Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2010
Ehrwürdiger großer Bruder
von Stefan Collini

Vor 50 Jahren, im Januar/Februar 1960, erschien in Großbritannien die erste Ausgabe von New Left Review. Die Zeitschrift wurde schnell eine der einflussreichsten Publikationen der Neuen Linken Großbritanniens

und schließlich, unter den Herausgebern Robin Blackburn und Perry Anderson, ein Diskussionsforum des «westlichen Marxismus» und die wichtigste politisch unabhängige Zeitschrift der internationalen marxistischen Linken. Im Folgenden veröffentlichen wir, hier gekürzt, die in der britischen Tageszeitung Guardian erschienene Würdigung.

Keine Geburtstagsfeier, keine Luftballons - das hätte den Beigeschmack von konsum-orientiertem Pseudooptimismus.

Es fällt schwer, sich nicht von New Left Review einschüchtern zu lassen. Bisweilen scheint die Zeitschrift auf unsere Unzulänglichkeit abzuzielen. Für viele Leser des Guardian (und andere) ist sie eine Art großer Bruder, zu dem wir aufblicken können, ein Bruder der ernsthafter ist, besser informiert, weitgereister, stärker und unersetzlich. Mitunter mag er wohl etwas ehrwürdig sein und immer dann, wenn der Kontakt loser war, schien das Leben einfacher zu sein. Dann trafen wir uns wieder, und es war und bleibt stets Respekt auf den ersten Blick.

Aber auch ältere Brüder durchlebten bewegtere Zeiten in ihrer Jugend. Fehlgeleiteter Enthusiasmus, gescheiterte Beziehungen, launenhaftes Verhalten. So erinnern sich wohl einige Leser noch an den sektenhaften Purismus, die Theorielastigkeit und die halsstarrige Borniertheit. Die NLR hat in den 50 Jahren mehrmals ihre Identität verändert, und die Erinnerung an so manche der früheren Phasen behindert womöglich die Versuche der letzten Jahre, eine breitere Leserschaft anzusprechen. Die NLR hat auf unbeugsame Weise auf die massiven Umwälzungen des Weltgeschehens reagiert und eine ganzes Spektrum von Ideen verbreitet – nicht nur bei denen, die das besondere Verständnis von Marxismus teilen.

Die Geschichte der NLR kann zwar nicht auf eine Formel reduziert werden, man kann jedoch feststellen, dass sie begonnen wurde in der Hoffnung, organisierte Massenströmungen zu fördern, und dann zu einem emphatischen theoretischen Unterfangen wurde - versehen mit gewissen leninistischen und trotzkistischen Sehnsüchten. In den 80er Jahren definierte es seine intellektuelle Aufgabe etwas breiter, und seit 2000 ist es ein «journal of ideas», eine «Ideenschrift», immer noch links, jedoch distanziert von radikalen Bewegungen der Gegenwart bzw. elaborierten Theorien für die Zukunft.

In England gab es nur wenige Vorbilder. Am ehesten stand Jean-Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes Pate sowie eine idealisierte Vorstellung vom intellektuellen Leben im Paris der 50er Jahre. So nimmt NLR zwar Philosophie und Film sehr ernst, andere Kunstformen oder Populärkultur kommen aber erst lange danach.
Obwohl es von Zeit zu Zeit Veränderungen im Redaktionsteam gab, so ist doch die Kerngruppe um die 70 Jahre alt, sie alle erlebten ihre prägenden Jahre zwischen 1958 und 1968. Die Jubiläumsausgabe vereint etliche langjährige Autoren: Tariq Ali, Perry Anderson, Robin Blackburn, Mike Davis. Daneben finden sich Interviews bzw. erneute Abdrucke von Texten so wichtiger linker Persönlichkeiten wie Eric Hobsbawm und Stuart Hall. All das zeugt von auffallender Kontinuität. Anderson und Blackburn, die die junge Gruppe anführten, die ab 1962 mit Ali und Davis die Zeitschrift übernahm, waren seitdem ständig oder immer wieder Mitglieder der Redaktion. Anderson war von 1962 bis 1983 Herausgeber (die Redaktion hatte stets den Anspruch, als Kollektiv zu agieren, daher war es immer schwierig von außen festzustellen, wie die Aufgabenteilung zwischen Herausgeber und Redaktion funktionierte).

Blackburn übernahm die Zeitschrift bis 1999, danach wurde eine neue Ära eingeleitet - zunächst unter Andersons Leitung und ab 2003 unter Susan Watkins. Genaue Auflagenzahlen sind schwer zu bekommen, die zweimonatlich erscheinende NLR verkauft wohl so um die 10000 Exemplare. Die Finanzierung bleibt mysteriös, man munkelt, dass die NLR vom ererbten Reichtum der Anderson-Familie unterstützt wird.

Die personellen Kontinuitäten verstellen jedoch den Blick auf so manch dramatische Verschiebungen und Veränderungen in der Zeitschrift. 1960 entstand sie durch die Vereinigung von Universities and Left Review und New Reasoner. Kurze Zeit war die NLR Teil einer breiteren Bewegung, nach 1962 verstand sie sich jedoch als theoretischer Wegbereiter der «Revolution». Eine ihrer wesentlichen Verdienste war die Verbreitung europäischer Ideen, insbesonders die reiche Tradition des hegelianischen Marxismus, aber auch Soziologie und Psychoanalyse. 1970 wurde ein Verlag gegründet, New Left Books, der später zu Verso wurde. Dadurch wurden viele klassische Werke europäischer Theorie ins Englische übersetzt. Wichtige Theoretiker waren etablierte sozialistische Denker wie Isaac Deutscher und Raymond Williams, eine Zeitlang war der belgische Ökonom Ernest Mandel sehr einflussreich und bisweilen wandte man sich verstärkt den Ideen Antonio Gramscis und Louis Althussers zu.

