Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2010
Hartz IV-Eckregelsatz verfassungsgemäß
von Rainer Roth

Entgegen den zahlreichen Falschmeldungen aus Medien ("Regelsätze für Hartz IVEmpfänger
verfassungswidrig" FAZ 11.02.2010), Wohlfahrtsverbänden und
Gewerkschaften („Die Regelsätze ...entsprechend nicht der Verfassung“, direkt 2/2009)
hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelsätze nicht für verfassungswidrig
erklärt.
Es hat im Gegenteil eindeutig festgestellt:: "Da nicht festgestellt werden kann, dass die
gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der
Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen
festzusetzen". (http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-
005.html
).

Diese Feststellung bezieht sich auch auf die Kinderregelsätze.
Die Kürzung des Regelsatzes für Schulkinder war verfassungsgemäß.
Das Gericht geht sogar soweit, die 2005 mit Hartz IV erfolgte Kürzung des Regelsatzes
von 7 bis 13-Jährigen auf das Niveau von Vorschulkindern im Nachhinein noch als
verfassungsgemäß zu bezeichnen.

„Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des
14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines
menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist“ (Rd.Nr. 155
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 155
http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html)

SPD/CDU/Grüne/FDP hatten mit der Kürzung Kindern ab dem Schulalter den bisher
anerkannten besonderen Wachstums- und Entwicklungsbedarf aberkannt und ihnen auch
die bis dahin übliche Anerkennung des Schulbedarfs verweigert. Die höchstrichterlichen
Professoren urteilen jedoch, dass der Regelsatz, da „ nicht evident unzureichend“ ,auch
nach der Kürzung noch sowohl menschenwürdig als auch ausreichend gewesen sei.

Das Gericht stellt zwar selbst fest: Der Bedarf von Kindern, „der zur Sicherstellung eines
menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen
Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines
Kindes erforderlich ist.“ (Rd.Nr. 191) Die Verletzung dieses Grundsatzes ist dem Urteil
nach aber offenbar verfassungsgemäß.

Es stellt fest, dass „ein zusätzlicher Bedarf vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu
erwarten“ und die Nicht-Berücksichtigung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei (Rd.Nr.
192). Trotzdem erklärt es die faktische Nicht-Berücksichtung in der Leistungshöhe für
Schulkinder ab 2005 für verfassungsgemäß.

Es stellt fest, dass sich „der Bedarf eines schulpflichtigen Kindes in der Pubertät
offensichtlich vom Bedarf eines Säuglings oder eines Kleinkindes unterscheidet“ (Rd.Nr.
196). Vor allem wegen des biologisch bedingten Wachstums- und Entwicklungsbedarfs
habe eine (bis heute nicht veröffentlichte) Sonderauswertung der Bundesregierung auch
ergeben, dass Kinder von 6 bis 13 Jahren einen um 25 % höheren Verbrauch aufweisen
als Kinder von 0 bis 5 Jahren (Rd.Nr. 74).

Tut nichts zur Sache. Das Gericht bescheinigt der Gleichsetzung des Bedarfs von 13-
Jährigen mit Säuglingen trotzdem im Nachhinein die Verfassungsmäßigkeit. Die Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben sei gewährleistet und es sei „nicht ersichtlich, dass der
Betrag von 207 Euro nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere
den Ernährungsbedarf, von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14.
Lebensjahres zu decken“ (Absatz-Nr. 156). Man verhungert also trotz der Kürzung nicht.
Danke. Mit einer weiteren Kürzung würden Kinder ebenfalls noch nicht verhungern. Geht
es bei der Ernährung wirklich nur um das physische Existenzminimum? Bedeutet die
Aberkennung des Wachstumsbedarfs aber nicht schon, dass das physisch Notwendige,
nämlich der notwendige Kalorienbedarf, nicht gedeckt ist? Und der beträgt bei 7- bis 13-
Jährigen Kindern im Durchschnitt 2.042 kcal, während 0 bis 6-Jährige im Durchschnitt nur
1.250 kcal brauchen.

