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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2010
Öffentliche und private Dienste kommen massiv unter Druck
von Annette Groth

Am 29. Dezember ist die im November 2006 verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie (DLR) in Deutschland in Kraft gesetzt worden. Deutsche und europäische Gewerkschaften, Attac, zahlreiche Berufsgenossenschaften sowie linke Parteien hatten 2005/06 massiv gegen die DLR und das sog. «Herkunftslandprinzip» protestiert.

Das Herkunftslandprinzip besagt, dass Dienstleistungsunternehmen in der EU - zu denen die EU auch Handwerker oder produzierendes Gewerbe zählt - nur dem Recht ihres Herkunftslands unterliegen. Das Prinzip wurde auf Grund der Proteste zwar etwas abgeschwächt, besteht aber nach wie vor, das hat kürzlich der Arbeitsrechtler Dr. Lorenz in einem für die Hans-Böckler-Stiftung erstellten Gutachten bestätigt.

Dienstleister dürfen die in ihrem Herkunftsland  üblichen Löhne zahlen und auch nur von dort aus kontrolliert werden. Die Regeln des Ziellands dürfen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen aus dem EU-Ausland nur angewandt werden, «wenn sie aus Gründen 1.der öffentlichen Ordnung und/oder 2.der öffentlichen Sicherheit und/oder 3.der öffentlichen Gesundheit und/ oder 4.des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind» (aus dem Gutachten).

Das Herkunftslandprinzip gilt sogar für das Strafrecht. Zwar gilt für ausländische Unternehmer grundsätzlich das deutsche Strafrecht, davon ausgenommen sind jedoch ausgerechnet all die Gesetze, die speziell mit einer Dienstleistung zu tun haben. Damit ist «kriminelle Berufsausübung kaum noch verfolgbar», kritisiert die IG BAU.

Nach den Erfahrungen der IG BAU tendieren die meisten Anbieter aus mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten dazu, nicht nach legalen Regeln zu operieren, sondern hiesige Mindeststandards systematisch zu umgehen. In der Kombination dieser Vorgänge sei ein ruinöser Preiswettbewerb zu erwarten, der durch Mindestlöhne am Bau und in der Gebäudereinigung nicht effektiv verhindert werden könne. Die Folge, so befürchtet die IG BAU, könne ein starker Rückgang der Inlandsbeschäftigung in den von ihr organisierten Branchen sein.

Keine Kontrolle
Aufgrund des Diskriminierungsverbots dürfen die Zielländer keine Originaldokumente, beglaubigte Kopien oder beglaubigte Übersetzungen von Zeugnissen oder anderen Dokumenten verlangen, die die Qualifikation eines Dienstleisters belegen. Das gleiche Verbot gilt für den Nachweis über die Staatsangehörigkeit und den Wohnort der Dienstleistungserbringer, ihrer Beschäftigten, Gesellschafter, Mitglieder der Geschäftsführung oder Kontrollorgane.

Dieser Passus ermöglicht es Dienstleistern, die billigsten Arbeitskräfte in die EU einzuschleusen - dem Menschenhandel wird Tor und Tür geöffnet. Auch Arbeitsunterlagen wie Arbeitsverträge oder Abrechnungen müssen nicht am Arbeitsort zur Verfügung stehen. Eine effektive Kontrolle über Dienstleistungsanbieter und ihre Beschäftigten sowie eine wirksame Wirtschaftsaufsicht im Dienstleistungssektor ist damit faktisch unmöglich.
Die EU-Mitgliedstaaten sind lediglich angehalten, Informationen über bestimmte Gütesiegel und sonstige Qualitätskennzeichen sowie Verhaltenskodizes leicht zugänglich zu machen. Gemeinsam mit der EU-Kommission müssen sie «begleitende Maßnahmen» ergreifen, um Dienstleister zu freiwilliger Qualitätssicherung anzuhalten und die Entwicklung von freiwilligen europäischen Standards zu fördern. Von Verpflichtungen ist in der Richtlinie keine Rede.

