Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2010
In Afghanistan beantwortet die Bundeswehr Terror mit Gegenterror
Aufruf für den "umgehenden Abzug der Truppen aus Afghanistan"

Anlässlich der Verlängerung des ISAF-Mandats durch den Bundestag und haben Redakteure von Amos und kultuRRevolution die Argumente der Kriegsbefürworter auseinandergenommen.
Warum ist es nicht nur das Beste, sondern das schlechthin Notwendige, dass die Bundeswehr umgehend und vollständig aus Afghanistan abzieht?

Weil die für diesen Krieg angeführten Diskursblasen längst geplatzt sind und weil die hinter der Phrase von der «gewachsenen deutschen Verantwortung» versteckten tatsächlichen Argumente fatal sind: Die Diskursblasen von Demokratie, Frauenemanzipation und Wohlstand durch Bundeswehreinsätze nehmen ihre Erfinder selbst seit langem nicht mehr ernst. «Unsere Sicherheit am Hindukusch? Die Terrorquelle schließen.» Offensichtlich wurde diese Quelle durch diese Kriegführung erst richtig geöffnet.

Die deutsche Verantwortung. Hinter dieser Phrase steckt ein ganz und gar irrationaler und angesichts der deutschen Geschichte fataler Anspruch auf einen Platz unter den führenden Weltmächten. Mit nur 1,2% der Weltbevölkerung belegt Deutschland den 15.Platz. In wenigen Jahren werden hier nur rund 1% der Weltbevölkerung leben soll die Bundeswehr auf dieser Basis einen der Weltgendarmen für die anderen 99% spielen?

Deutschlands Mitgliedschaft in der G 7/G 8-Gruppe, der Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO usw. erklären sich nur aus der noch vorhandenen relativen wirtschaftlichen Stärke. Daraus folgt keineswegs ein Anspruch auf eine politische und militärische Weltmachtposition. Ein solcher Automatismus wäre höchst undemokratisch. Sollte Deutschland in die Rolle eines führenden Mitglieds in einer Art informeller militärischer «Welt-Junta» aber unabsichtlich hineingerutscht sein, so gilt es jetzt, zu einer solchen Rolle vernünftig Nein zu sagen.
Der Afghanistankrieg ist dabei der Lackmustest.

Der Krieg gegen den Terror. Der Afghanistankrieg wird von seinen Strategen als «Krieg gegen den Terror» bezeichnet. Dahinter verbirgt sich ein Anti-Guerilla-Krieg, wie er auch in Vietnam geführt wurde – also außerhalb des Völkerrechts. Denn die Feinde sind weder als Kombattanten noch als Verbrecher definiert: Wären sie Kombattanten, müssten sie als Gefangene in offen zugänglichen Lagern interniert werden, wären sie (mutmaßliche) Verbrecher, dürften sie auf keinen Fall ohne Anklage, Prozess und Urteil einfach auf Verdacht und präventiv «gezielt getötet» und «eliminiert» werden.

Genau das aber ist der strategische Kern dieses Krieges, der daher auf Seiten der NATO auch einen exterministischen Charakter hat. Das von der Bundeswehr zu verantwortende «Massaker» (Jürgen Todenhöfer) von Yakob Baj am 4.9.2009 signalisierte geradezu symbolisch, dass die Bundeswehr, wenn sie nicht abzieht, genau dieser exterministischen Strategie verpflichtet ist und weiter sein wird.

Terror und Gegenterror. Es ist also ein Krieg, dessen entscheidende taktische Mittel «Drohnen» im wörtlichen und übertragenen Sinne sind: automatische oder von Menschen geflogene Luftangriffe als «gezielte Tötungen», bei denen zugegebenermaßen «unschuldige» Opfer in erschreckendem Umfang akzeptiert werden, sowie «gezielte Tötungen am Boden», ebenfalls mit durchschnittlich hohen zivilen Opfern («Taliban-Jagden» genannt) durch Elite-Einheiten wie das KSK.

Wie sollen junge Männer ohne Sprach- und Kulturkenntnisse einen (von vornherein immer «des Todes schuldigen!?») «Taliban» von einem «Unschuldigen» unterscheiden? Sie müssen sich auf die Informationen und Befehle ihrer Vorgesetzten verlassen, die ebenfalls sprach- und kulturunkundig sind und sich einfach auf die Denunziation von «Informanten» verlassen. Der Kern dieser Strategie besteht also darin, Terror mit Gegenterror zu bekämpfen und sich auf diese Weise an den terroristischen Gegner anzugleichen. Kein Wunder, dass dieser wahrhaft schmutzige Krieg es in nun fast zehn Jahren nicht erreicht hat, die «terroristischen Taliban» zu «eliminieren» – dass er sie vielmehr offensichtlich vermehrt hat.

