von John Bellamy Foster
Es ist heute in der Wissenschaft allgemein anerkannt, dass die Menschheit weltweit auf einen ökologischen Kollaps zusteuert, wenn sie nicht schnell gegensteuert. Die globale ökologische Krise verschärft sich zusehends, und die Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, läuft uns davon. Hinzu kommt, dass die vorherrschenden Umweltstrategien auf ihre Weise die Probleme leugnen, da sie nur ihre begrenzten Ziele im Auge haben und deshalb zum Scheitern verurteilt sind.
Diese Tragik hat ihre Wurzeln in der Weigerung der Herrschenden, die ökologischen Probleme an der Wurzel zu packen - und die liegen in der kapitalistischen Produktion. Deshalb wird eine ökologische und soziale Revolution nötig.
Der Begriff «Krise», der dem globalen ökologischen Problem unvermeidlich anhaftet, ist etwas irreführend wegen seiner überwiegend ökonomischen Assoziationen. Seit 2008 machen wir eine Weltwirtschaftskrise durch - die schlimmste Rezession seit den 30er Jahren. Sie ist Quelle ungeheuren Leids für Hunderten Millionen, tatsächlich Milliarden von Menschen. Aber da sie an einen Wirtschaftszyklus und nicht an langfristige Faktoren gebunden ist, wird erwartet, dass sie vorübergeht und ein Ende findet, auf das dann eine Periode der wirtschaftlicher Erholung und neuen Wachstums folgen wird - bis zum Beginn der nächsten Krise. Der Kapitalismus ist so gesehen ein von Krisen erschüttertes, zyklisches Wirtschaftssystem. Selbst wenn wir weitergehen und zur Schlussfolgerung gelangen, dass die gegenwärtige Akkumulationskrise Teil einer langfristigen Stagnation ist, d.h. einer Verlangsamung des Wachstums über den bloßen Wirtschaftszyklus hinaus, würden wir sie als eine begrenzte, zeitlich einzuschränkende Katastrophe betrachten, die höchstens die Frage nach der Zukunft des derzeitigen Systems der Produktion aufwirft.
Wenn wir heute aber von einer weltweiten ökologischen Krise sprechen, beziehen wir uns auf etwas, dass sich als endgültig erweisen kann, d.h. es gibt, wenn wir nicht schnell den Kurs ändern, eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine finale Krise - ein Ende des gesamten Anthropozäns, der Periode der Herrschaft des Menschen auf dem Planeten. Menschliche Handlungen verursachen Umweltveränderungen, die die meisten Arten auf dem Planeten auszulöschen drohen, zusammen mit der Zivilisation und womöglich auch unserer eigenen Art.
Wir haben immer weniger Zeit
Was die aktuelle ökologische Lage so kritisch macht, ist die Tatsache, dass der Klimawandel, der seine Ursache in der von Menschen verursachten Zunahme von Treibhausgasemissionen hat, nicht graduell und in einem linearen Prozess verläuft, sondern eine gefährliche Beschleunigung erfährt, die abrupte Veränderungen im Zustand des Systems Erde anzeigt und bewirkt. Mit James Hansen, dem Leiter des Goddard Institute of Space Studies der NASA und weltweit bekanntesten Klimawissenschaftler, zu sprechen, können wir deshalb von «Umkipppunkten» reden, «die von Rückkopplungsschleifen verstärkt werden». Vier sich verstärkende Rückkopplungen sind aktuell bedeutsam:
1. das rasche Schmelzen des arktischen Eises und die daraus folgende Reduzierung der Reflexion der Sonneneinstrahlung, weil helles, reflektierenden Eis durch dunkleres, blaues Meerwasser ersetzt wird, was zu einer größeren Absorption von Sonnenenergie und zunehmenden globalen Durchschnittstemperaturen führt;
2. das Schmelzen der Permafrostböden der nördlichen Tundra, wobei das unter der Oberfläche festgehaltene Methan, ein mächtigeres Treibhausgas als Kohlendioxid, freigesetzt wird und die Erwärmung beschleunigt;
3. jüngste Anzeichen, dass die Fähigkeit der Ozeane zur Absorption von Kohlendioxid seit den 80er Jahren, und besonders seit 2000, wegen der zunehmenden Versauerung der Ozeane (infolge früherer Kohlenstoffabsorption) abgenommen hat, was zu einer schnelleren Kohlenstoffanreicherung in der Atmosphäre und zu verstärkter Erwärmung führt;
4. das Aussterben von Arten infolge veränderter Klimazonen, was zum Zusammenbruch von Ökosystemen führt, die von diesen Arten abhängen, und zum Aussterben weiterer Arten.