Insbesondere Ver.di hatte 2006 kritisiert, dass künftig «27 verschiedene Rechtssysteme in 22 Sprachen nebeneinander gelten», was auf Kosten der Rechtssicherheit gehe. Der DGB bezeichnete die Ausnahme bestimmter strafrechtlicher Verfolgung als grundgesetzwidrig.

Mindestlohn und Privatisierung
Der Wettlauf um die niedrigsten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bekommt jetzt einen zusätzlichen Schub, unabhängig von den Auswirkungen der Krise. Das nun drohende verstärkte Lohndumping ist nur durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu verhindern. Einen solchen gibt es bereits in 20 EU-Staaten, nirgendwo hat er zu mehr Arbeitslosigkeit geführt.

Weite Bereiche der Daseinsvorsorge wie Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft, Bildung und Sozialdienstleistungen fallen in den Anwendungsbereich der Richtlinie. In den Jahren 2010 bis 2012 laufen bundesweit viele Stromkonzessionen aus. Diese Dienstleistungen müssen dann europaweit ausgeschrieben werden.

Für Kommunen, die sich auf ÖPP-Modelle eingelassen haben, ist wichtig, dass Mischmodelle nicht mit der Dienstleistungsrichtlinie vereinbar sind; sie müssen ihre Dienstleistungen dem freien Markt öffnen. Darüber hinaus schreiben zahlreiche EU-Gebührenordnungen vor, dass Gebühren künftig nur noch kostendeckend sein dürfen. Die soziale Staffelung von Gebühren nach Einkommen zulasten der öffentlichen Haushalte wird stark eingeschränkt.

Nationale Bildungssysteme unterliegen hingegen nicht den Bestimmungen der Richtlinie, sofern diese «noch überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert» werden. Dies gilt jedoch nicht für überwiegend privat finanzierte Bildungseinrichtungen im Hochschulsektor, in der beruflichen Bildung und der Weiterbildung.
Die Einführung von Studiengebühren könnte bedeuten, dass der Europäische Gerichtshof die Hochschulen als «privat» einstuft, dann würden auch sie von der Richtlinie erfasst.

Genauso verhält es sich mit sozialen Dienstleistungen, die von privaten Unternehmen, sozialen Initiativen oder öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) erbracht werden. Auch sie könnten unter die Richtlinie fallen.
Eine zentrale Rolle bei der DLR spielen die sog. Einheitlichen Ansprechpartner, die es ab dem 29.12.2009 geben muss und die als Kontaktstelle zwischen einem Dienstleistungsanbieter aus einem EU-Staat und den nationalen Behörden agieren.

eGovernment
Da die gesamte Verfahrensabwicklung in Zukunft ausschließlich auf elektronischem Wege erfolgen soll, treibt die Richtlinie faktisch den Ausbau von eGovernment voran. Private Dienstleistungsunternehmen wie Arvato (Bertelsmann) wittern ein Geschäft und bieten Kommunalverwaltungen Unterstützung bei der Umsetzung der Richtlinie an.

Arvato AG und Arvato Government sind für den Bertelsmann-Konzern zur Erschließung von Geschäftsfeldern in der öffentlichen Verwaltung tätig. Hoheitliche Aufgaben werden zunehmend an private Betreiber übergeben, wodurch persönliche Daten der Bürger über eGovernment gesammelt, ausgewertet und evtl. auch weiter verkauft werden. Arvato verwaltet Daten u.a. im Auftrag der Telekom, der Bahn, der Schufa. Die Datenskandale bei Telekom und Bahn lassen grüßen!

Die Bolksteinrichtlinie leistet der Aushöhlung demokratischer Standards Vorschub und erhöht den Wettbewerbsdruck auf öffentliche Dienstleister. Ihr Ziel der Richtlinie ist die Liberalisierung nahezu des gesamten Dienstleistungssektors.

Die Autorin ist Mitglied von Attac und MdB für DIE LINKE.

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