Gnade uns Gott. Das letzte Argument gegen den Abzug ist die Drohung mit den Folgen: «Gnade uns Gott, wenn die Taliban zurückkommen!» Als ob sie nicht längst zurück wären und als ob nicht die überwältigende Mehrheit auch der Talibangegner in Afghanistan die eine oder die andere Spielart von Islam/»Islamismus» verträte. Da «Taliban» ein Plastikwort ist, wird jede Art von Renitenz zu «Taliban» und dadurch werden es auch immer mehr. Die jetzige Situation ist die Konsequenz der «Terrorkrieg-Strategie» und gänzlich von deren Befürwortern zu vertreten. Von den Kritikern dieser Strategie nun das Wunder einer sofortigen alternativen Ideallösung einzufordern, ist ein Gipfel unfairen Diskussionsstils.

Wer in der Sackgasse steckt, muss umkehren. Dennoch ist sicher: Weil Eskalation in die Sackgasse geführt hat, gibt es zur Deeskalation keine Alternative. Wer in der Sackgasse steckt, muss umkehren und nicht stur weitermarschieren. Militärischer Rückzug und Deeskalation werden nicht umgehend Wunder wirken, wohl aber bisher noch gar nicht versuchte Optionen öffnen.

Das hat auch eine finanzielle Komponente, die nicht verheimlicht werden darf: Der Krieg kostet täglich Unsummen, von denen schon die Hälfte enorme friedliche Alternativpotentiale eröffnen könnte. Die starke Opposition im Iran zeigt im übrigen das Potenzial eines innerislamischen Pluralismus – würde die Welt-Junta auch dort militärisch intervenieren, so würden die Intervenienten sofort zum allgemeinen Hauptgegner und die Opposition geschwächt werden.

Die Wegnahme des äußeren Drucks wird also mittelfristig Schritte zu einem innerafghanischen Ausgleich und einer innerafghanischen Befriedung auf jeden Fall erleichtern. So viel ist sicher: Die Eskalation des Krieges wird die schon gegebene Katastrophe noch katastrophaler und noch auswegloser machen.

Deutschland am Scheideweg. Deutschland ist nun für alle sichtbar am Scheideweg: Entweder klammert es sich an die Mitgliedschaft in der informellen militärischen «Welt-Junta» und akzeptiert bewusst die exterministische Strategie eines «Terror-Kriegs» – oder es sagt ein vernünftiges Nein und holt die Bundeswehr nach Hause, wodurch nicht zuletzt auch die deutschen Soldaten aus Lebensgefahr und aus der Gefahr von «Befehlsnotständen» befreit würden.

Die Forderung nach «umgehendem» Abzug ist im Sinne eines verpflichtenden politischen Signals zu verstehen: Am Anfang könnte etwa eine einseitige Erklärung stehen, jede Art offensiver militärischer Aktion, insbesondere das Anfordern von «Luftunterstützung» und die «gezielten Tötungen» mit sofortiger Wirkung definitiv einzustellen, woraus sich ein Waffenstillstand entwickeln könnte. Die technischen Probleme eines schnellen Abzugs können Armeen erfahrungsgemäß lösen, sobald der Abzug politisch entschieden ist.
Ein solcher Schritt Deutschlands könnte auch mehreren schon bestehenden Initiativen für eine Friedenskonferenz unter führender Beteiligung von Vertretern aller Gruppen der afghanischen Zivilgesellschaft eine entscheidende Unterstützung verleihen.

Warnschilder der Vergangenheit. Selbstverständlich sollten leichtfertige Vergleiche mit früheren deutschen Kriegen vermieden werden, wohl aber sollten die Erfahrungen daraus als Warnschilder dienen. Die deutsche Wehrmacht hatte im Zweiten Weltkrieg, obwohl sie und ihre Nachfolger bekanntlich bis heute für «sauber» plädieren, den berüchtigten geheimen «Kommissarsbefehl» zu verantworten. Der bestand in nichts anderem als in «gezielten Tötungen» von tatsächlichen oder vermeintlichen aktiven Kommunisten hinter der Ostfront auf bloße Denunziation hin. Heute häufen sich in Afghanistan Meldungen über «Vorfälle» mit internationalen Eliteeinheiten, die sehr ernste «Rutschgefahren» signalisieren.

Auch wenn die Bundeswehr selten direkt beteiligt sein sollte, sitzt sie im gleichen Boot. Abweichend von den Befürwortern des Afghanistankriegs vertreten wir die Ansicht, dass wir als Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes, von deren Steuergeldern dieser Krieg bezahlt wird, aufgrund unserer militärischen Geschichte sehr wohl fatale Eskalationsprozesse besonders aufmerksam beobachten und besonders konsequent meiden sollten. Wir können ja nicht ein weiteres Mal auf eine neuerliche «Gnade der späten Geburt» warten, weil wir ja schon längst geboren sind.

Der vorstehende Aufruf trägt zahlreiche prominente Unterschriften und wurde veröffentlicht auf www.afghanistanappell.de, wo man ihn auch zeichnen kann.

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