Wegen dieser Beschleunigung des Klimawandels ist die Zeitspanne, in der gehandelt werden muss, bevor die Katastrophe zuschlägt und der Klimawandel unserer Kontrolle entgleitet, extrem kurz. Im Oktober 2009 berichtete Luc Gnacadja, Sekretär der UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung, dass nach aktuellen Trends bis 2025 70% der Landoberfläche der Erde von Dürre betroffen sein werden, heute sind es 40%. Der Weltklimarat, IPCC, hat gewarnt, dass die Gletscher des Himalaya bis 2350 vollständig verschwinden könnten. Die von diesen Gletschern gespeisten Flüsse liefern Wasser für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Ihr Schmelzen wird zu gewaltigen Überschwemmungen führen, auf die akuter Wassermangel folgen wird.
Viele der mit den aktuellen Trends zur globalen Erwärmung verbundenen Gefahren sind wohlbekannt: Anstieg des Meeresspiegels und die Überflutung von Inseln und tiefliegenden Küstenregionen; Verlust von Tropenwäldern; Zerstörung von Korallenriffen; ein «sechstes großes Artensterben», vergleichbar mit den großen Massensterben der Erdgeschichte; massive Ernteeinbußen; extreme Unwetter; die Verbreitung von Hunger und Krankheiten.
Die Beweise dafür, dass die Fortsetzung der gegenwärtigen Trends selbst auf kurze Frist gesehen nicht tragbar ist, nehmen zu. Die einzige rationale Antwort ist ein radikaler Kurswechsel. Vor allem angesichts der drohenden Umkipppunkte ist keine Zeit zu verlieren. In einigen Jahrzehnten könnten katastrophale Veränderungen im System Erde unumkehrbar in Gang gesetzt werden.
Der IPCC sagte in seinem Bericht von 2007, der CO2-Anteil in der Atmosphäre dürfe 450 ppm (parts per million) nicht überschreiten und ließ durchblicken, dies sei ein sicherer Punkt für die Kohlenstoffstabilisierung. Aber diese Erkenntnis ist bereits veraltet. «Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren herausgefunden, dass langfristig der sichere Anteil von CO2 nicht über 350 ppm liegen darf», sagt James Hansen. Heute liegt er bei 387 ppm. Das bedeutet, dass die Kohlenstoffemission schneller und drastischer reduziert werden muss als ursprünglich angenommen, wenn die Kohlenstoffkonzentration in der Atmosphäre gesenkt werden soll. «Wenn wir alle fossilen Brennstoffe verbrennen oder auch nur die Hälfte der verbleibenden Vorräte, werden wir den Planeten auf einen eisfreien Zustand bringen, mit einem Meeresspiegel, der um 76 Meter höher ist als heute. Das vollständige Verschwinden der Eisfläche benötigt zwar einige Zeit, doch es schafft eine chaotische Lage, mit Veränderungen, die zukünftige Generationen nicht mehr kontrollieren können.»
Über achtzig der ärmsten und von der Klimaveränderung am meisten bedrohten Länder der Erde haben jetzt erklärt, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre unter 350 ppm gedrückt werden muss und der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bis zum Ende des Jahrhunderts 1,5°C nicht überschreiten darf.
