Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2010
Nach dem Hartz-IV-Urteil
von Edgar Schu

Wer hilft uns? Das Bundesverfassungsgericht ist es nicht. Das hat gerade, entgegen der veröffentlichten Meinung, nicht feststellen können, dass die Regelsätze «evident unzureichend» wären. Nur das Verfahren, wie sie ermittelt wurden, schien ihm nicht verfassungsgemäß. Höhere Leistungen gibt es nur durch Mobilisierung der Betroffenen. Die einzige bisher erzwungene Erhöhung eines Regelsatzes hat die Kampagne «Kinderarmut durch Hartz IV» (www.kinderarmut-durch-hartz4.de/) durchgesetzt. Dieser Weg muss weiter verfolgt werden.
Seit dem 1.Juli 2009 wird jährlich eine halbe Milliarde Euro mehr auf das Konto von Arbeitslosengeld II beziehenden Eltern überwiesen! Im Januar 2009 hat die Regierung beschlossen, dass Kinder ab dem Schulalter im Hartz-IV-Bezug, wie vor der Einführung von Hartz IV, wieder mehr bekommen sollen als Säuglinge und Kleinkinder. Kinder bis 5 Jahre bekommen jetzt 215 Euro im Monat (60% des Eckregelsatzes), Kinder zwischen 6 und 13 Jahren bekommen 251 Euro (70%). Pro Jahr und schulpflichtigem Kind macht das eine Mehrzahlung von 432 Euro aus. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bemängelt nicht, dass seit Einführung von Hartz IV Schulkinder wie Säuglinge und Kleinkinder behandelt wurden.

Repressive Arbeitsmoral
Wie konnte dieser Erfolg errungen werden? 2007 entstand im gesamten Land eine riesige Aufregung um das Thema Kinderarmut. Das allein hätte aber nicht ausgereicht, die Regierung zur Rücknahme zu zwingen. Denn viele prominente Vertreter aus Politik und Medien, die auf das Thema «Kampf gegen Kinderarmut» zu sprechen kamen, meinten, am wichtigsten sei, dass «das Geld auch bei den Kindern ankomme».

Diese Denkfigur war nicht originell: Schon John Locke, einer der ersten Vertreter des Liberalismus, rechtfertigte 1697 in seiner Abhandlung On the Poor Law and Working Schools geringe Sozialleistungen - und somit Armut - damit, erwerbslose Eltern würden die Unterstützung für ihre Kinder in der Kneipe versaufen. Kinder von 3 bis 14 Jahren sollten in Working Schools (Anstalten) geschickt werden, damit sie lernten, für ihren Lebensunterhalt selber zu sorgen und dem Gemeinwesen nicht zur Last fielen. So wie er dachte damals das gesamte Bürgertum - und tut es in großen Teilen bis heute. Damals wie heute ging es darum, den Arbeitslohn zu drücken.

Peter Hahne (Ratsmitglied der Evangelischen Kirche Deutschlands und vor allem im ZDF sehr präsent) erklärte in Bild am 23.8.2007: «Wenn ich mit meinen Steuern Kindern aus der Armut helfen will, möchte ich weder den Flachbildschirm noch den Alkoholkonsum der Eltern finanzieren.» Dirk Niebel, damals arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP, schrieb in einer Antwort an das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV am 19.6.2008: «Mit höheren Leistungsbezügen sinkt gleichzeitig der Anreiz, durch Arbeit eigenes Einkommen zu erwirtschaften.»

Die ehemalige Familien- und jetzige Arbeits- und Sozialministerin von der Leyen teilte im Berliner Tagesspiegel am 2.2.2009 mit, höhere Kinderregelsätze «würden Kinderarmut zementieren».

