Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2010

Gespräch mit DDR-Oppositionellen, die nicht im Kapitalismus landen wollten – Teil V

Die Redaktionen von express und SoZ haben einen gemeinsamen Fragekatalog erarbeitet, der von sieben ehemaligen DDR-BGürgerinnen und -Bürgern aus dem Umkreis der Vereinigten Linken, des Neuen Forums und der Initiative Unabhängiger Gewerkschafter beantwortet wurde.

Wichtiger Akteur der Wende 1989 war die Bürgerbewegung, sie mobilisierte mit dem Slogan «Wir sind das Volk» zu großen Demonstrationen. Wie hast du an diesen Aktionen teilgenommen? Später wurde daraus die Parole «Wir sind ein Volk». Wie bewertest du den Übergang von der ersten zur zweiten Losung? War dies folgerichtig oder drückte es eine veränderte Orientierung aus?

Bernd Gehrke: Ich war vor allem an der Gründung verschiedener Organisationen wie der Grünen Liga und der Initiative für eine Vereinigte Linke beteiligt. Die Parole «Wir sind ein Volk!» war eine Erfindung der CDU-West und wurde in die DDR hinein getragen. Der entsprechende Geist kam jedoch nicht nur aus dem Westen. Die politisch vergleichbare Parole, die im Osten entstanden war, operierte mit der bekannten Zeile aus dem Text der DDR-Nationalhymne, Deutschland einig Vaterland. Erst als diese Losung auf den Straßen stark genug war, hatte die CDU mit ihren Plakaten eine Chance und nutzte sie.

Sebastian Gerhardt: Am 7.Oktober 1989 nahm ich an der Militärparade zum 40.Jahrestag der DDR teil. In unserem Truppenteil diskutierten wir diese groteske Veranstaltung und sahen uns später im Paradestützpunkt Friedrichsfelde die Bilder des Westfernsehens zu den Demonstrationen in Berlin an. Zurück in Mecklenburg reichten wir sehr unparteiisch alles Material oppositioneller Gruppen in der Kaserne herum und diskutierten es. Ich arbeitete dann ein Jahr in der VL-Mecklenburg, zunächst neben meinem Militärdienst, dann parallel zur Arbeit als Krankenträger. Wer den Ruf «Wir sind das Volk!» aufgebracht hat, weiß wohl keiner. Die Staatssicherheit notierte ihn erstmals am 8.Oktober bei einer Demo in Dresden. Sicher ist dagegen, wann die Losung «Wir sind ein Volk» auftauchte – allerdings mit einer ganz anderen Bedeutung. In einem Flugblatt von Leipziger Oppositionsgruppen hieß es am 9.Oktober 1989: «An die Einsatzkräfte appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden!»

Werner Jahn: Ich wollte dort wieder ansetzen, wo 1968 in Prag aufgehört wurde, also endlich «demokratischen Sozialismus». Ich war in der Betriebsgruppe der VL-Berlin aktiv und später bei den «Kritischen Gewerkschaftern» Berlin. «Wir sind das Volk» war die Antwort auf die Medienkampagne der SED, die Demonstranten seien allesamt «Randalierer, Asoziale, Arbeitsscheue». Nein, «Wir sind das Volk» (Und wer seid ihr?, unausgesprochen) lautete die Antwort der Demonstrierenden. Die Parole «Wir sind ein Volk» kam nach der Maueröffnung, nach dem Kohlschen «Konföderations-Vereinigungspapier», im November, als die Perspektive der «(Wieder-)Vereinigung» real wurde. Die erste Parole zielt auf eine Umgestaltung der DDR durch das «Volk», also durch die, die bisher von der Gestaltung der Gesellschaft ausgeschlossen waren, dazu gehörte auch die Mehrheit der SED-Mitglieder. Die Parole «Wir sind ein Volk» war die Forderung der 50er Jahre aus dem Westen: «Freie Wahlen + Wiedervereinigung».

Thomas Klein: Ich war damals Mitinitiator der Bürgerbewegung «Vereinigte Linke» und hatte einiges zu tun. Der Übergang zur Losung «Wir sind ein Volk» drückte eine veränderte Orientierung aus. Dies war insofern folgerichtig, als die linke Opposition an der selbst gestellten Aufgabe und an der Nachhaltigkeit der Folgen stalinistischer Zwangsvergesellschaftung scheiterte.

