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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2010
Armut hat viele Gesichter
von Gisela Notz

Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer zahlreicher. Jeder achte Mensch in der Bundesrepublik lebt an der Armutsgrenze, ohne staatliche Leistungen wäre es jeder vierte. Armut trifft längst auch die Mittelschichten und Menschen, die den ganzen Tag einer Erwerbsarbeit nachgehen. Dafür liegt Deutschland weltweit auf Platz 3 der Liste der Milliardäre.
«Die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung lebt unter dem Lebensstandard, den das Wirtschaftswachstum ermöglicht hätte», das zeigt der Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV). Besonders betroffen sind Bezieher von Arbeitslosengeld II und Grundsicherung (im Alter und bei voller Erwerbsminderung), Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Alleinlebende, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund: Unter all diesen Gruppen sind besonders viele Frauen.

Bei der Betrachtung der Armutsquoten der 16 Bundesländer springt ins Auge, dass die ostdeutschen Länder ärmer dran sind als die westdeutschen. Leider thematisieren die Armutsberichte kaum die Zusammenhänge von Armut, Geschlecht, ethnischer Herkunft und Familienform.

Der 3.Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung basiert auf dem Anspruch, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen zur Verfügung stehen sollten. Die Armutsschwelle ist, EU-Kriterien folgend, auf 60% des statistischen mittleren Einkommens festgelegt. Der Armutsatlas des DPWV folgt dieser Definition ebenfalls.

Der Bericht der Bundesregierung begreift Armut als individuelles Schicksal, denn er verweist auf «Bewältigungskompetenzen». Das ist einem funktionierendem Sozialstaat unangemessen. Denn er müsste die Infrastruktur zur Verfügung stellen, die zum Einsatz von «Bewältigungskompetenzen» notwendig ist. Kein Wunder, dass der Wandel von Wirtschaft und Beschäftigung als ein unentrinnbares Schicksal dargestellt wird, auf das man politisch gar keinen Einfluss nehmen kann.

Frauenarmut
In Deutschland liegt die «Armutsrisikoquote» (der Anteil der Personen im Haushalt, deren «bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen» weniger als 60% des Mittelwerts aller Personen beträgt) zwischen 13 und 18% der Bevölkerung. Hinter den statistischen Zahlen stehen viele Einzelschicksale. Armut hat viele Gesichter, Kindergesichter, junge, alte, schwarze und weiße Gesichter; vor allem Frauengesichter. Frauen sind in den Risikogruppen nicht nur überproportional anzutreffen sind (14,5% gegenüber 11,4% Männer), Frauen sind auch meist diejenigen, die in den Familien mit dem wenigen Geld wirtschaften müssen.

Die Tatsache, dass Frauen besonders von Armut betroffen sind, resultiert aus der herrschenden Arbeitsteilung, aus der ungleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen und aus den großen Unterschieden in der Bewertung der bezahlt geleisteten Arbeit.

Im Gegensatz zu skandinavischen Ländern wird hierzulande soziale Ungleichheit üblicherweise nach dem Haushaltsansatz gemessen - Frauen werden als Anhängsel von Männern gesehen. Das heißt, es wird angenommen, dass Haushalt und Familie einheitliche Gebilde darstellen, in denen Menschen zusammen wirtschaften und allen Familienmitglieder gleiche Lebenschancen ermöglichen. Ehegattensplitting und die Bedarfsgemeinschaften nach Hartz IV schreiben die Abhängigkeit vom «Familienernährer» fest.

Das Recht auf eigenständige Existenzsicherung für Frauen hat sich, trotz Gleichstellungsgebot im Grundgesetz und trotz Gender Mainstreaming, in der BRD nicht wirklich durchgesetzt. Reichtum und Armut vererben sich, das belegen viele Studien. Armut macht krank, und Krankheit macht arm. Ein monetäres Armutsrisiko halbiert die Chance auf einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand. Frauen in der niedrigsten Berufsgruppe sind fast fünfmal häufiger gesundheitlich beeinträchtigt als Frauen in der höchsten Berufsgruppe. Gesunde Ernährung, das beweisen Studien, ist weder für Erwachsene noch für Kinder mit den derzeitigen Regelsätzen möglich.

Kinderarmut
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko. Diese Tatsache wird zu Recht skandalisiert. Kinder sind aber nicht arm, weil sie selbst kein Geld verdienen, sondern weil die Eltern erwerbslos sind oder weil sie zu den working poor gehören - die arm sind trotz Arbeit.

Seit 1995 geht die Zahl der offenen Lehrstellen kontinuierlich zurück. Obwohl junge Frauen gleich gute und sogar bessere Schulabschlüsse haben als Jungen, sind zwei Drittel aller Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz Mädchen. Nach der Ausbildung sind sie viermal so oft erwerbslos wie Jungen. Die Erwerbslosenquote ist bei Menschen ohne Ausbildung sechsmal so hoch wie bei denen, die einen akademischen Abschluss vorweisen können.

