Am 21.März verabschiedete der US-Kongress die Gesundheitsreform - das wurde als eine «historische Abstimmung» und ein Schritt zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung der US-Bevölkerung bezeichnet.
Im Jahr 2008 hatten 46,3 Millionen US-Bürger keine Krankenversicherung. Durch die Explosion der Arbeitslosigkeit hat sich die Lage verschlimmert, denn die Mehrheit der Versicherten ist über den Betrieb versichert und verliert diesen Schutz zusammen mit dem Arbeitsplatz.
Am 22.März veröffentlichte die Vereinigung der Ärzte für ein Nationales Gesundheitsprogramm eine überaus kritische Stellungnahme. Der Vereinigung gehören 17000 Ärzte in den USA an. Sie kämpft seit Jahren für eine gesetzliche Krankenversicherung, die der gesamten Bevölkerung die vollständige Übernahme ihrer Krankenkosten sichert. Wir geben hier den vollen Wortlaut wieder.
Erklärung
Wir würden gern in die Feierlichkeiten einstimmen, die die Annahme des Gesundheitsgesetzes durch das Repräsentantenhaus in der letzten Nacht begleitet hat. Aber beim besten Willen, das können wir nicht. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass man mit Aspirin Krebs heilen will.
Das neue Gesetz geht nicht an die Wurzel des Übels: eine private Versicherungsindustrie, die den Profit sucht. Im Gegenteil, es macht die Versicherungsgesellschaften noch reicher und stärkt ihre Macht. Das Gesetz wird Millionen Amerikaner zwingen, von privaten Versicherern schlechte Produkte (Policen) zu kaufen, und dazu führen, dass große Summen an öffentlichen Geldern an sie überwiesen werden.
Der Medienhype um das neue Gesundheitsgesetz wird von den Tatsachen Lügen gestraft:
- Rund 23 Millionen Menschen bleiben in den nächsten neun Jahren ohne Versicherungsschutz. 23.000 dadurch bedingte Todesfälle im Jahr und unermessliches Leid hätten [mit einer universellen Regelung] vermieden werden können.
- Millionen Angehörige der Mittelschicht werden nun unter Druck gesetzt, private Versicherungspolicen zu kaufen. Das wird sie bis zu 9,5% ihres Einkommens kosten und dennoch nur 70% ihrer Gesundheitsausgaben decken. Sie behalten also das Risiko, ruiniert zu werden, wenn sie ernsthaft erkranken. Viele werden diese Policen zu teuer finden, um sie sich leisten zu können, oder es, wenn sie sie kaufen, wegen der hohen Selbstbeteiligung zu teuer finden, davon Gebrauch zu machen.
- Die privaten Versicherungsgesellschaften werden mindestens 447 Mrd. US-Dollar an zusätzlichen Beiträgen einstreichen. Dieses Geld wird ihre Finanzmarkt und ihre politische Macht stärken und damit auch ihre Fähigkeit, jede neue Reform zu blockieren.
- Das neue Gesetz wird die Mittel, die Medicare den Krankenhäusern für Basisleistungen an Nichtversicherten überweist, um 40 Mrd. Dollar senken. Für die Millionen Menschen, die ohne Versicherung geblieben sind, sind diese Leistungen damit gefährdet.
- Die Menschen, die über ihren Betrieb versichert sind, bleiben angewiesen auf den beschränkten Kreis von Leistungsanbietern, zu dem ihre Versicherung ihnen Zugang verschafft: Sie werden sich mit steigenden Kosten und einer Verschlechterung der Leistungen konfrontiert sehen. Viele, wenn nicht die Mehrzahl, werden in dem Maße, wie die Versicherungsprämien steigen, Steuern darauf zahlen müssen.1
- Die Gesundheitskosten werden weiter steigen, das zeigt die Erfahrung im Bundesstaat Massachussetts [auf dessen Regelungen das neue Gesetz zurückgreift].2
- Die so hoch gepriesene Regelung, dass Versicherungsgesellschaften den Versicherungsschutz nicht aufgrund bestehender Krankheiten verweigern dürfen, ist voller Fallstricke, die damit zusammen hängen, dass die Versicherungen an der Formulierung des Gesetzs wesentlich beteiligt waren. Von älteren Menschen dürfen sie z.B. dreimal höhere Versicherungsbeiträge fordern als von jüngeren. Auch Gesellschaften, die vor allem berufstätige Frauen versichern, können bis 2017 mit der Begründung ihres Geschlechts höhere Beiträge fordern.
- Die Reproduktionsrechte der Frauen wurden weiter ausgehöhlt, weil die Versicherungen die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche nicht übernehmen dürfen.
Es hätte nicht so kommen müssen.