All das ist Eiertanz in Perfektion. Die Kritik an Hartz IV wird von den flexiblen Richtern sehr
wohl registriert. Sie kann aber rein gar nichts an ihrer Grundauffassung ändern, dass die
Höhe des Regelsatzes in Geld, egal, wie willkürlich er festgesetzt wurde, trotzdem mit dem
Grundgesetz übereinstimmt. Hier macht sich bemerkbar, dass die ProfessorInnen, die von
den Parteien des Bundestags und Bundesrats in das Bundesverfassungsgericht gewählt
wurden, sich durchaus ihrer Verantwortung gegenüber ihren Wählern bewusst sind. Sie
nehmen Kritik auf und stellen gleichzeitig fest, dass aber trotzdem die Leistungen nicht zu
niedrig sind.

Alles ist möglich, man muss es nur besser begründen
Als verfassungswidrig wird nur das Verfahren zur Festsetzung der Regelsätze betrachtet
(Rd.Nr. 210), nicht die Höhe der Regelsätze selbst. „Schätzungen 'ins Blaue hinein' laufen
… einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen
Art. 1 Abs. 1 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG“ (Rd.Nr. 171) Wenn die Höhe der Regelsätze
dem Hohen Gericht nach verfassungsgemäß ist, muss man demnach also nur die Höhe
der Regelsätze „nachvollziehbar begründen“ (Rd.Nr. 171), um der Menschenwürde und
dem Sozialstaatsprinzip genüge zu tun.

Die Bundesregierung ist also trotz verfassungswidriger Methoden der
Regelsatzbemessung zu durchaus verfassungsgemäßen Bemessungen der Regelsätze
gekommen. Man muss schon Professor sein, um das Interesse an der Aufrechterhaltung
des unhaltbaren bestehenden Zustandes von Hartz IV so klug zu begründen, dass
möglichst viele Menschen dennoch meinen, es würde sich etwas ganz Bedeutsames
ändern. Hätten sie diese Fähigkeit nicht, wären sie von den Parteien, die Hartz IV
beschlossen haben, wohl auch nicht für diese Funktion vorgeschlagen und gewählt
worden.

Was halten die Richter beim Eckregelsatz nicht für nachvollziehbar begründet?
a) Bei der Festsetzung des Regelsatzes von 345 Euro auf der Basis der EVS 1998 wurden
Abschläge vorgenommen, z.B. für Pelzmäntel, Sportboote und Segelflugzeuge, obwohl
gar nicht festgestanden hätte, dass das unterste Quintil der Einpersonen-Haushalte der
EVS solche Ausgaben überhaupt getätigt hat (Rd.Nr. 175). Ein lustiges Eingeständnis. Die
Sache ist aber „verjährt“. Sie hat sich erledigt, weil die Bundesregierung bei der
Auswertung der EVS 2003 darauf verzichtet hat.

b) Das Gericht kritisiert, dass bei den Stromkosten der Abschlag von 15 % (oder 3,84
Euro) für Strom, der auf Heizung entfällt, nicht empirisch belegt sei. Das Gericht vermutet
zwar, dass diese Kürzung „dem Grunde nach vertretbar“ sei, verlangt aber dafür eine
empirische Untermauerung. Das Gericht stört sich nicht daran, dass die im Regelsatz
anerkannten Stromkosten heute erheblich niedriger sind als 1998, obwohl die Strompreise
um mehr als ein Drittel gestiegen sind.

c) Das Gericht kritisiert, dass bei der Auswertung der EVS 1998 beim Posten Ersatzteile
und Zubehör für Privatfahrzeuge in Höhe von 1,69 Euro ein Abschlag von 80 % für
Ersatzteile usw. von Kfz vorgenommen worden sei und hält das nicht für nachvollziehbar.
Die Sache hat sich jedoch erledigt, weil die Bundesregierung in der Auswertung der EVS
2003 die entsprechenden Kosten für Fahrräder gesondert ermittelt hat. Das Gericht stört
sich jedoch nicht an dem 2006 auf monatlich 11,27 € gesunkenen Betrag für öffentlichen
Nahverkehr.