Strategien der Leugnung
Die zentrale Frage, der wir uns zu stellen haben, ist deshalb die nach der Entwicklung gesellschaftlicher Strategien, um der weltweiten ökologischen Krise entgegenzutreten. Die Lösungen müssen nicht nur groß genug sein, um mit dem Problem fertigzuwerden, sie müssen auch innerhalb einer Generation im Weltmaßstab durchgeführt werden. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Wandels, die nötig sind, erfordern eine ökologische Revolution, die auch eine soziale Revolution sein muss.
Doch statt die Wurzeln der Krise anzugehen [lässt man uns] im Glauben, dass die Antwort auf den Klimawandel in erster Linie in neuen Energietechnologien zu finden sei, besonders in einer größeren Energie- und Kohlenstoffeffizienz – in der Produktion wie im Konsum. Die so verstandene Technologie wird abstrakt als deus ex machina betrachtet, getrennt von den Gesetzen der Physik (d.h. von der Entropie bzw. dem zweiten Gesetz der Thermodynamik) wie auch von den spezifischen historischen Bedingungen, in die Technologie eingebettet ist. Unter dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem führt die Zunahme von Energieeffizienz normalerweise zu einer Zunahme des wirtschaftlichen Outputs, wodurch alles, was an Ressourcenverbrauch und Kohlenstoffeffizienz gewonnen wurde, wieder zunichte gemacht wird.
Cap and trade, die gesetzliche Belegung von CO2-Emissionen mit handelbaren Emissionsrechten, ist ein Schlagwort für die Schaffung künstlicher Märkte für den Kohlendioxidhandel und sog. Verrechnungen. Es ist erwiesenermaßen ein Fehlschlag. In Europa als Teil der Durchsetzung des Kyoto-Protokolls eingeführt, ist es da gescheitert, wo es angeblich wirken sollte: bei der Reduzierung der Emissionen. Der Kohlendioxidhandel hat sich als sehr löchrig erwiesen. Die Verrechnung erlaubt jeden möglichen zweifelhaften Handel, der keinerlei Auswirkungen auf die Höhe der Emissionen hat. Tatsächlich war Kohlendioxidhandel nur bei der Steigerung der Profite von Spekulanten und Konzernen effektiv, die ihn deshalb häufig unterstützen. Friends of the Earth hat jüngst in einem Bericht darauf hingewiesen, dass sich unter dem Deckmantel des Emissionshandels der weltweit größte Markt für Finanzderivate entwickeln könnte.
James Lovelock, ein wegen seiner Gaia-Hypothese berühmter Geowissenschaftler, ist der Auffassung, ein massiver Klimawandel und die Zerstörung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, sei womöglich nicht mehr umkehrbar. Dennoch propagiert er als «Lösung» den massiven Bau von Kernkraftwerken in der ganzen Welt (und verschließt dabei die Augen vor den enormen Gefahren der Atomenergie) bzw. die massive Injektion von Schwefeldioxid in die Stratosphäre, um einen Teil der Sonneneinstrahlung zu blockieren und so die Solarenergie, die die Erde erreicht, zu reduzieren. Ein weiterer Vorschlag sieht vor, Eisenspäne in die Ozeane zu kippen, um ihre Fähigkeit zur Absorption von Kohlendioxid zu stärken.
Vernünftige Wissenschaftler erkennen, dass solche Eingriffe in das System Erde massive, unvorhersehbare Folgen haben. Auch können sie die Krise nicht lösen. Die Injektion von Schwefeldioxid in die Stratosphäre müsste, wenn sie überhaupt effektiv wäre, ständig und intensiver wiederholt werden, solange das Grundproblem der Treibhausgasemissionen nicht angegangen wird. Außerdem lassen sich damit andere mit dem CO2-Ausstoß verbundene Probleme wie die Versauerung der Ozeane nicht lösen.
