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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2010

Essen und die Ruhr im Ausnahmezustand
von Rolf Euler

Am zweiten Januarwochenende wurde die Kulturhauptstadt Ruhr2010, oder wie es offiziell heißt: «Essen für das Ruhrgebiet» eröffnet. Hunderttausend Menschen kamen zur ehemaligen Zeche Zollverein, die schon länger zum Weltkulturerbe gehört.
Wir Ruhrgebietsbewohner sehen die Kulturhauptstadt mit wechselnden Gefühlen. Es werden 2500 Veranstaltungen in 53 Städten angeboten. Es werden Museen und Theater, Plätze und Zechenbrachen, alte und neue Industriestandorte, Kanäle und Straßen bespielt und besprochen. Jede Stadt im Revier ist eine Woche lang «local hero». Es wird - na sagen wir mal: voll!
Zu Anfang überwog die Skepsis: Als erstes wurde ein Direktorium aus fünf Menschen plus einem Koordinator gebildet, dazu ein Kulturhauptstadtbüro. Gesprochen wurde von großen Plänen, auswärtigen Leitfiguren, die im Revier für Kultur sorgen sollten. Die Bewohner, aber auch lokale Kulturschaffende, kamen sich abgehängt vor. Große Pläne mit viel Geld und dann: Kultur, um die Region zu vermarkten? Die Krisenfolgen zu vertreiben?
Immerhin ist das Revier seit der Zeit der Zechen- und Hochofenstilllegungen mit hoher Arbeitslosigkeit, armen Kommunen und vielen Problemen gerade beim Erhalt ortsnaher Kultureinrichtungen gebeutelt. Was sollten da viele teure Leuchtturmprojekte bewirken?
Immerhin gab es schon bald an die 2000 Vorschläge, was alles an Kultur im Hauptstadtjahr gefördert werden sollte. Die Auswahl daraus dauerte und enttäuschte manchen. Die finanzielle Krise, der Absprung von Sponsoren und Kritik aus der freien Kulturszene gaben wohl doch den Verantwortlichen zu denken.
So stehen wir nun vor einem riesigen Gemenge von Kulturveranstaltungen, Qual der Wahl allemal, mit einigen Höhepunkten, die sich inzwischen bundesweit rumsprechen.
Dabei durchaus auch Kultur traditioneller Art in den Theatern und Museen, mit Ausstellungen über Geschichte und Schwerpunkte des Reviers - allemal sehenswert insbesondere die Industriemuseen in ehemaligen Stahlwerken von Hattingen (Henrichshütte) und Duisburg, in alten Zechen in Witten (Nachtigall), Bochum (Hannover), Dortmund (Zollern) - wenn man mal über Zollverein hinauskommt.
Das Schachtzeichen-Projekt im Mai versucht, lokale und regionale Aktivität zusammen zu bringen. Über rund 400 ehemaligen Zechenstandorten sollen zehn Tage lang Ballons schweben, während «am Boden» lokale Aktivitäten auf die wichtige Bergbaugeschichte, aber auch den Strukturwandel hinweisen sollen.
Bei solchen Projekten liegt es schon an der Aktivität «von unten», was aus so einem zentral geplanten Ereignis gemacht wird, und ob nachhaltigere Eindrücke als von einem bloßen «Event» hängen bleiben.
Die Ruhrgebietstheater arbeiten zusammen bei einer Zwei-Tage-(Ruhr-)
Odyssee, mit sechs Aufführungen nacheinander an den Theatern und zwischengeschalteter «Reiseodyssee» der Besucher durchs Revier. Ruhrfestspiele und Ruhrtriennale werden ebenfalls volles Programm beisteuern.
DIE LINKE fordert günstige Karten für Hartz-IV-Empfänger - was am Mülheimer Theater schon längere Zeit Praxis ist! (Muss mal gesagt werden: Roberto Ciulli macht da gutes Theater und holt ständig nahöstliche und afrikanische Ensembles!)
Natürlich reden viele auch schon über solche Projekte wie den «Day of Song» (muss alles international verständlich sein…) mit 60.000 Sängerinnen und Sängern in der Arena des Fußballklubs Schalke 04 - pardon, in der Veltins-Arena - und der Sperrung der A40 (frühere B1-Ruhrschnellweg) zwischen Duisburg und Dortmund am 18.Juli: Dann soll es 40 Kilometer Tische mit Initiativen, Essen, Trinken, Präsentationen und was weiß man geben. Das immerhin möchte eine Ahnung von dem abgeben, was ohne Autos geht.
Was zu Anfang nicht vorgesehen war, nun an einigen Stellen doch hineingekommen ist: die Geschichte des Reviers und seiner Bewohner handfester aufzuzeigen. Immerhin gibt es nun Ausstellungen zur Immigration aus mehr als hundert Jahren, zur lokalen Geschichte. Die lokalen Anstrengungen können vielleicht von Ruhr2010-Interessierten auf ihrer Reise beachtet werden.
Aber es fehlt die Geschichte von (Arbeiter-)Protest und Widerstand, die aus der sperrigen Kultur von unten, der Kultur der Arbeit, des täglichen Lebens, der Maloche nicht wegzudenken ist. Die Bude an der Ecke kommt vor, der Streikaufruf nicht. Das Theater im Revier ja, aber nicht das Straßentheater, B1- und Rheinbrückenbesetzung. Protestsongs, Rote-Punkt-Bewegung, Studenten- und Lehrlingsbewegung und die kulturellen Umbrüche danach - vielleicht sind sie indirekt bei einigen Veranstaltungen ja enthalten.
Was noch fehlt ist ein praktikables Angebot, mit den anderen Kulturhauptstädten Pecs (Ungarn) und Istanbul (Türkei) in Kontakt zu kommen, Leute von dort herkommen zu lassen, und sie zu besuchen.
Diese subjektiven Eindrücke eines riesigen Programms Kulturhauptstadt Ruhr 2010 sollte jede ergänzen durch das, was schriftlich und im Internet verfügbar ist. Immerhin ist die Homepage breit aufgestellt, die lokalen KH-Beauftragten geben Broschüren aus, und Anschauung vor Ort ist die einzige Möglichkeit, bei aller kritischen Distanz zu teuren Projekten zu sehen, was noch im Revier los ist, nachdem die Feuer aus sind.
Natürlich stellt sich immer die Frage nach der «Nachhaltigkeit»: Was bleibt? Immerhin droht mit der Finanzkrise ein Schlag in die kommunalen Kulturhaushalte. Widerstand ist auch hier angesagt, wenn Kultur nach 2010 nicht als Mangelverwaltung eine Restgröße im Etat bleiben soll. Die freie Szene oder die Arbeitskultur mussten sich allerdings schon immer jenseits der öffentlichen Etats ihren Weg bahnen.
Frank Goosen hat einen Text für Ruhr2010-Besucher geschrieben, der endet mit einem Zitat seines Großvaters: «Woanders is auch Scheiße.» Vieles, auch an der Kulturhauptstadt, muss der Ruhrbewohner so nehmen: mit dem Humor der Gegend, in der es sich lohnt zu leben. Dann kann man auch mal «ein bissken mehr» Kultur ab.

Infos unter
www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de

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