Positive Maßnahmen, die in dem neuen Gesetz enthalten sind, wie die bessere finanzielle Ausstattung der Gesundheitszentren in den Gemeinden, hätten auch als Einzelmaßnahme durchgesetzt werden können.
Auch die Ausweitung des von Medicaid3 garantierten Schutzes hätte getrennt auf den Weg gebracht werden können, begleitet von zentralen Vorgaben zur Verbesserung der Leistungen in diesem Programm. Das Programm bietet den Armen eine Gesundheitsversorgung unter Niveau und ist unterfinanziert.
Stattdessen haben Kongress und Administration den Amerikanern ein teures Paket aufgehalst, das beinhaltet: die teure Pflicht, sich privat zu versichern; neue Steuern auf die Versicherungspakete der abhängig Beschäftigten; eine unübersehbare Menge von Deals, die für die privaten Versicherer und die Pharmaindustrie sehr vorteilhaft sind; und schließlich die Beibehaltung eines fragmentierten Systems, das nicht funktioniert, auf Dauer untragbar ist und Gesundheitsversorgung und Wirtschaft heute schwer belastet.
Die Durchsetzung dieses Gesetzes folgte politischen Erwägungen, nicht solchen einer soliden Gesundheitspolitik. Als Ärzte können wir eine solche Umkehrung der Prioritäten nicht akzeptieren. Wir suchen nach erprobten Mitteln, die den Kranken wirklich helfen, nicht Placebos.
Ein Mittel gegen die derzeitigen Probleme ist wohl bekannt. Früher oder später muss unsere Nation ein einheitliches gesetzliches Krankenversicherungssystem annehmen, ein verbessertes Medicare4, das für alle gilt. Nur eine Einheitsversicherung kann einen universellen, vollständigen und für alle tragbaren Schutz sichern.
Wenn wir anstelle der privaten Versicherungsgesellschaften ein kohärentes System der öffentlichen Finanzierung hätten, könnte unsere Nation jedes Jahr 400 Mrd. Dollar Verwaltungskosten sparen, die reine Verschwendung sind. Damit könnte allen Menschen, die heute nicht versichert sind, ein Gesundheitsschutz geboten und der der bereits Versicherten verbessert werden, ohne dass die Gesundheitsausgaben der USA um einen Cent steigen müssten.
Ein System, das nur eine Versicherung für alle kennt, kann die Kosten durch Großeinkäufe, Honorarvereinbarungen, globale Budgets für die Krankenhäuser und Investitionsplanungen wirksam kontrollieren.
Die Meinungsumfragen zeigen, dass zwei Drittel der Öffentlichkeit einen solchen Ansatz unterstützen. Nach neuesten Umfragen unterstützen 59% der amerikanischen Ärzte öffentliche Aktionen für eine gesetzliche Krankenversicherung. Das einzige was fehlt, sie durchzusetzen, ist der politische Wille.
Die wichtigsten Maßnahmen des neuen Gesetzes treten erst 2014 in Kraft. Man könnte vorschlagen abzuwarten, um zu sehen, wie sich die Reform entwickelt. Aber wir können nicht warten, auch nicht unsere Patienten. Der Preis ist zu hoch.
Wir werden unseren Kampf für das einzige gerechte, finanziell und menschlich verantwortbare Mittel gegen unsere Misswirtschaft in Sachen Gesundheit fortsetzen: eine gesetzliche Einheitsversicherung, eine verbesserte Ausgabe von Medicare für alle.
Quelle: www.pnhp.org/
Anmerkungen:
1. Da die meisten Menschen über ihren Arbeitgeber versichert sind, gibt es keine freie Wahl des Arztes oder Krankenhauses. Bislang mussten auf die von den Betrieben angebotenen Versicherungspakete keine Steuern gezahlt werden. Das neue Gesetz will sie in Zukunft besteuern.
2. Der Bundesstaat Massachusetts hat 2009 die private Pflichtversicherung eingeführt. Sie bildet auch das Herzstück des Gesundheitsgesetzes vom 22.März 2010.
3. Medicaid wurde 1965 eingeführt. Es bietet Menschen mit sehr geringem Einkommen einen minimalen Gesundheitsschutz. Anders als Medicare wird Medicaid von den Bundesstaaten, nicht von der Zentralregierung, verwaltet. Zugangsvoraussetzungen und Leistungen weichen in den einzelnen Bundesstaaten stark voneinander ab.
4. Medicare ist ein nationaler Gesundheitszweig, das 1965 eingerichtet wurde und allen Menschen über 65 Jahre eine gesundheitliche Grundversorgung garantiert. Es finanziert sich im Wesentlichen aus Lohnanteilen, die zur Hälfte vom Lohn abgezogen, zur anderen Hälfte vom Arbeitgeber direkt bezahlt werden.
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