Das herrschende Herangehen an die weltweite ökologische Krise konzentriert sich auf technologische Lösungen und Marktmechanismen und stellt somit eine Art Leugnung dar, die jedoch den Interessen derer dient, die am meisten bei einer Veränderung der Wirtschaftsweise zu verlieren haben. Al Gore steht mit seinem neuen Buch (Wir haben die Wahl. Ein Plan zur Lösung der Klimakrise, München 2009) für diese Form der Leugnung. Für Gore ist die Antwort ein «nachhaltiger Kapitalismus». Er ist nicht vollständig blind für die Mängel des gegenwärtigen Systems. Er beschreibt den Klimawandel als das «größte Scheitern des Marktes in der Geschichte» und beklagt die «kurzfristige» Perspektive des heutigen Kapitalismus, seinen «Markttriumphalismus» und die «fundamentalen Mängel» in seinem Verhältnis zur Umwelt. Nichtsdestoweniger versichert er seine Leser, dass die «Stärken des Kapitalismus» für ein neues System «nachhaltiger Entwicklung» nutzbar gemacht werden können.
Der Zwang zur Expansion
In Wirklichkeit lässt sich der Kapitalismus als ein System nicht nachhaltiger Entwicklung definieren. Um zu verstehen, warum das so ist, ist es nützlich auf Karl Marx zu verweisen, dessen intellektuelles Werk im Kern eine Kritik der politischen Ökonomie nicht nachhaltiger Entwicklung und ihrer Folgen für Mensch und Natur darstellt.
Der Kapitalismus, erklärt Marx, ist ein System verallgemeinerter Warenproduktion. Es gab andere Gesellschaften vor dem Kapitalismus, in denen Warenmärkte eine bedeutende Rolle spielten, aber nur mit dem Kapitalismus ist ein System entstanden, das ganz und gar auf die Warenproduktion konzentriert ist. Eine «Ware» ist ein Gut, das produziert wird, um verkauft und auf dem Markt gegen Profit getauscht zu werden. Wir nennen es ein «Gut», weil es einen Gebrauchswert hat, d.h. es hat normalerweise einen praktischen Nutzen, andernfalls gäbe es keinen Bedarf danach. Aber es ist der Tauschwert, d.h. das Einkommen und der Profit, den es schafft, der den Kapitalisten allein interessiert.
Was Marx «einfache Warenproduktion» nannte, ist eine idealisierte Wirtschaftsformation, in der eine Ware, die einen gewissen Gebrauchswert verkörpert, gegen Geld getauscht wird (das nur als Tauschmittel fungiert), welches dann seinerseits gegen eine andere Ware (einen anderen Gebrauchswert) getauscht wird. Hier kann der ganze Tauschprozess kurz als W-G-W (Ware - Geld - Ware) bezeichnet werden. Ein solcher Tauschprozess ist nur eine modifizierte Form des Naturaltauschs, wobei das Geld den Austausch nur erleichtert. Das Ziel des Tauschs ist der konkrete Gebrauchswert, der qualitative Eigenschaften verkörpert. Solche Gebrauchswerte werden normalerweise konsumiert, wodurch ein gegebener Austauschprozess an sein Ende gelangt.
Marx bestand jedoch darauf, dass eine kapitalistische Ökonomie in der Realität ganz anders funktioniert: Dabei nimmt der Austausch die Form G-W-G' an. Das Geldkapital (G) wird verwendet, um Waren zu kaufen (Arbeitskraft und Produktionsmittel) und damit eine Ware zu produzieren, die am Ende für mehr Geld (G', d.h. G + Delta m oder den Mehrwert) verkauft werden kann. Dieser Prozess endet, einmal in Gang gesetzt, nie aus eigenem Antrieb, denn er hat kein natürliches Ende. Vielmehr wird der Mehrwert (Profit) in der nächsten Runde reinvestiert mit dem Ziel, G'' zu schaffen. In der darauffolgenden Runde werden die Erträge wieder reinvestiert mit dem Ziel, G''' zu erhalten, und so weiter ad infinitum.