Sylvia Müller: Am Tag nach der Maueröffnung trug Kohl vor dem Schöneberger Rathaus die Wiedervereinigungsansprüche vor und wurde dafür noch ausgepfiffen. Am gleichen Tag forderten die sechs neuen politischen Vereinigungen Verhandlungen am Runden Tisch. Als dieser am 7.Dezember begann, war das SED-Politbüro bereits zurückgetreten und die Rufe «Deutschland einig Vaterland» zahlreicher geworden. Vergeblich mahnte die Vereinigte Linke noch am 28.Dezember vom Runden Tisch aus, die Regierung Modrow vollziehe «die Anpassung an ein System kapitalistischen Wirtschaftens» und bereite die «ökonomischen Fundamente einer Wiedervereinigung», «am 6. Mai könnten die Entscheidungen bereits gefallen sein – trotz freier Wahlen».

Klaus Wolfram: Die erste Losung drückt genau den - einzig möglichen - Anfang der Bewegung von links aus; die spätere kündigt die nachrückende Bewegung der unpolitischen «anderen Hälfte» der DDR-Bevölkerung an. Als nunmehr gesamtgesellschaftliche Mobilisierung hat sie selbst so noch eine emanzipatorische Dimension: Selbstbestimmung zumindest als Selbstbewegung. Nicht die Orientierung, sondern die Bewegung war hier folgerichtig.

Was war die Rolle des FDGB in der DDR und spielte er eine Rolle für die Opposition? Wie verlief die Fusion der FDGB-Gewerkschaften mit den West-Gewerkschaften? Welche Strategie hatten die West-Gewerkschaften und wie traten diese ihren Kollegen im Osten gegenüber auf? Welche Überlegungen gab es zu etwas Neuem, jenseits von FDGB und DGB, und warum konnten diese sich nicht durchsetzen?

Bernd Gehrke: Der FDGB war keine Organisation zur Konfliktregelung, sondern eine Art «Sozialbehörde» für Urlaubsreisen oder Kindergartenplätze. Erst im Frühjahr 1989 zeichneten sich an der Basis erste Umbrüche ab, als sich einige kritische Kollegen zu Vertrauensleuten wählen ließen. Diese spielten dann im Herbst 1989 und später, bei der Abwahl der alten Betriebsgewerkschaftsleitungen und der Wahl von Betriebsräten eine wichtige Rolle.

Wie die SED fiel auch der FDBG auseinander, als sich die Einzelgewerkschaften zu verselbständigen begannen. Deshalb scheiterte auch die verkündete Erneuerung auf dem Außerordentlichen FDGB-Kongress Ende Januar 1990, woraufhin die DGB-Gewerkschaften, die nicht auf die Opposition, sondern auf den «reformierten» FDGB-Apparat gesetzt hatten, ab Februar einmarschierten. Es gab keine «Fusion». Einige Einzelgewerkschaften übernahmen den alten Apparat der entsprechenden DDR-Einzelgewerkschaft, die Mehrzahl erkannte lediglich die Beitragszeiten an und man musste individuell neu beitreten. Es gab keine starken Interessenorganisationen der abhängig Beschäftigten. Deshalb trat das Gros der Beschäftigten sehr schnell den Westgewerkschaften bei.

Sebastian Gerhardt: Beim FDGB war es ähnlich wie bei vielen Menschen aus der SED: Man hat sie aus ihrer Staatsfixiertheit und Gemeinwohlorientierung einfach nicht herausbekommen. Das Interessanteste am FDGB ist vielleicht sein Ende. Er hatte im März 1990 Protestaktionen im Vorfeld der Währungsunion organisiert. Das Motto war: «Wir sind ein Volk: 1:1!» Dafür gingen am 5.April Hunderttausende auf die Straße. Ende April erklärte der DGB, ein Zusammenschluß mit dem FDGB komme nicht in Frage. Anfang Mai entmachtete ein Sprecherrat aus den DDR-Industriegewerkschaften den Dachverband und sprach sich für den direkten Anschluß an die westdeutschen Partner aus. Der DGB hatte sich schon früh für die deutsche Einheit und die Notwendigkeit einer marktwirtschaftlichen Umgestaltung der DDR ausgesprochen.