d) Das Gericht kritisiert, dass die Nicht-Anerkennung von Bildungsausgaben nicht
begründet worden sei, legt aber nahe, dass das Problem mit einer (noch fehlenden)
„Wertungsentscheidung“, dass „diese Ausgaben nicht zur Sicherung des
Existenzminimums erforderlich“ seien, behebbar sei (Rd.Nr. 179 cc). Das wäre auch nicht
schwer, weil der Betrag von 5,95 € (EVS 2003) überwiegend der Bezahlung von Studienund
Prüfungsgebühren an Schulen und Universitäten dient und ferner für Kursgebühren
aufgewandt wurde.

e) Das Gericht bemängelt auch, dass die Position „Außerschulischer Untericht in Sport
und musischen Fächern“ in Höhe von 0,75 € ohne Begründung unter den Tisch gefallen
sei. Die Begründung könnte aber wie bei d) nachgereicht werden.

Weil also die Transparenz der Regelsatzbemessung in diesen nebensächlichen Fragen
verletzt worden sei, sei das Verfahren zur Festsetzung des Eckregelsatzes
verfassungswidrig. Die schallende Ohrfeige, die viele gehört haben wollen, entpuppt sich
als sanftes Streicheln mit furchterregendem juristischem Theaterdonner, um ein
vertrauensseliges Publikum zu begeistern. Die Aufgabe, den Eckregelsatz in dieser
Hinsicht wieder mit der Menschenwürde in Übereinstimmung zu bringen, wird die
Bundesregierung mit Bravour lösen.

Was hält das Bundesverfassungsgericht bei den Kinderregelsätzen nicht für
nachvollziehbar begründet?

Wenn der Eckregelsatz von jetzt 359 Euro nicht verfassungsgemäß begründet ist, können
es natürlich auch die Kinderregelsätze nicht sein.

Zudem seien Kinder keine „kleinen Erwachsenen“ mit jeweils 60, 70 oder 80-prozentigen
Ausgaben von Erwachsenen. Die Kinderregelsätze seien „freihändig“ festgesetzt. Das ist
nur auf der Oberfläche richtig, trifft aber den Kern nicht, denn die Prozentsätze habe ihren
Ursprung in Warenkörben für Kinder verschiedener Altersstufen aus den 1970er Jahren,
deren Ergebnis ins Verhältnis zum Eckregelsatz gesetzt wurde. Die differenzierten
Altersabstufungen und ursprünglich ermittelten Prozentsätze wurden allerdings im Laufe
der Zeit immer mehr zusammengekürzt, mit Ausnahme des Regelsatzes der
Vorschulkinder. In allen früheren Untersuchungen wurde der Wachstumsbedarf von
Kindern ab dem Schulalter und der Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren grundsätzlich
anerkannt. Hartz IV machte damit Schluss. Das BverfG rechtfertigt das als
verfassungsgemäß.

Dass die vom Gericht favorisierte Methode der Festsetzung des Kindesbedarfs zu einer
Erhöhung der Kinderregelsätze führt, ist nicht ersichtlich. Die Sonderauswertung der EVS
2003 nach dem vom Gericht befürworteten Verfahren ist von der Bundesregierung Ende
2008 schon vorgenommen worden. Sie ergab, dass mit Ausnahme der Beträge für Kinder
zwischen 6 und 13 Jahren die Regelsätze für Kinder eher zu hoch als zu niedrig gewesen
seien. „Die Sonderauswertung habe bestätigt, dass die Höhe der Regelsätze für die bisher
im Gesetz vorgegebenen beiden Altersstufen mehr als ausreichend sei. Als weiteres
Resultat habe sich aber ergeben, dass Kinder von 6 bis 13 Jahren einen höheren
Verbrauch aufweisen würden, als ihn die Regelsatzverordnung berücksichtigt. Ursache
des ab dem 7. Lebensjahr eintretenden erhöhten Konsums dürfte vor allem der
Schulbesuch sein. Daraus ergebe sich ein Verbrauch nach der Regelsatzverordnung für
Kinder von 0 bis 5 Jahren in Höhe von 191,23 Euro, für Kinder von 6 bis 13 Jahren ein
Umfang von 240 Euro und für Kinder von 14 bis 17 Jahren in Höhe von 257,66 Euro. Der
signifikante Unterschied zwischen den Altersstufen 0 bis 5 Jahre und 6 bis 13 Jahre habe
den Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Altersstufe nach § 74 SGB II veranlasst.“
(Rd.Nr. 74)

