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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2010
von Peter Hallward

Wenn wir diesem verwüsteten Land ernsthaft helfen wollen, müssen wir aufhören, es zu kontrollieren und auszubeuten.
Jede große Stadt auf der Welt hätte von einem Erdbeben der Größenordnung, das am Nachmittag des 12.Januar die Hauptstadt Haitis verwüstete, ausgedehnte Schäden davongetragen. Doch es ist kein Zufall, dass ein so großer Teil von Port-au-Prince jetzt wie ein Kriegsgebiet aussieht. Die meisten Verheerungen durch die jüngste Katastrophe lassen sich am besten als menschengemacht erklären - als weitere, durch und durch menschengemachte Auswirkungen einer langen, hässlichen Reihe historischer Ereignisse.
Das Land ist überdurchschnittlich oft Opfer von Katastrophen gewesen. Hunderte starben im Juni 1770 in Port-au-Prince während eines Erdbebens, und das gewaltige Beben vom 7.Mai 1842 tötete wahrscheinlich allein in der Stadt Cap Haitien 10000 Menschen. Regelmäßig wird die Insel von Hurrikanen heimgesucht, zuletzt 2004 und erneut 2008.

Die Stürme vom September 2008 überfluteten die Stadt Gonaïves, fegten einen Großteil der zerbrechlichen Infrastruktur hinweg, töteten über tausend Menschen und zerstörten Tausende von Häusern. Das volle Ausmaß des jüngsten Erdbebens wird vielleicht erst nach Wochen deutlich werden. Selbst minimale Reparaturen werden Jahre brauchen und die langfristigen Auswirkungen sind unkalkulierbar.

Allerdings wird jetzt schon deutlich, dass diese Auswirkungen das Resultat einer noch weiter zurückreichenden Geschichte bewusster Verarmung und Entrechtung sind. Haiti wird gemeinhin als das «ärmste Land der westlichen Hemisphäre» bezeichnet. Diese Armut ist die direkte Hinterlassenschaft des vielleicht brutalsten Systems kolonialer Ausbeutung der Geschichte, abgerundet durch mehrere Jahrzehnte systematischer postkolonialer Unterdrückung.

Die ehrenwerte «internationale Gemeinschaft», die gegenwärtig mühsam ihre «humanitäre Hilfe» nach Haiti schickt, ist weitgehend für das Ausmaß des Leidens verantwortlich, das sie nun lindern will. Seit 1915, als die USA in das Land einfielen und es besetzten, ist jeder ernsthafte politische Versuch, der Bevölkerung den Übergang «vom absoluten Elend zu würdevoller Armut» zu erlauben (so der Ausdruck des früheren Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide), von der US-Regierung und ihren Verbündeten gewaltsam und bewusst blockiert worden.

Aristides eigene Regierung (gewählt von 75% der Wähler) war das jüngste Opfer dieser Einmischung, sie wurde 2004 von einem international unterstützen Putsch gestürzt, Tausende wurden dabei getötet.

In Haiti leben 75% der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar am Tag, 56% 4,5 Millionen Menschen - von weniger als einem Dollar am Tag. Jahrzehnte neoliberaler «Anpassungsprogramme» und neoimperialer Intervention haben den Regierungen Haitis jede wirksame Möglichkeit geraubt, in die Bevölkerung zu investieren oder die Wirtschaft zu regulieren. Internationale Finanz- und Handelsstrafen stellen sicher, dass Armut und Ohnmacht in voraussehbarer Zukunft eine strukturelle Tatsache im haitianischen Leben bleiben werden.

Diese Armut und Ohnmacht sind für das volle Ausmaß des jetzigen Horrors in Port-au-Prince verantwortlich. Seit den späten 70er Jahren haben ständige neoliberale Angriffe auf Haitis Landwirtschaft Zehntausende von Kleinbauern in die überfüllten städtischen Slums getrieben. Hunderttausende Bewohner von Port-au-Prince leben in völlig baufälligen Häusern, oftmals am Rand entwaldeter Schluchten.

Brian Concannon, der Leiter des Institute for Justice and Democracy in Haiti, stellt fest: «Diese Menschen sind dort gelandet, weil sie selbst oder ihre Eltern bewusst aus ländlichen Gebieten vertrieben wurden, und zwar durch eine Hilfs- und Handelspolitik, die darauf abzielte, in den Städten ein großes, ausbeutbares Arbeitskräftereservoir zu schaffen. Diese Leute können es sich gar nicht leisten, erbebensichere Häuser zu bauen.» In der Stadt ist die elementare Infrastruktur - fließendes Wasser, Elektrizität, Straßen usw. - entweder völlig unzureichend oder nicht vorhanden. Die Fähigkeit der Regierung, irgendeine Katastrophenhilfe zu mobilisieren, grenzt an Null.

Die internationale Gemeinschaft regiert Haiti praktisch seit dem Putsch von 2004. Dieselben Länder, die nun mühsam Hilfe nach Haiti schicken, haben in den letzten fünf Jahren ständig gegen die Ausweitung des Mandats der UN-Mission - über ihren unmittelbaren militärischen Zweck hinaus - gestimmt. Vorschläge, einen Teil dieser «Investition» zur Reduzierung der Armut oder für die landwirtschaftliche Entwicklung abzuzweigen, wurden blockiert. Man blieb dem alten Muster, wie internationale «Hilfe» verteilt wird, treu.

Die Stürme, die 2008 auf Haiti und in New Orleans so viele töteten, trafen Kuba genauso schwer, töteten dort aber nur vier Menschen. Kuba hat sich den schlimmsten Auswirkungen neoliberaler «Reform» entzogen und seine Regierung erhält sich die Fähigkeit, die Bevölkerung vor Katastrophen zu verteidigen. Wenn wir Haiti in dieser Krise ernsthaft helfen wollen, sollten wir diesen Vergleich beachten. Neben der Entsendung von Hilfe sollten wir uns fragen: Was können wir tun, um die Selbstermächtigung der Bevölkerung und der öffentlichen Institutionen Haitis zu ermöglichen?

Wenn wir es ernst meinen, müssen wir aufhören zu versuchen, Haitis Regierung zu kontrollieren, seine Bürger zu befrieden und seine Wirtschaft auszubeuten. Wir müssen anfangen, zumindest einen Teil des Schadens zu bezahlen, denn wir verursacht haben.

Zuerst erschienen in: The Guardian (London), 14.1.2010.

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