, Umwelt, Frauenrechte. Das sind drei Felder, die für uns auch wichtig sind, aber anders als Diether Dehm erzählt: DIE LINKE wird eben nicht als Kraft der Ökologie, des Antirassismus und des Feminismus wahrgenommen. Und das ist ein Problem, weil sich Leute entlang dieser Linien «nach links politisieren».
In einer politischen Konjunktur, die stark durch Chemnitz und die AfD geprägt wird, ist das sehr wirksam. Die Grünen machen sicherlich keine antirassistischere und internationalistischere Realpolitik als wir. Aber sie haben sich in der Öffentlichkeit als einzige Partei nicht von der AfD migrationspolitisch nach rechts treiben lassen. Die Mehrheit unserer Partei auch nicht. Aber das nimmt die breite Öffentlichkeit anders wahr. Dass sie eine systemkonforme Wohlfühlalternative darstellen, kommt dann noch dazu. Sozusagen: Neoliberalismus und Kapitalismus nicht offen angreifen, damit auch nicht mit neoliberaler Hegemonie im Massenbewusstsein kollidieren, aber dennoch soziale Gerechtigkeit verkaufen.

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