Die Regelsätze von 2008 aber betrugen 211 Euro für alle Kinder unter 14 und 281 Euro für
Jugendliche von 14 bis 17 Jahren. Der Regelsatz für 6 bis 13-Jährige beträgt nach der
teilweise Rücknahme seiner Kürzung ab 1.7.2009 251 Euro. So sehr also die angeblich
freihändigen Prozentsätze für „kleine Erwachsene“ beklagt werden, sie sind heute (nach
der erzwungenen Rücknahme einer Regelsatzkürzung) höher, als wenn der
„Kindesbedarf“ nach Maßgabe der Sonderauswertung der EVS 2003 transparent und
nachvollziehbar berechnet würde. Da könnten einem die alten, noch irgendwie an den
früheren Warenkörben hängenden Kinderregelsätze fast noch lieber sein.

Die Richter kritisieren heftig, dass die Sonderauswertung nicht schon bei der Einführung
von Hartz IV, und auch nicht bei der Auswertung der EVS 2003 durchgeführt worden ist
(Rd.Nr. 198). Dann hätte die Bundesregierung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Die Regelsätze hätten niedriger ausfallen können und trotzdem wäre „im Interesse der
Kinder“ ihr Bedarf eigenständig, nachvollziehbar und menschenwürdig ermittelt worden.
Ein verfassungsmäßiges Verfahren würde demnach eher zu einer Senkung der
Kinderregelsätze führen als ein verfassungswidriges. Die Regelsätze wären geringer, aber
dafür wenigstens „realitätsgerecht“ (Rd.Nr. 198). Die Richter machen auch einen
Vorschlag, wie man der potentiellen Senkung entgegenwirken kann. Sie fordern, dass der
Schulbedarf, der bisher mit umgerechnet 8,33 € in einem Schulbedarfspaket außerhalb
des Regelbedarfs enthalten ist, in den Regelsatz von Schulkindern aufgenommen wird,
weil er zum Existenzminimum gehöre. Allerdings müsse auch er empirisch begründet
werden. Das bedeutet, dass er auch niedriger sein kann als die jetzige Summe, die
immerhin eine Verdopplung gegenüber der früheren Sozialhilfe darstellt.

Auf Grund der EVS mögliche Regelsatzsenkungen sind verfassungsgemäß
„Das nach § 28 Abs. 3 SGB XII und § 2 Regelsatzverordnung 2005 maßgebliche
Statistikmodell ist eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur
realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine alleinstehende Person“
(Rd.Nr. 162).

Das Existenzminimum hängt also nicht von einer eigenständigen Festsetzung des Bedarfs
ab, sondern davon, wie viel die untersten Verbrauchergruppen von ihrem Einkommen
ausgeben können. Die untersten Verbrauchergruppen jedoch bestehen zu einem
bedeutenden Teil aus RentnerInnen über 65 Jahren, deren regelsatzrelevante Ausgaben
erheblich niedriger sind als die von Personen unter 65 Jahren. Auch dieser Zustand ist
verfassungsgemäß.

Es ist auch verfassungsgemäß, die Ausgaben nur mit Abschlägen als relevant für den
Eckregelsatz anzuerkennen (Rd.Nr. 170). Wenn also die Ausgaben für Nahrungsmittel und
nicht-alkoholische Getränke 3,94 € pro Tag sind, ist das verfassungsgemäß, weil das
Verfahren verfassungsgemäß ist. Wenn die Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel nur
knapp 40 Cent pro Tag betragen, ist das verfassungsgemäß.

Es ist auch verfassungsgemäß, wenn Ausgaben für „Mobilfunk“ nicht relevant für den
Regelsatz sind oder „Verzehr außer Haus“ nicht als notwendig betrachtet und nur mit dem
Nahrungsmittelanteil anerkannt wird, den man hätte, wenn man zu Hause „einkehren“ und
verzehren würde.

