Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2010
Solidarität mit dem griechischen Volk ist die beste Anlage
von Pascal Franchet

Die Lesart der Eurokrise durch die Medien muss zurückgewiesen werden. Die Sparprogramme lösen die aufgeworfenen Probleme nicht im Mindesten.

So stellt sich die Krise des Euro für die Presse und die Regierungen dar: Der griechische Staat hat das wahre Ausmaß der Verschuldung verheimlicht, um 2001 in die Eurozone aufgenommen zu werden. Nach der «Enthüllung» dieses Sachverhalts durch die Regierung Pasok im vergangenen Dezember und angesichts der «unbezahlbaren» Schulden des griechischen Staates und seines «kolossalen» Haushaltsdefizits sind die Ratingagenturen und die Finanzmärkte aggressiv gegen die Staatsschulden vorgegangen, haben, Wachhunden gleich, Kreditausfallversicherungen auf sie losgelassen und fantastische Risikozuschläge auf die Staatsanleihen gefordert.

Die neuen Wucherzinsen - bis zu 18,5% auf Staatsanleihen mit zweijähriger Laufzeit - haben dem Staat jede Möglichkeit genommen, neue Schulden aufzunehmen. Der erste von der Regierung Papandreou angeregte Sparplan wurde für unzureichend gehalten. Trotz deutscher Bedenken sind EU und IWF dem griechischen Staat zuhilfe geeilt und haben einen Rettungsplan angenommen, der von einem zweiten, noch größeren Sparpaket begleitet wurde.

Die Krise hat einen Schneeballeffekt; andere Länder müssen ebenfalls Angriffe auf ihre Staatsanleihen fürchten. Alle europäischen Länder werden Maßnahmen ergreifen müssen, um ihre «untragbaren» Staatsschulden einzudämmen.

Aus der Sicht der Arbeitswelt stellt sich die Sache anders dar: Griechenland ist nicht das einzige Land, das seine Statistiken mit Hilfe von Goldman Sachs aufgehübscht hat, auch Frankreich und Deutschland haben sich als Experten in der Verschleierung von Schulden erwiesen und haben Mittel und Wege gefunden, von 2003 an den Mechanismus, den der Stabilitätspakt für den Fall der Überschreitung der Defizitgrenzen vorsieht, auszuhebeln. Sie selbst hatten diesen Mechanismus durchgesetzt, als der Euro beschlossen wurde.

Die «untragbare» Schuldenlast und das «kolossale» Defizit werden andererseits von der deutschen wie von der französischen Regierung schon seit Jahren zum Anlass genommen, um den Abbau des öffentlichen Dienstes und die Schleifung des Sozialstaats zu rechtfertigen.

Daher drängen sich drei Fragen auf:
* Woher kommen die Schulden?
* Was wurde damit finanziert?
* Wer hat davon profitiert?

Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, wird man sich fragen müssen, ob die Schulden legitim sind und ob sie eventuell gestrichen werden sollten.

Theoretisch kann die öffentliche Verschuldung zwei Zwecken dienen:
* Es können damit Investitionen oder öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert werden, die aus dem laufenden Haushalt nicht bezahlt werden können - z.B. große Bauvorhaben, Umweltprojekte, Maßnahmen im Gesundheits- oder Bildungswesen…
* Oder es wird damit ein Haushaltsloch gestopft. In den OECD-Ländern haben die Staatsschulden fast ausschließlich dazu gedient, Haushaltslöcher zu stopfen. Mit den aufgenommenen Anleihen wurden weder große Bauvorhaben, noch Infrastrukturmaßnahmen finanziert. In Frankreich sind die Gemeinden die einzigen, die sichtbar Investitionen vorgenommen haben.