Für Marx ist deshalb das Kapital ein selbstexpandierender Wert. Es wird unaufhörlich zu einem stets höheren Grad der Akkumulation getrieben und kennt keine Grenzen. «Das Kapital», schreibt er, «ist der schranken- und maßlose Trieb, über seine Schranke hinauszugehn. Jede Grenze ist und muss [eine zu überwindende] Schranke für es sein. Es hörte sonst auf, Kapital - das Geld als sich selbst produzierend zu sein.» Es verwandelt so die ganze Natur und die Naturgesetze wie auch alles, was ausgesprochen menschlich ist, in bloße Mittel seiner eigenen Selbstexpansion. Das Ergebnis ist ein System, das auf exponenzielles Wachstum von Profiten und auf Akkumulation fixiert ist. «Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!» [Grundrisse (MEW 42, S.252f., 323); Das Kapital, Bd.I (MEW 23, S.621).]
Jeder Versuch zu erklären, woher der Mehrwert (oder der Profit) herkommt, muss hinter die Oberfläche des Austauschprozesses dringen und in das Reich von Arbeit und Produktion eintreten. Hier führt Marx an, dass der im Arbeitstag erzeugte Wert in zwei Teile geteilt werden kann: 1. der Teil, der den Wert der Arbeitskraft (d.h. die Löhne der Arbeiter) reproduziert und so die notwendige Arbeit darstellt, und 2. die im übrigen Teil des Arbeitstags aufgewendete Arbeit, die als Mehrarbeit angesehen werden kann und die den Mehrwert für den Kapitalisten schafft. Der Mehrwert ist somit der Restbestand, das was übrigbleibt, nachdem der Lohn gezahlt worden ist - etwas, was jeder Geschäftsmann instinktiv begreift. Das Verhältnis der Mehrarbeit (d.h. der unbezahlten Arbeit) zur notwendigen (bezahlten) Arbeit während des Arbeitstags ist für Marx die Ausbeutungsrate.
Die Logik dieses Prozesses liegt darin, dass die Zunahme des angeeigneten Mehrwerts von der effektiven Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft abhängt. Dies kann auf zweierlei Weise erreicht werden: 1. Entweder werden Arbeiter gezwungen, länger für dieselbe Bezahlung zu arbeiten, dann wird der Anteil der Mehrarbeit am Arbeitstag vergrößert, indem die Gesamtarbeitszeit verlängert wird (Marx nannte dies den «absoluten Mehrwert»), oder 2. der Wert der Arbeitskraft, d.h. der dem Lohn entsprechende Wert, wird in geringerer Zeit erzeugt (infolge zunehmender Produktivität usw.), dann wird der Anteil der Mehrarbeit am Arbeitstag um dieses Maß vergrößert (Marx nannte dies den «relativen Mehrwert»).
Bei seiner unermüdlichen Suche nach größerem Mehrwert ist der Kapitalismus abhängig von der Revolutionierung der Produktionsmittel mit dem Ziel der Steigerung der Produktivität und der Reduktion des bezahlten Teils des Arbeitstags. Dies führt unausweichlich zu weiteren Revolutionen in der Produktion und somit zu weiteren Produktivitätssteigerungen in einer endlosen Tretmühle von Produktion und Akkumulation. Die Logik der Akkumulation konzentriert mehr und mehr Reichtum und Macht in immer weniger Händen und schafft eine enorme industrielle Reservearmee von Erwerbslosen.
Dies alles wird begleitet von der weiteren Entfremdung der Arbeit, die die Menschen ihres kreativen Potenzials und oftmals der Umweltbedingungen, die für ihre physische Reproduktion nötig sind, beraubt. Das Fabriksystem wird für Marx «zum systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit, an Raum, Luft, Licht, und an persönlichen Schutzmitteln wider lebensgefährliche und gesundheitswidrige Umstände des Produktionsprozesses» [MEW 23, S.449f.].