Im Laufe der 80er Jahre musste die politische Vorstellungskraft der Linken erneuert werden, um den dramatischen Veränderungen am Ende des Jahrzehnts, dem Ende des «real existierenden Sozialismus», gerecht zu werden. Die 80er und 90er Jahre waren von Unruhe und Rücktritten in der Zeitschrift geprägt sowie von den Versuchen, Themen wie Feminismus und Umweltschutz aufzugreifen. Eine Konstante war das Anprangern des «American empire», insbesondere die sog. humanitären Kriege der 90er Jahre, eine andere waren die Versuche, das globale Wirken der neuen Formen des Kapitalismus aufzudecken. Die Frage, was es bedeutet, einer «sozialistischen Zukunft» verpflichtet zu sein, wurde dringlicher und trug zu einem grundsätzlicheren Hinterfragen der Aufgaben der Zeitschrift bei. Die Nummer 238, die Ende 1999 erschien, war die letzte der alten New Left Review. Die erste Ausgabe der neuen Fassung erschien Anfang 2000 mit einem stark veränderten Layout, regelmäßigen Buchbesprechungen und namentlich gezeichneten Leitartikeln.

Einer dieser ersten Leitartikel war Perry Andersons strenge und schonungslose Analyse der Herausforderungen für die Linke am Beginn des neuen Jahrhunderts. Einige Leser waren geschockt von der Trostlosigkeit. «Der einzige Ausgangspunkt für eine realistische Linke heutzutage ist die klarsichtige Anerkennung der historischen Niederlage», lautet ein Satz daraus. Anderson befand, dass der Neoliberalismus auf der ganzen Welt triumphiert und es keine effiziente gegensteuernde Kraft gibt. Aber das, so war zwischen den Zeilen zu lesen, ist ein Anstoß, ein tieferes Verständnis der heute in Welt wirksamen Kräfte zu erlangen. Die Analyse war wohl trostlos, aber der Grundtenor war entschlossen: Die Leitlinie von NLR sollte die «Verweigerung jedweder Anbiederung an das herrschende System und jeder Unterschätzung seiner Macht» sein.

Obwohl New Left Review stets Gramscis Motto «Pessimismus des Verstands und Optimismus des Willens» hochhielt, so fanden doch viele Leser Andersons Leitartikel von 2000 zu pessimistisch. Französische Kritiker warfen ihm vor, die Dinge zu eng zu sehen, andere monierten, dass die weltweiten Protestbewegungen unterschätzt würden. Doch ein Jahrzehnt später erscheint sein Pessimismus kaum übertrieben.

Anderson kündigte auch eine weitere Veränderung der Zeitschrift an, nunmehr sollte es eine größere Bandbreite von Autoren geben. Eine Kritik daran lautete: «Die NLR ist ein virtueller Club für Intellektuelle aus aller Welt, statt sich die Hände bei der Unterstützung lokaler Kämpfe schmutzig zu machen.» Doch das verkennt, was eine fortschrittliche Ideenzeitschrift leisten kann. Zweifellos wirft ihre gegenwärtige Ausrichtung die Frage auf, was die Orientierung einer «linken» Zeitschrift sein soll, wenn sie keine konstruktive Partnerschafte mit radikalen oder progressiven Bewegungen eingeht.

Im Leitartikel der Jubiläumsausgabe unternimmt Susan Watkins erneut eine Bestandsaufnahme. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Kollaps der Finanzwelt 2008. Bislang, so Watkins, gab es keinen Zusammenbruch des Kapitalismus, eher Anpassung als Apokalypse. Zudem hat die Erschütterung des Finanzsystems nur sehr wenig politischen Aufruhr oder Rebellion hervorgerufen.

Was kann man also tun? Und was «Linkes» kann man tun? Sehr viel, wie es scheint. Es mag zwar kein «unmittelbares praktisches Projekt» geben, eine wichtige Aufgabe von NLR bleibt jedoch, «die Entwicklung des tatsächlich existierenden Kapitalismus zu beobachten». «Eine Priorität der Zeitschrift in den kommenden Jahren sollte eine neue Typologie der Entwicklungen im globalen Finanzzeitalter sein.» Zudem soll es eine «Kartografie des weltweit agierenden Proletariats» geben.

Manchem mag das wie eine Fortführung von Andersons «Anerkennung der Niederlage» erscheinen, ich finde jedoch die Verpflichtung zu Information und Verstehen bewundernswert. Watkins lässt sich fast zu Optimismus hinreißen, wenn sie schreibt: «Vielleicht macht die Tatsache, dass es kaum mehr ernsthafte linke Foren gibt, eine Zeitschrift wie New Left Review umso wertvoller.» Ein Forum also, ein Ort, an dem man sich trifft und diskutiert und auch unterschiedlicher Meinung sein kann. Diese Metapher beschreibt eine Distanz von politischer Aktivität sowie die Entfernung von hoffnungsvollen Anfängen der 60er Jahre. «Kann ein linkes intellektuelles Projekt darauf hoffen zu reüssieren, wenn es keine politische Bewegung gibt?», fragt Watkins und antwortet: «Das wird man sehen.»

In einer Zeit, in der so viele sog. «ernsthafte» Medien zu promi-getriebenen Luftblasen und zum Nachplappern von Presseaussendungen verkommen, brauchen wir mehr denn je ein Forum wie New Left Review. Sie ist auf der Höhe der Zeit, ohne nur journalistisch zu sein, ist gelehrt ohne die grassierende Zitiermanie, billiger Trost, aber zweifelsohne Respekt.

Aus: The Guardian (London), 13.2.2010 (Übersetzung: Angela Huemer).

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