Das soziokulturelle Existenzminimum von Ausgaben des unteren Einkommensfünftels
abhängig zu machen, bedeutet, dass sinkende Einkommen zu sinkenden Ausgaben und
von daher zu sinkenden Regelsätzen führen müssen. Es sei denn, man erkennt höhere
Prozentsätze der gesunkenen Verbrauchsausgaben an. Die Einkommen der untersten
Verbrauchergruppen sind schon in der EVS 2003 gegenüber der EVS 1998 gefallen. Nurden Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Altersstufe nach § 74 SGB II veranlasst.“
(Rd.Nr. 74)

Die Regelsätze von 2008 aber betrugen 211 Euro für alle Kinder unter 14 und 281 Euro für
Jugendliche von 14 bis 17 Jahren. Der Regelsatz für 6 bis 13-Jährige beträgt nach der
teilweise Rücknahme seiner Kürzung ab 1.7.2009 251 Euro. So sehr also die angeblich
freihändigen Prozentsätze für „kleine Erwachsene“ beklagt werden, sie sind heute (nach
der erzwungenen Rücknahme einer Regelsatzkürzung) höher, als wenn der
„Kindesbedarf“ nach Maßgabe der Sonderauswertung der EVS 2003 transparent und
nachvollziehbar berechnet würde. Da könnten einem die alten, noch irgendwie an den
früheren Warenkörben hängenden Kinderregelsätze fast noch lieber sein.

Die Richter kritisieren heftig, dass die Sonderauswertung nicht schon bei der Einführung
von Hartz IV, und auch nicht bei der Auswertung der EVS 2003 durchgeführt worden ist
(Rd.Nr. 198). Dann hätte die Bundesregierung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Die Regelsätze hätten niedriger ausfallen können und trotzdem wäre „im Interesse der
Kinder“ ihr Bedarf eigenständig, nachvollziehbar und menschenwürdig ermittelt worden.
Ein verfassungsmäßiges Verfahren würde demnach eher zu einer Senkung der
Kinderregelsätze führen als ein verfassungswidriges. Die Regelsätze wären geringer, aber
dafür wenigstens „realitätsgerecht“ (Rd.Nr. 198). Die Richter machen auch einen
Vorschlag, wie man der potentiellen Senkung entgegenwirken kann. Sie fordern, dass der
Schulbedarf, der bisher mit umgerechnet 8,33 € in einem Schulbedarfspaket außerhalb
des Regelbedarfs enthalten ist, in den Regelsatz von Schulkindern aufgenommen wird,
weil er zum Existenzminimum gehöre. Allerdings müsse auch er empirisch begründet
werden. Das bedeutet, dass er auch niedriger sein kann als die jetzige Summe, die
immerhin eine Verdopplung gegenüber der früheren Sozialhilfe darstellt.

Auf Grund der EVS mögliche Regelsatzsenkungen sind verfassungsgemäß
„Das nach § 28 Abs. 3 SGB XII und § 2 Regelsatzverordnung 2005 maßgebliche
Statistikmodell ist eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur
realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine alleinstehende Person“
(Rd.Nr. 162).

Das Existenzminimum hängt also nicht von einer eigenständigen Festsetzung des Bedarfs
ab, sondern davon, wie viel die untersten Verbrauchergruppen von ihrem Einkommen
ausgeben können. Die untersten Verbrauchergruppen jedoch bestehen zu einem
bedeutenden Teil aus RentnerInnen über 65 Jahren, deren regelsatzrelevante Ausgaben
erheblich niedriger sind als die von Personen unter 65 Jahren. Auch dieser Zustand ist
verfassungsgemäß.

Es ist auch verfassungsgemäß, die Ausgaben nur mit Abschlägen als relevant für den
Eckregelsatz anzuerkennen (Rd.Nr. 170). Wenn also die Ausgaben für Nahrungsmittel und
nicht-alkoholische Getränke 3,94 € pro Tag sind, ist das verfassungsgemäß, weil das
Verfahren verfassungsgemäß ist. Wenn die Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel nur
knapp 40 Cent pro Tag betragen, ist das verfassungsgemäß.