Die Ursachen für die steigenden Staatsschulden sind deshalb in den sinkenden Steuereinnahmen zu suchen, bei gleichzeitig kaum gesunkenen öffentlichen Ausgaben. Seit dem Jahr 2000 wurde in Frankreich:

* der Spitzensteuersatz von 56,8% auf 40% gesenkt - das bedeutet jährlich Einnahmeverluste von 20 Mrd. Euro;
* die Körperschaftsteuer von 50% (1995) auf 33,3% (2007) gesenkt - das kostet jährlich 22,5 Mrd. Euro;
* die Steuerschlupflöcher kosten 36,5 Mrd. Euro;
* die Senkung der Mehrwertsteuer im Hotel- und Gastsstättengewerbe kostet pro Jahr 2,5 Mrd.;

* die Übernahme der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung durch den Staat kostet jährlich 42 Mrd.
Zusammen genommen beliefen sich die Mindereinnahmen Frankreichs im Jahr 2009 somit auf 123,5 Mrd. Euro - hinzu kommen 43 Mrd. Euro, die für den Schuldendienst aufgebracht werden mussten.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die öffentliche Verschuldung der Länder des Nordens erheblich verschärft, vornehmlich aus drei Gründen:
* das Steueraufkommen ist wegen des Wirtschaftsabschwungs zurückgegangen;
* die Steuergeschenke wurden nochmals ausgeweitet - trotz einer bereits sozial ungerechten Verteilung der Steuerlast;
* die Kosten für die Rettungs- und Konjunkturpakete schlagen sich im Haushalt nieder.

Wer profitiert von den Schulden? Dieselben, die bereits von den Steuersenkungen profitierten. Die haben wohlhabenden Haushalten und großen Konzernen zusätzliche Einsparungen ermöglicht. Der große Schuldenbaum sollte allerdings nicht den Blick auf den Wald der Schuldengewinner verstellen. Zu Recht werden jetzt Rating-Agenturen, Finanzmärkte, Banken und andere Händler von Finanzpapieren gegeißelt.

Darüber geraten jedoch wesentliche Fragen in Vergessenheit:
* Woher kommt das Eigenkapital der Banken?
* Wer entscheidet über spekulative anstelle von produktiven Investitionen? Sind das nicht die multinationalen Konzerne, die Halter der sog. Realwirtschaft?
* Wer zahlt für das in der Wirtschaftskrise zerbrochene Porzellan?

Von der Warte aus gesehen stellen sich die Staatsschulden ganz anders dar, als man uns glauben machen möchte. Diese Krise ist weder eine der Griechen, noch eine der Industrieländer, sondern eine des globalisierten Kapitalismus! Die Weltwirtschaftskrise, die von der Finanzkrise 2007–2008 offengelegt wurde, ist nicht zu Ende, aus einem einfachen Grund: Der ihr zugrundeliegende Mechanismus ist immer noch am Werk, und die Verantwortlichen sind, trotz aller Gipfeltreffen, weit davon entfernt, ihn zu stoppen, im Gegenteil: Sie treten die Flucht nach vorn an.

Erfahrungen des Südens

Wie die Strukturanpassungspläne des IWF für die Länder des Südens ab den 80er Jahren deren Wirtschaften nicht auf die Beine geholfen haben, so werden auch die Sparpläne, die jetzt für die Länder des Nordens ausgeheckt werden, diesen nicht aus der Krise helfen.

Im Süden haben die Strukturanpassungspläne das Gegenteil von dem bewirkt, was damit vorgeblich bezweckt wurde:
* Gemessen am Ausgangsjahr 1970 wuchsen die Schuldenbestände bis 2006 auf das 48fache;
* die Schulden wurden zum Teil 102fach zurückgezahlt (Zahlen des IWF von 2007);
* Die Schulden der Länder des Südens wurden zu einem Instrument der Herrschaft des Nordens über den Süden (Postkolonialismus);
* Die nationalen Ökonomien wurden dadurch gezwungen, sich auf den Export zu orientieren - zum Nutzen der multinationalen Konzerne und zum Schaden der lokalen Produktion.
* Die schuldenbedingte Exportorientierung hat die Bevölkerungen in den Ländern des Südens in besonderem Maße den Risiken der Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation 2008 ausgesetzt - zwischen 2008 und 2009 ist die Zahl der Hungernden um über 100 Millionen gestiegen, auf über eine Milliarde Menschen weltweit.
* Die Strukturanpassungspläne des IWF haben die Ökonomien der Länder des Südens bis zum Exzess liberalisiert, Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst vernichtet, alles was ging privatisiert und die Bevölkerungen unter das Joch der Länder des Nordens gebeugt.