Der Raub der Gemeingüter
Die klassischen Ökonomen, angefangen bei den Physiokraten und Adam Smith, bestimmten die Natur ausdrücklich als für das Kapital «unentgeltliche Gabe». Sie ging somit nicht unmittelbar in die Bestimmung des (Tausch-)Werts ein, der die Grundlage der Akkumulation des Privatkapitals bildete. Die klassischen Ökonomen sahen in der Natur einen öffentlichen Reichtum, der mit Gebrauchswerten identifiziert wurde und nicht nur einschloss, was knapp war (und deshalb einen Tauschwert zugewiesen bekam), sondern auch, was von Natur aus reichlich vorhanden war, z.B. Luft, Wasser usw.
Aus dieser Unterscheidung entstand das sog. Lauderdale-Paradox. James Maitland, 8.Earl of Lauderdale, beobachtete 1804, dass privates Vermögen (Tauschwert) durch die Zerstörung öffentlichen Reichtums (Gebrauchswert) vergrößert werden konnte - d.h. durch die Schaffung von Knappheit an dem, was zuvor reichlich vorhanden war. Dies bedeutete, dass individueller Reichtum von Landbesitzern vergrößert werden konnte, indem Quellwasser monopolisiert wurde und für etwas, was zuvor kostenlos war, ein Preis erhoben wurde - oder indem Feldfrüchte (Produkte der Erde) verbrannt wurden, um eine Knappheit und somit einen Tauschwert zu schaffen. Sogar die Luft selbst könnte, wenn sie nur selten genug würde, das Privatvermögen vergrößern, wenn es erst einmal möglich würde, einen Preis für sie zu erheben. Lauderdale sah eine derartige künstliche Schaffung von Knappheit als einen Weg, auf dem Inhaber privater Monopole auf Land und Rohstoffe die Gesellschaft ihres realen Reichtums beraubten.
Marx akzeptierte (Ricardo folgend) entschieden das Lauderdale-Paradox und die darin enthaltene Kritik des umgekehrten Verhältnisses zwischen privatem Vermögen und öffentlichem Reichtum. Unter dem System der verallgemeinerten Warenproduktion war die Natur, so Marx, auf eine unentgeltliche Gabe für das Kapital reduziert und somit geraubt worden. Tatsächlich bedeutete die Tatsache, dass ein Teil des Arbeitstags unbezahlt bleibt und in den Reingewinn des Kapitalisten eingeht, dass ein Teil der menschlichen Arbeitskraft, die selbst eine «natürliche Kraft» ist, geraubt wird. Marx stellt fest, «dass der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eignes Leben zu arbeiten, d.h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten … arbeitet; dass das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstags oder durch Entwicklung der Produktivität, größere Spannung der Arbeitskraft» [MEW 19, S.25]. Sowohl die Natur als auch die unbezahlte Arbeit des Arbeiters wurden so in analoger Weise als unentgeltliche Gaben an das Kapital begriffen.
Angesichts der Natur dieser klassischen Kritik, die von Marx am weitesten entwickelt worden war, überrascht es kaum, dass die späteren neoklassischen Ökonomen in ihrer Hauptrolle als Apologeten des Systems sowohl die klassische Werttheorie als auch das Lauderdale-Paradox ablehnten. Die neue Orthodoxie der Grenznutzenökonomie, die im späten 19.Jahrhundert aufkam, löschte in der Ökonomie alle formalen Unterscheidungen zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, zwischen Reichtum und Wert aus. Der Beitrag der Natur zum Reichtum wurde aus der vorherrschenden ökonomischen Anschauung einfach wegdefiniert. Jedoch beharrte eine Minderheit heterodoxer Ökonomen, darunter Henry George, Thorstein Veblen und Frederick Soddy, darauf, dass der Beitrag der Natur zum Reichtum nur geleugnet wurde, um die für das System charakteristische Ausplünderung der öffentlichen Ressourcen zu ermutigen.
Kapitalismus und der Stoffwechsel Mensch-Natur
Für Marx war die räuberische Natur des Kapitalismus konkret am Werk, wo im «Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde» ein Riss entstand und die Reproduktion der natürlichen Bedingungen untergraben wurde. Er bestimmte den Arbeitsprozess in ökologischen Begriffen als Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur.
