Stuttgart: Schmetterling, 2010
510 S., 26,80 Euro
von Ulf Petersen
Mit 510 Druckseiten ist dieses Buch eine sehr umfassende Darstellung des kurdischen Freiheitskampfs. Der Schwerpunkt liegt auf der Geschichte der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der Kurden in der Türkei seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Die Autoren schreiben dazu: «Seit der Verschleppung von Abdullah Öcalan in die Türkei wurde über die kurdische Befreiungsbewegung nur noch als ein ‹Auslaufmodell› berichtet. Die Medien versuchten bezüglich der PKK, das Bild einer führungslosen, in sich gespaltenen, isolierten und kurz vor der Auflösung stehenden Organisation zu vermitteln. Die programmatischen Positionsentwicklungen, organisatorischen Neuerungen und der Aufbau ziviler politischer Strukturen wurden kaum zur Kenntnis genommen.» Die Lücke wird mit dieser Neuerscheinung mehr als gefüllt.
Ein Schwerpunktkapitel ist «Unsere Ehre ist unsere Freiheit! Zur Bedeutung der Frauenfrage für die kurdische Befreiungsbewegung». Es befasst sich ausführlich mit der Geschichte der Frauenbewegung im Westen der Türkei und ihrem Verhältnis zu der in den 90er Jahren entstandenen kurdischen Frauenbewegung. Zur der heißt es: «Der kurdische Befreiungskampf hat die feudale Ordnung erschüttert. Davon zeugt insbesondere die starke Beteiligung von Frauen nicht nur innerhalb der Guerilla, sondern auch in den zivilen Organisationen wie der DTP beziehungsweise ihrer Nachfolgepartei und vielen NGOs.»
Die Politik der AKP-Regierung und der im letzten Jahr in den Medien viel beachteten «demokratischen Öffnung» wird im Zusammenhang mit der internationalen Dimension des Konfliktes und der schon im Titel angesprochenen Rolle der Europäischen Union analysiert. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit der Lage in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Zum Irak hatte Brigitte Kiechle 2003 und 2006 ebenfalls im Schmetterlings-Verlag zwei Bücher veröffentlicht, die sich mit den irakischen Kurden beschäftigen.
Die Autoren vermeiden es, die Akteure des Kampfes zu glorifizieren oder zu denunzieren. Dafür nehmen sie sich den nötigen Raum, um die Komplexität der Bedingungen darzustellen und die Kritik an der Bewegung aus dieser Darstellung heraus zu entwickeln. Ihre kritisch-solidarische Haltung mit der kurdischen Befreiungsbewegung und anderen linken Kräften der Region erscheint damit zugleich als Ausgangspunkt und als Ergebnis.
«So wichtig eine kritische Auseinandersetzung mit Programmen der PKK und Äußerungen ihrer Führer ist, darf diese Bewegung dennoch nicht allein danach beurteilt werden. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme - diese Feststellung von Karl Marx aus dem Jahr 1875 gilt umso mehr für eine Organisation wie die PKK, die in einem politischen Umfeld agiert, in dem geschriebene Theorie wenig gilt und eine Bewegung nach ihrer tatsächlichen Wirkung und Praxis beurteilt wird.» Und: «Die heutige Ideologie der PKK besteht aus einer Mischung anarchistischer Staatskritik, geschichtlich basiertem Mesopotamien-Kult, einem zum Teil biologistisch hergeleiteten Feminismus und einem utopisch-sozialistischen Lösungsmodell.»
Sehr wichtig für die Debatte in der deutschen und europäischen Linken über den Mittleren Osten ist auch die folgende Feststellung: «Dass die Masse der entwurzelten, aus ihren Dörfern in die Elendsviertel der Städte vertriebenen ehemaligen kurdischen Bauern (noch) nicht ihr Heil in einer von einer rückständig-religiösen Ideologie geleiteten islamischen Bewegung gesucht hat, wie beispielsweise große Teile der gleichfalls gewaltsam entwurzelten palästinensischen Bevölkerung, ist bislang der PKK und den von ihr vertretenen emanzipatorischen Werten zu verdanken.»
Das Buch ist reich an Material und verarbeiteten Quellen und Erfahrungen (die Kapitel werden durch fünf eigene Reportagen aus der Region ergänzt) und dabei auch ein fundiertes Geschichtsbuch. Für alle, die sich mit der Thematik Türkei und Kurdistan beschäftigen oder einen Einstieg suchen, ist dieses Buch sehr zu empfehlen.
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