Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2010
Hamburg: VSA, 2009
228 Seiten,18,80 Euro
von Gaston Kirsche

Am 16.Mai 1940 wurden an die tausend Roma und Sinti aus Hamburg und Umgebung nach Polen in das Vernichtungslager Belzec deportiert. In den Jahren nach der Machtübergabe an die Nazis wurden alle, die nach rassistischen Kriterien als Roma und Sinti eingestuft wurden, ebenso wie alle als Juden eingestufte Menschen, systematisch gesellschaftlich diskriminiert und kriminalisiert. Roma und Sinti wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Sie mussten sich regelmäßig bei der Polizei melden, durften bestimmte Orte nicht mehr besuchen, öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen.

Am 8.Dezember 1938 erging der grundlegende Erlass des «Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei», Himmler, «...die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen». Mit dem Ziel der «endgültigen Lösung der Zigeunerfrage» ordnete er an, alle als Sinti und Roma Einzustufenden im Deutschen Reich zu erfassen. Am 27.April 1940 erließ Himmler einen Schnellbrief, in dem die «Umsiedlung der Zigeuner» befohlen wurde. Diese Aufforderung ging an die Polizeileitstellen der Städte, nach Hamburg, Bremen, Hannover, Düsseldorf, Köln, Frankfurt am Main und Stuttgart.

In Hamburg begann die Polizei am 16.Mai 1940, den Befehl umzusetzen. Mehrere hundert Hamburger Roma und Sinti wurden am Sammelpunkt, der Harburger Polizeistation in der Nöldekestraße, festgesetzt. In Bussen wurden sie zum Fruchtschuppen an der Baakenbrücke im Hamburger Hafen, heute Ecke Kirchenpauerstraße, Ecke Baakenwerder, transportiert. Sie mussten hier fünf Tage warten. Der Fruchtschuppen wurde später abgerissen.

Der Fruchtschuppen war das provisorische Sammellager für alle norddeutschen Roma und Sinti, bevor sie nach Polen in die Vernichtungslager deportiert wurden: «Der ganze Platz wurde von den SS-Männern, Gestapoleuten und Polizisten umzingelt, und wir wurden morgens um vier Uhr aus den Betten geholt. Uns wurde erzählt, dass wir umgesiedelt werden, wir sollten nichts mitnehmen, und wir durften nichts mitnehmen. Die sagten uns, dass wir dort alles vorfänden und nichts mitzunehmen brauchten. Die Erwachsenen ahnten nichts Gutes und sagten: ‹Lasst uns mal das Notwendigste für die Kinder mitnehmen›», erinnerte sich der Überlebende Gottfried Weiß.

Am 20.Mai 1940 wurden laut den gründlichen Listen der Polizei 551 Hamburger und weitere 359 norddeutsche Sinti in Güterwaggons verfrachtet - am Hannoverschen Bahnhof, von dem heute nur noch wenige Reste am Rande der Hafencity stehen, am Lohseplatz. Vom Hannoverschen Bahnhof gingen von 1940-45 zwanzig Deportationstransporte ab, 7692 Menschen wurden von hier in die Lager transportiert. Im Rahmen der Hafencity ist dort heute eine Wohnbebauung geplant, eine Gedenkstätte soll errichtet werden.

Um die Roma und Sinti während des Transports ruhig zu halten, wurde immer wieder von «Umsiedlung» gesprochen und jeder Familie ein Haus und Land in Polen versprochen. Die Roma und Sinti trugen nichts außer der Kleidung am Leib, ihr gesamtes Eigentum wurde von der Polizei konfisziert. In den ersten zwei Wochen in Belzec starben 75 Kinder an Erschöpfung oder Epidemien.

Bei einer weiteren Hamburger Deportation 1943 wurden die Roma und Sinti aufgrund des sog. Auschwitz-Erlasses direkt in das sog. «Zigeunerlager» im KZ Auschwitz gebracht. In der Nacht vom 2. auf den 3.August 1944, «Zigeunernacht» genannt, wurden dort alle verbliebenen fast 3000 Menschen vergast. Sie wussten, was sie in den Gaskammern erwartet. Sie wehrten sich verzweifelt, bis zuletzt. Ihre Schreie waren in anderen Baracken zu hören. Gegen Morgen wurde es still.

Anfang 2009 erschienen die Erinnerungen von Walter Stanoski Winter, der im Sommer 1919 im ostfriesischen Wittmund geboren wurde und heute 90-jährig auf St.Pauli in Hamburg wohnt. Seit 2002 kennen sich Walter Stanoski Winter und die Autorin Karin Guth. In zahlreichen Gesprächen hat er ihr von seinem Leben in Ostfriesland vor dem Nationalsozialismus berichtet. Einige Stellen des Buches sind nur schwer zu ertragen, beispielsweise wenn Walter Stanoski Winter von den Menschenversuchen an Zwillingskindern erzählt, die aus dem Block geholt wurden, wie Kinder unbetäubt operiert wurden, nur um ihr Schmerzempfinden zu erforschen. Josef Mengele war Arzt in Auschwitz.

Schwierig war für ihn der Rückhalt der Nationalsozialisten in der deutschen Bevölkerung: «Wenn wir auf dem Weg zu dieser Werkhalle an den Wohnhäusern im Ort (Ravensbrück) vorbeimarschierten, haben manche Leute die Fenster aufgerissen und uns bespuckt und beschimpft. Das war so schlimm, dass sogar die SS-Wache, die uns begleiten musste, mit uns am anderen Tag einen anderen Weg gegangen ist, um uns diese Anpöbeleien und das Bespuckt werden zu ersparen. Vielleicht waren das die Leute, die später angeblich von allem nichts gewusst haben.»

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