von Rainer Roth
Entgegen zahlreicher Falschmeldungen der Medien, der Wohlfahrtsverbände und der Gewerkschaften hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelsätze nicht für verfassungswidrig erklärt. Es hat im Gegenteil erklärt:
«Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen.» Diese Feststellung bezieht sich auch auf die Kinderregelsätze.
Regelsatz für Schulkinder
Das Gericht geht sogar soweit, die 2005 mit Hartz IV erfolgte Kürzung des Regelsatzes von 7- bis 13-Jährigen auf das Niveau von Vorschulkindern im Nachhinein noch als verfassungsgemäß zu bezeichnen: «Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14.Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist.»
Die höchstrichterlichen Professoren urteilen, dass der Regelsatz für Kinder, da « nicht evident unzureichend», auch nach der Kürzung noch sowohl menschenwürdig als auch ausreichend gewesen sei.
Das Gericht stellt zwar fest: Der Bedarf von Kindern, «der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist.» Es stellt auch fest, dass «ein zusätzlicher Bedarf vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten» und die Nichtberücksichtigung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Und es stellt fest, dass sich «der Bedarf eines schulpflichtigen Kindes in der Pubertät offensichtlich vom Bedarf eines Säuglings oder eines Kleinkindes unterscheidet». Vor allem wegen des biologisch bedingten Wachstums- und Entwicklungsbedarfs habe eine (bis heute nicht veröffentlichte) Sonderauswertung der Bundesregierung ergeben, dass Kinder von 6 bis 13 Jahren einen um 25% höheren Verbrauch aufweisen als Kinder von 0 bis 6 Jahren.
All dies tut nichts zur Sache. Trotzdem erklärt das Gericht die faktische Nicht-Berücksichtung des geänderten Bedarfs in der Leistungshöhe für Schulkinder ab 2005 für verfassungsgemäß. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei gewährleistet und es sei «nicht ersichtlich, dass der Betrag von 207 Euro nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere den Ernährungsbedarf, von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14.Lebensjahres zu decken».
Man verhungert also trotz der Kürzung nicht. Danke. Mit einer weiteren Kürzung würden Kinder ebenfalls noch nicht verhungern. Geht es bei der Ernährung wirklich nur um das physische Existenzminimum? Und bedeutet die Aberkennung des Wachstumsbedarfs nicht schon, dass das physisch Notwendige, nämlich der notwendige Kalorienbedarf, nicht gedeckt ist? Der beträgt nämlich bei 7-13-jährigen Kindern im Durchschnitt 2042 Kcal, während 0- bis 6-Jährige im Durchschnitt nur 1250 Kcal brauchen.
Bitte besser begründen
Bei der Festsetzung des Regelsatzes von 345 Euro auf der Basis der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS = Statistikmodell) 1998 wurden Abschläge vorgenommen, z.B. für Pelzmäntel, Sportboote und Segelflugzeuge, obwohl gar nicht festgestanden hätte, dass das unterste Fünftel der Einpersonenhaushalte der EVS solche Ausgaben überhaupt tätigt.
Die daraus folgende Senkung des Regelsatzes hält das BVG für verfassungsgemäß: «Das nach §28 Abs.3 SGB XII und §2 Regelsatzverordnung 2005 maßgebliche Statistikmodell ist eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine alleinstehende Person.»
Das Gericht bemängelt Einzelheiten:
- Bei den Stromkosten sei der Abschlag von 15% (3,84 Euro) für Strom, der auf Heizung entfällt, nicht empirisch belegt.
- Die Nichtanerkennung von Bildungsausgaben sei nicht begründet worden, das Problem könne jedoch mit einer (noch fehlenden) «Wertungsentscheidung» behoben werden, dass «diese Ausgaben nicht zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich» seien.
- Die Position «Außerschulischer Untericht in Sport und musischen Fächern» in Höhe von 0,75 Euro sei ohne Begründung unter den Tisch gefallen. Die Begründung könne aber nachgereicht werden.
Als verfassungswidrig wird also nur das Verfahren zur Festsetzung der Regelsätze betrachtet, nicht die Höhe der Regelsätze selbst. «Schätzungen ‹ins Blaue hinein› laufen … einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art.1 Abs.1 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art.20 Abs.1 GG.» Man muss aber nur die Höhe der Regelsätze «nachvollziehbar begründen», um der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip genüge zu tun.
Die schallende Ohrfeige, die viele gehört haben wollen, entpuppt sich als sanftes Streicheln mit furchterregendem juristischem Theaterdonner, um ein vertrauensseliges Publikum zu begeistern. Die Aufgabe, den Eckregelsatz in dieser Hinsicht wieder mit der Menschenwürde in Übereinstimmung zu bringen, wird die Bundesregierung mit Bravour lösen.
Das Urteil verdient es nicht, begrüßt zu werden. Seine hauptsächliche Wirkung besteht darin, der Kritik an Hartz IV das Wasser abzugraben, ohne dass es etwas kostet. Angesichts der eigenen Schwäche erträumten sich viele, dass die acht von den Hartz-IV-Parteien bestellten Professoren des Bundesverfassungsgerichts es für sie richten würden. Medienkonzerne und Hartz-IV-Parteien haben diese Hoffnungen geschürt, indem sie die Milliarden Euro an die Wand malten, die möglicherweise aufgrund des Urteils auf sie zukämen. Sie bekommen hier aber nicht das Recht, das ihnen nützen würde.
Deshalb sind jetzt nicht Hoffnungen auf die Umsetzung dieses Hartz IV-Verteidigungsurteils angesagt, sondern die verstärkte Kampagne für die eigenen Forderungen.
Mit Erlaubnis des Autors stark gekürzt. Langfassung auf www.sozonline.de/.
www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-005.html
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