Nicht mehr zurück zur Nazizeit
Die Bewegung gegen Hartz IV reagierte darauf mit unterschiedlichen Vorstößen: 2007 begann eine breite Kampagne für kinderspezifische, explizit zweckgebundene Leistungen wie Schulbedarf und Finanzierung vom gemeinsamen Mittagessen in der Schule. Die Kampagne gegen Kinderarmut durch Hartz IV konzentrierte sich seit Mai 2008 vollständig auf den scharfen Vorwurf: «Ihr (die Regierungsparteien, alle Koalitionen seit 2002 und alle im Bundesrat Verantwortlichen) habt bei Kindern empfindlich gekürzt, ohne darüber zu sprechen. Und ihr seid im Jahr 2005 vor den Zustand von 1955 zurück gesprungen. 1955 wurde endlich eine Regelung aus dem Richtsatzerlass von 1941 aufgehoben, der einen einheitlichen Richtsatz für alle Kinder unter 16 Jahren vorsah und den Wachstumsbedarf von Kindern leugnete. Seit 2005 wird der Wachstumsbedarf wieder geleugnet, wieder um die Löhne zu drücken.»

Den Vorwurf der Kürzung konnte die Regierung nicht widerlegen. Immer mehr Organisationen der Erwerbslosen und der Erwerbstätigen, zum Schluss über 250 Initiativen und Organisationen bis hin zum Hauptvorstand der GEW, der NGG und andere hatten sich dem Aufruf dieser Plattform angeschlossen, in vielen Städten wurden auf der Straße, vor Ämtern und in Beratungsstellen Unterschriften gesammelt. Der Druck in allen, auch sehr großen, Organisationen wie Gewerkschaften und Sozialverbänden, sich dem Bündnis anzuschließen, wuchs. Die Regierung wich schließlich zurück, indem sie die wichtigste, exakt bezifferte Forderung fast vollständig erfüllte.

Die Regierung handelte entgegen ihrem Dogma, dass «das Geld bei den Kindern nicht ankomme» und entgegen ihrem Willen. Gerade deswegen durfte diese wichtigste Erleichterung für die Betroffenen seit der Einführung von Hartz IV in den Medien kaum auftauchen. Sie kaschierte die Rücknahme der Kürzung als Teil des Konjunkturpakets II. So wurde eine Auseinandersetzung um das bürgerliche Glaubensbekenntnis vermieden.

Der nächste Schritt
Nach diesem ersten Erfolg konzentriert sich das Bündnis nun auf die Forderung «500 Euro Eckregelsatz». Jeder Eckregelsatz darunter bringt nicht nur eine starke gesellschaftliche Isolation mit sich, sondern auch Mangelernährung. Von 3,94 Euro pro Tag für Essen und Trinken kann man sich nicht gesund ernähren, 0,49 Euro pro Tag für öffentliche Verkehrsmittel reichen nicht aus, um Freunde oder Veranstaltungen zu besuchen, und mit 359 Euro im Monat kann man nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Im Aufruf ist die Forderung nach einem Eckregelsatz in dieser Höhe mit der nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro verbunden.

Bisher sind sowohl die Parteien (mit Ausnahme der LINKEN) in ihrer Antwort auf den Vorwurf diesem Sachverhalt ausgewichen. Widersprochen hat aber keiner. Der Parteivorstand der Linken hat sich dem Bündnis angeschlossen. Der DGB-Bundesvorstand räumt ein, dass die Argumentation «nachvollziehbar» sei. Die Medien sind voll von unwissenschaftlich begründeten Behauptungen, der Hartz-IV-Satz reiche für eine gesunde Ernährung aus. Getroffene Hunde bellen!

Die gesamte Bewegung der Lohnabhängigen, egal ob mit oder ohne Arbeitsplatz, Einzelpersonen, Organisationen und Organisationsgliederungen wie Gewerkschaftsregionen, Vertreter und Ortsgruppen von Sozialverbänden usw. sind aufgefordert, sich dem Bündnis anzuschließen und den Druck auf das Kapital zu erhöhen!

Edgar Schu war engagiert in der Kampagne gegen Kinderarmut durch Hartz IV. Mehr Informationen über www.500-euro-eckregelsatz.de/.

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