Dieser Riss im naturgegebenen Stoffwechsel zwischen den Menschen und der Erde entstand mit der Entwicklung der industriellen Landwirtschaft. Die Verschiffung von Nahrungsmitteln und Faserstoffen über Hunderte und manchmal Tausende von Meilen in die Städte bedeutete, dass dem Boden Nährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium entzogen wurden, was zur Verschmutzung der Städte beitrug, während der Boden selbst seiner Bestandteile beraubt wurde. Dies schuf einen Bruch mit der «ewige[n] Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit», der die «systematische Wiederherstellung» dieses Stoffwechsels erfordert.
Doch obgleich dies von der Naturwissenschaft (z.B. in Justus von Liebigs Chemie ) deutlich demonstriert wurde, war die rationale Anwendung der wissenschaftlichen Prinzipien auf diesem Gebiet für den Kapitalismus unmöglich. Folglich untergrub die kapitalistische Produktion «zugleich die Springquellen alles Reichtums», «die Erde und den Arbeiter». [MEW 23, S.528ff.]
Marx’ Kritik des Kapitalismus als eines nicht nachhaltigen Systems der Produktion wurzelte letztlich in dessen «Voraussetzungen», d.h. in den historischen Grundlagen, durch die der Kapitalismus als Produktionsweise möglich wurde. Diese sind in der «ursprünglichen Akkumulation», d.h. der Enteignung der ländlichen Produzenten von Grund und Boden und damit in der Enteignung der Arbeiter von ihren Subsistenzmitteln zu finden. Diese Enteignung sollte insbesondere die Grundlage für den industriellen Kapitalismus schaffen. Die Verwandlung des Landes in Privateigentum, in ein bloßes Mittel zur Akkumulation, bildete zur gleichen Zeit die Basis für die Zerstörung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Erde.
Dies wurde in noch größerem und verheerenderem Ausmaß mit der Plünderung der Dritten Welt fortgesetzt. Hier ging der Sklavenhandel Hand in Hand mit der Aneignung von Land und Ressourcen des gesamten Planeten als Beute zur Fütterung der industriellen Fabriken Englands und anderer Länder. Ganze Kontinente (oder zumindest die Teile, die der europäische Kolonialismus erschließen konnte) wurden verwüstet. Doch ist dieser Prozess längst nicht abgeschlossen, die Enteignung der Bauernschaft der Peripherie durch die Expansion des Agrobusiness stellt heute eine der bedeutendsten Formen der sozialen und ökologischen Zerstörung dar.
Marx’ gesamte Kritik verweist somit auf die Realität des Kapitalismus als eines Systems nicht nachhaltiger Entwicklung, das in der unablässigen Ausbeutung und Ausplünderung humaner und natürlicher Kräfte wurzelt: «Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.» [MEW 23, S.285.]
Der vorliegende hier auszugsweise wiedergegebene Beitrag erschien ursprünglich in Monthly Review, Jg.61, Nr.8, Januar 2010, S.1–18 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).
John Bellamy Foster lehrt Soziologie an der Universität Oregon und ist Herausgeber der Monatszeitschrift Monthly Review (New York, www.monthlyreview.org">www. monthlyreview.org) und Autor zahlreicher Bücher, u.a. The Vulnerable Planet: A Short Economic History of the Environment (1999), Marx’s Ecology: Materialism and Nature (2000), Ecology Against Capitalism (2002) und zuletzt The Ecological Revolution: Making Peace with the Planet (2009).
Von John Bellamy Foster erschienen bisher im Rahmen der SoZ:
– «Marx, der Produktivismus und die Ökologie», SoZ Bibliothek, Beilage zur SoZ 13/1996, S.14–19.
– «Das Scheitern der weltweiten Umweltreform», Sozialistische Hefte, Nr.6, Mai 2004, S.39–42.
– «Marx’ Ökologie: Materialismus und Natur», Sozialistische Hefte, Nr.13, April 2007, S.21–30.
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