Es ist auch verfassungsgemäß, wenn Ausgaben für „Mobilfunk“ nicht relevant für den
Regelsatz sind oder „Verzehr außer Haus“ nicht als notwendig betrachtet und nur mit dem
Nahrungsmittelanteil anerkannt wird, den man hätte, wenn man zu Hause „einkehren“ und
verzehren würde.

Das soziokulturelle Existenzminimum von Ausgaben des unteren Einkommensfünftels
abhängig zu machen, bedeutet, dass sinkende Einkommen zu sinkenden Ausgaben und
von daher zu sinkenden Regelsätzen führen müssen. Es sei denn, man erkennt höhere
Prozentsätze der gesunkenen Verbrauchsausgaben an. Die Einkommen der untersten
Verbrauchergruppen sind schon in der EVS 2003 gegenüber der EVS 1998 gefallen. Nur
weil die regelsatzrelevanten Prozentsätze der Verbrauchsausgaben angehoben wurden,
wurde eine Senkung - weil sie zur Zeit aus politischen Gründen nicht durchsetzbar schien
- vermieden. Die Einkommen der untersten Verbrauchergruppen könnten durchaus mit der
EVS 2008 weiter gefallen sein.

Die Anerkennung des heutigen Verfahrens zur Bemessung des Eckregelsatzes schließt
also die Zustimmung zu daraus folgenden Senkungen des Eckregelsatzes ein.
Die regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben schließen die Warmmiete aus. Wenn bei
tendenziell sinkenden Einkommen des unteren Einkommensfünftels die Kosten für
Unterkunft und Heizung steigen, fällt die Summe, die dieser Bezugsgruppe für die anderen
in den Regelsatz eingehenden Verbrauchsausgaben zur Verfügung steht. Daraus folgt
weiterer Druck auf die Senkung des Eckregelsatzes.

Die Verbrauchsausgaben der untersten Haushalte sind erheblich höher als ihr
Nettoeinkommen. Nach Angaben von Irene Becker betrugen die Verbrauchsausgaben der
Bezugsgruppe auf der Basis der EVS 2003 807,67 Euro, das Haushaltsnettoeinkommen
aber nur 730,96 Euro (a.a.O., 21). Die Bezugsgruppe gibt zehn Prozent mehr aus, als sie
Einkommen hat. Wenn die Möglichkeiten sinken, mit Schulden, Auflösung von
Barvermögen oder mit anderen Mitteln mehr auszugeben, als man Einnahmen hat, fallen
auch die Verbrauchsausgaben. Das erzeugt eine weitere Tendenz zur Senkung des
Eckregelsatzes.

Angesichts der heutigen krisenhaften Entwicklung der Wirtschaft sind also mit der EVS
Senkungen des offiziellen Existenzminimums möglich.
„Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, aus der sich … der Eckregelsatz ableitet,
liefert eine realitätsnahe Ermittlungsgrundlage“ ((Rd.Nr. 167) Indem das
Verfassungsgericht die EVS als verfassungsgemäß begrüßt, legitimiert sie in der Zukunft
mögliche Regelsatzsenkungen.

Positives?
Zweifellos ist der Rentenwert als Maßstab für die jährliche Fortschreibung der Regelsätze
ungeeignet. Er widerspricht auch der gesetzlichen Vorgabe, Nettoeinkommen,
Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen. Das Gericht hält
deshalb nur die Preisentwicklung der im Regelsatz anerkannten Ausgaben als Maßstab für
die Fortentwicklung des Eckregelsatzes für tauglich. Dadurch würde der Bezug zum
Nettoeinkommen (der Bezugsgruppe), den Verbrauchsausgaben (der Bezugsgruppe) und
den Lebenshaltungskosten (der Bezugsgruppe) hergestellt. Die Abschaffung des
Rentenwerts als Methode der Fortschreibung wirkt der Tendenz, die Regelsätze zu
senken, entgegen und erscheint, so betrachtet, als positiv.