Schon ein Jahr nach der Ausbildung verdienen Mädchen 19% weniger als Jungen. Nicht erst bei der Berufswahl werden junge Frauen auf die «Alternativrolle» in der Familie oder auf Ausbildungsplätze in der Hauswirtschaft hingewiesen; oft nehmen sie sie an, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt.

Abweichung von der Norm
Obwohl Menschen heute angeblich aus einer Vielzahl von Lebensformen wählen können, führt ein Abweichen von der «Normalbiografie» - Ehe und festgelegte Geschlechtsrollen - oft zu Armut. Einen einschneidenden Armutssprung zeigen Haushalte mit drei und mehr Kindern sowie Haushalte von Alleinerziehenden - hier liegt das Armutsrisiko über 20% im Westen und bis über 40% im Osten. Mehr als 2 Millionen Kinder unter 18 Jahren leben in Deutschland in alleinerziehenden Familien, das entspricht einem Anteil von 18% an allen Familien.

Neun Zehntel aller Alleinerziehenden sind Frauen. Von den Müttern aus «normalbesetzten» Familien unterscheiden sie sich nicht, außer dass sie häufiger berufstätig sind. Die Hälfte aller Einelternfamilien hat monatlich weniger als 945 Euro zur Verfügung. 40% aller alleinerziehenden Mütter leben von Hartz IV. Fast jeder zweite Hartz-IV-Haushalt mit Kindern ist eine Einelternfamilie.

Gemessen an der Erwerbslosenquote sind Menschen ausländischer Herkunft in der BRD doppelt so stark von Erwerbslosigkeit und damit auch vom Armutsrisiko betroffen wie die Gesamtbevölkerung. Arm sind vor allem Migrantinnen, weil sie immer noch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Auch die Zahl der wohnungslosen Frauen nimmt zu.

Arm trotz Arbeit
Dort, wo Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen, verdienen sie selbst auf gut bezahlten Arbeitsplätzen durchschnittlich etwa 25-30% weniger als Männer. Viele vollzeitarbeitende Frauen können von ihrem Lohn nicht leben. 70% der Beschäftigten mit Niedriglöhnen sind weiblich. Die Mindestlohndebatte ist eigentlich ein Frauenthema.

Den Armutsrisiken sind vor allem Frauen in atypischen, «ungeschützten» oder prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgesetzt. In vielen Bereichen mit «typischen Frauenarbeitsplätzen» sind diese zur «Normalarbeit» geworden: 90% der «personenbezogenen Dienstleistungen» sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ebenso zahlreiche (Frauen-)Arbeitsplätze im Einzelhandel, die Beschäftigung der «kleinen Selbstständigen» und andere.

Dass Kindererziehungszeiten oft Armutsfallen sind, ist bekannt. Das gleiche gilt aber auch für die Übernahme von Pflegeleistungen. Das Ausmaß der Pflege, die zu Hause geleistet wird, übersteigt mit rund 70% bei weitem das Ausmaß der Pflege, die in Heimen geleistet wird. 80% aller pflegenden Angehörigen sind Frauen (Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen und Mütter). Die Niedrigentlohnten von heute sind die armen Alten von morgen, und die werden zahlreicher; auch unter ihnen bilden Frauen die größte Gruppe.

Armutsbekämpfung
Für die Bekämpfung der Armut reicht weder die Austeilung der Armensuppe noch die Einrichtung von Tafeln mit abgelaufenen Lebensmitteln. Es wird notwendig, den Mechanismen nachzuspüren, die die zunehmende Ungerechtigkeit bewirken, und daraus echte Reformansätze zu entwickeln:

- Wenn die Zahl derjenigen, die «arm trotz Arbeit» sind, größer wird, brauchen wir dringend Mindestlöhne. Die flächendeckende Einführung derselben ist bisher am Widerstand der konservativen Parteien gescheitert;
- Wenn Armut vor allem mit Erwerbslosigkeit zu tun hat, wird eine Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen (bezahlt und unbezahlt geleisteten Arbeit) ebenso notwendig wie eine Umverteilung des Reichtums durch eine Steuerpolitik, die Unternehmen, hohe Einkommen und Vermögen stärker belastet;
- Wenn Armut mit Abweichung von der «Normalfamilie» zu tun hat, wird es dringend notwendig, dass alle Lebensformen gleiches Recht und gleiche Existenzbedingungen genießen;
- Wenn Bildung ein Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe ist, muss das Schulsystem durchlässig gestaltet werden, pädagogisch wertvolle Ganztagskindertagesstätten müssen für Kinder aller Altersgruppen bereitgestellt, das bisherige selektierende Schul- und Hochschulsystem umgebaut werden.

Widerstand wird notwendig. (Auch) Frauen sind nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern handelnde Subjekte.

Quellen
Lebenslagen in Deutschland. 3.Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2008;
Unter unseren Verhältnissen… Der erste Armutsatlas für Regionen in Deutschland (Hg. DPWV), Berlin 2009.

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