Die Sparpläne, die nun in Europa um sich greifen - angefangen von Osteuropa vor zwei Jahren bis zu Irland, Griechenland, Spanien und Portugal heute, die restlichen Länder morgen - haben viel mit den Strukturanpassungsplänen gemeinsam. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst stehen als erste auf der Abschussliste, so wie jetzt in Griechenland; die Bevölkerung soll dadurch gespalten werden. Doch auch bei den Beschäftigten in der Privatindustrie geraten Kaufkraft, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen ins Visier der Sparkommissare.

Der französische Premierminister hat am 16.Mai einen harten Sparplan und eine «Rentenreform» verkündet. In den Ländern Südeuropas sind die Massensteuern gestiegen, insbesondere die Mehrwertsteuer, deren Anwendungsbereich ausgeweitet werden soll; in Griechenland steigt die MWSt von 19% auf 23%. Subventionen für Grundnahrungsmittel werden gestrichen. Die öffentlichen Dienstleistungen sind in Südeuropa massiv privatisiert worden. Wasser-, Energie- und Transportbetriebe wurden verramscht. Es gibt hier also sehr große Ähnlichkeiten zwischen den Strukturanpassungsplänen des IWF und den Sparplänen in der EU.

Wer hält die griechischen Staatsanleihen?

Das Rettungspaket von EU/IWF kommt nicht wirklich Griechenland zu Hilfe oder einem anderen Land, das in Schwierigkeiten steckt, sondern den Banken, vor allem den französischen und deutschen. Diese halten einen großen Teil der griechischen Staatsanleihen. Angela Merkel, Nikolas Sarkozy, Barak Obama - jeder singt seine eigene Melodie, nach der die Märkte «saniert» werden sollen.

In den internationalen Finanzinstitutionen ist sogar eine Debatte über die Erhebung einer Finanztransaktionssteuer ausgebrochen. Was davon zu halten ist, lässt sich beim IWF-Direktor für öffentliche Finanzen, Carlo Cotarelli, auf dem Blog des IWF nachlesen:

«Wenn es eine Lehre gibt, die aus der Geschichte des Finanzsektors zu ziehen ist, ist es die: Niemand soll sich einbilden, er sei vor Zahlungsunfähigkeit und Krisen geschützt. Wenn der Finanzstabilisierungsbeitrag [auch Bankenabgabe genannt] je nach den Risiken [die ein Institut eingegangen ist] angemessen gewichtet wird, werden die Länder, deren Finanzsystem sicherer ist, auch weniger einzahlen müssen. Vor allem wollen wir um keinen Preis den Finanzsektor durch zu hohe Belastungen einschränken oder ersticken: wie die Nahrungsmittelkette ist er zu lebensnotwendig für das Wachstum der Wirtschaft.»

Wenn dem so ist, dann ist der Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die Sparpläne aus den Häusern EU/IWF/Pasok nur allzu gerechtfertigt. Sie werden die von der Wirtschafts- und Finanzkrise aufgeworfenen Probleme nicht im Mindesten lösen.

Das gemeinsame Interesse der Lohnabhängigen in allen Ländern des Nordens ist es, gestützt auf die katastrophalen Erfahrungen der Länder des Südens, in den sozialen Kampf zu investieren, Seite an Seite mit den griechischen Arbeitern.

Pascal Franchet ist stellvertretender Vorsitzender des Komitees für die Streichung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) in Frankreich. www.cadtm.org/

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