Die Arbeitsbeziehungen sollten in der DDR nach westdeutschem Vorbild geregelt werden, zugleich einigte man sich auf die Notwendigkeit einer Sonderwirtschaftszone Ost. Beides zusammen, die Übertragung westdeutscher Institutionen und die gleichzeitige Errichtung einer Tariflandschaft in Ostdeutschland mit niedrigerem Lohnniveau hat die Möglichkeit geschaffen, das gesamte System der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik aus den Angeln zu heben.

Renate Hürtgen: Interessanterweise setzen sich eure Fragen kritisch mit dem Verhalten der Bürgerbewegungen, dem einigungswilligen Volk, dem FDGB und dem DGB auseinander. Wo bleiben die Fragen nach dem Verhalten der West- und Ostlinken? Für unser Selbstverständnis sind sie bedeutender als alle Empörung über den DGB-Apparat, denn eine kritische Selbstreflexion ist die Voraussetzung dafür, dass wir nicht wieder dieselben Fehler machen.

Dazu ein paar Anregungen: Es dauerte lange, bis sich die Betriebslinke im Westen überlegt hatte, welches ihre politischen Partner in der DDR sind. Die Grünen, die SPD und die Unternehmerverbände wussten das bereits im Herbst, während die betrieblichen Basisaktivisten West-Unterstützung nur von einigen kleinen linken Gruppen und Parteien erhielten. Im besten Fall waren sie zurückhaltend und verschwanden enttäuscht wieder, im schlimmsten Fall versuchten sie, die Bewegung für ihre eigenen Ziele, etwa einer Parteigründung, umzuwidmen. Der größere Teil der eher kleinen Szene hielt sich vornehm zurück, denn wofür die Ost-Kollegen den Kampf um den Betrieb oder um eine demokratischere Interessenvertretung aufnahmen, klang nicht besonders «sozialistisch». Was für ein Dilemma, das leider seine Vor- und Nachläufer hat! Die Bewegung wurde nicht nach ihrem emanzipatorischen Charakter beurteilt, sondern von einem Teil der Linken danach bewertet, ob sie dem eigenen Bild von einer sozialistischen Zielstellung entsprach.

Ich denke nicht, dass die gesamte weitere Entwicklung bis hin zur deutschen Einheit verhinderbar gewesen wäre, wenn sich die Westlinke anders verhalten hätte. Denn eben diese betriebliche und die Westlinke stellten 1989 keine wirkliche historische Kraft dar. Dennoch: Geschichte ist offen und wer weiß, wie ein Zusammenschluss von betrieblichen Wendeaktivisten und linken Betriebsaktivisten aus dem Westen das gesamte Kräfteverhältnis verändert hätte? Es lohnt sich, über all diese Fragen eine offene Diskussion zu führen, statt das eigene Versagen mit dem Finger auf das dumme einheitswillige Volk weisend zu verdrängen.

Sylvia Müller: Natürlich überlegten wir in oppositionellen Zirkeln und Gruppen der 80er Jahre die Möglichkeiten des Einflusses mittels gewerkschaftlicher und anderer gesellschaftlicher Kanäle. Der FDGB war nach den «polnischen Ereignissen» jedoch in Hab-Acht-Stellung und in seiner Starrheit und Verkrustung nicht mit der Solidarnosc zu vergleichen. 1989 erwies er sich als untätig und unfähig zur «Wende».

Gerd Szepansky: Wie einige der West-Gewerkschafter die ganze Geschichte angegangen sind, war nicht immer erfreulich. Es gab keine richtige Strategie, und anstatt mit uns, den sog. Oppositionellen nahm man lieber mit abgetauchten FDGB-Funktionären Kontakt auf, man kannte man sich ja. Es ging um die Übernahme der Mitglieder und den Aufbau von Strukturen, wie sie im Westen üblich waren. Deshalb hatte Neues wohl auch keine Chance.

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