Positiv ist auch die Anerkennung wenigstens von atypischen dauernden Bedarfen.
Positiv ist aber vor allem, dass die öffentliche Diskussion eher über Erhöhungen des
Eckregelsatz und der Kinderregelsätze geht als über Senkungen. Das ist jedoch nicht das
Verdienst des Gerichts. Es ist das Verdienst der Ausdauer der Hartz IV beziehenden
Kläger, die lange Jahre für eine Erhöhung der Regelsätze gekämpft haben. Allerdings wird
das Urteil falsch verstanden, wenn man es als Urteil auffasst, das sich gegen Senkungen
der Regelsätze ausspricht.

Positiv ist, dass über die Höhe des Existenzminimums diskutiert wird und trotz der
Faulheitskampagne (keiner will mehr arbeiten), sich die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung für eine Erhöhung der Regelsätze ausspricht. In einer repräsentativen Forsa-
Umfrage im Auftrag des Stern erklärten 61 %, die Regelsätze seien zu niedrig und nur 4
% schätzten sie als zu hoch ein (http://www.news.de/politik/855043629/wieviel-ist-ein-kindwert/
1/).

Schluss
Insgesamt verdient es das Urteil nicht, begrüßt zu werden. Es greift zwar Kritik teilweise
auf, wendet die Sache aber so, dass der bestehende Zustand gerechtfertigt wird. Er soll
nur besser „kommuniziert“ werden. Die hauptsächliche Wirkung des Urteils besteht darin,
der Kritik an Hartz IV das Wasser abzugraben, ohne dass es etwas kostet. Die Wirkung
besteht darin, die soziale Bewegung auf das Bundesverfassungsgericht auszurichten und
die angeblich wunderbaren Auswirkungen für arme Leute, die sein Urteil haben würde.
Angesichts der eigenen Schwäche erträumen sich viele, dass die acht von den Hartz-IVParteien
bestellten Professoren des BverfG es für sie richten würden.

Medienkonzerne und Hartz-IV-Parteien haben diese Hoffnungen geschürt, indem sie die
Milliarden Euro an die Wand malten, die möglicherweise aufgrund des Urteils auf sie
zukämen. Die allseits geschürten Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht
erschweren das selbstständige Auftreten der LohnarbeiterInnen, seien sie erwerbslos oder
beschäftigt. Sie bekommen hier nicht das Recht, das ihnen nützen würde. Deshalb sind
jetzt nicht Hoffnungen auf die Umsetzung dieses Hartz IV-Verteidigungsurteils angesagt,
sondern die verstärkte Kampagne für die eigenen Forderungen.

Die Antwort auf Karlsruhe müsste sein, die Kampagne für mindestens 500 Euro
Eckregelsatz und zehn Euro Mindestlohn tatkräftig zu unterstützen. Sie ist vom
Aktionsbündnis Sozialproteste, dem Erwerbslosen Forum Deutschland, dem Rhein-Main-
Bündnis, der Sozialen Bewegung Land Brandenburg und Tacheles in Leben gerufen
worden und hat zahlreiche Unterstützer gefunden (www.500-euro-eckregelsatz.de/). 6.400
Unterschriften unter die Forderungen bis jetzt sind aber zu wenig. Man kann online
unterschreiben (http://www.500-euro-eckregelsatz.de/unterzeichner.html). Man kann das
Flugblatt kostenlos bestellen (info@klartext-info.de) und sich über eine Broschüre „Hartz
IV-Fördern durch Mangelernährung“ darüber informieren, warum der Eckregelsatz auf
mindestens 500 Euro erhöht werden muss. Die Broschüre kostet nur einen Euro plus
Porto (bestellen über info@klartext-info.de). Das Thema 500 Euro Eckregelsatz und der
entsprechenden Steigerung der Kinderregelsätze muss unser Thema sein, und nicht die
Bejubelung einer massiven Rechtfertigung von Hartz IV mit juristischen Wortblasen, die
als„schallende Ohrfeige“ und „vernichtend“ mißverstanden werden können.

Die Forderung nach mindestens 500 Euro Eckregelsatz und 10 Euro Mindestlohn muss in
den Demonstrationen des Bündnisses „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ am 20. März
deutlicher zu hören sein. Wir sollten uns nur auf uns selbst verlassen. Falsche Hoffnung
auf das Urteil des Verfassungsgerichts untergraben die notwendigen eigenen Aktivitäten.

Frankfurt, den 13. Februar 2010

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