Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt
Hamburg/Berlin: Assoziation A
von Jochen Gester
Dieses Buch hat mir sehr gefallen. Zum einen wird das Thema nicht auf akademische Art und Weise abgehandelt. Die Entstehung der gewerkschaftlichen Organizing-Konzepte und ihre Philosophie werden zwar sozialwissenschaftlich vorgetragen, doch geschieht dies nicht nur auf Basis der Papierlage, sondern nach Maßgabe eigener sozialer Erfahrungen.
Peter Birke hat viele Jahre als Drucker gearbeitet und in verschiedenen Betrieben gewerkschaftliche Erfahrungen gesammelt. Er hat auch Einblicke in die sozialen Bewegungen. Praktischen Zugang zum Organizing bekam er durch eigene Teilnahme, intensive Diskussion mit Freunden, die zu Organizern wurden, und durch zwei Dutzend intensiver Gespräche mit betrieblichen Aktiven, anderen Organizern sowie Gewerkschaftsfunktionären und Wissenschaftlern, darunter auch wichtige Vertreter dieser Praxis in den USA.
Der Blickwinkel des Autors ist die Sicht des abhängig arbeitenden Individuums, und er sucht nach Formen kollektiver Gegenwehr, die sich nicht instrumentalisieren lassen. In einer ersten Antwort auf die Frage: «Was ist Organizing?» stellt der Autor das Konzept in einen historischen Kontext. Dieser führt ihn zu den anfangs noch im Auftrag der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM durchgeführten militanten Untersuchungen des frühen Operaismus und zu den Selbstzeugnissen der französischen Gruppe «Socialisme ou Barberie». In diesem Kontext behandelt er aber auch ein Projekt, das die IG Metall Anfang der 60er Jahre bei den Kölner Ford-Werken initiierte und bei dem es neben der Mitgliedergewinnung auch um eine neue Form aktiverer Betriebspolitik ging.
Birke stellt sodann die Frage: «Was sind Gewerkschaften?» und zeichnet ein Bild der Handlungslogik der real existierenden Verbände. Als Schlussfolgerung daraus entwickelt er eine alternative Vorstellung, wie sich emanzipatives gewerkschaftliches Handeln von der üblichen Praxis unterscheiden sollte. Unter dem Titel «Die Krise der Gewerkschaften» werden im zweiten Kapitel des Buches neue, aus dieser Krise geborene, Ansätze vorgestellt: der Social Movement Unionism, die worker centers und die neue Strategie von US-Gewerkschaften wie SEIU und UNI, Gewerkschaftsrechte und andere Konzernstandards auf globaler Ebene durchzusetzen.
Peter Birke vermag schlüssig zu erklären, warum das Konzept des Organizing aus den Nöten der angelsächsischen Gewerkschaften entstanden ist. Erprobt wurde es vor allem in der Politik der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, deren Organisationserfolge eine Art Initialzündung waren für den Export des Organizing-Konzepts nach Europa. Gerade am Beispiel der SEIU wird jedoch auch deutlich, wie und warum diese Erfolge auch wieder zunichte gemacht werden können. Im dritten Teil des Buches werden die wichtigsten Organizing-Kampagnen vorgestellt, die bisher in der Bundesrepublik durchgeführt wurden. Die Organisatoren kommen zu Wort, der Autor reflektiert sodann Voraussetzungen, Widersprüche und Grenzen der Kampagnen.
Eine wichtige Rolle spielte die erste und sehr erfolgreiche Schlecker-Kampagne im Mannheimer Raum, die noch ganz ohne theoretische Befruchtung aus den USA stattfand. Ganz im neuen Geiste wurde dann eine Kampagne an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ins Leben gerufen. Man erfährt, wie die Organizer verkrustete Strukturen aufbrachen, die aus Ohnmachtserlebnissen und Enttäuschungen der Beschäftigten hervorgingen, und welche Hindernisse ihnen dabei im Weg standen. Einem Praxistest unterzogen werden auch die Citi-Bank- und die Lidl-Kampagne von Ver.di sowie der ebenfalls von Ver.di getragene Organizing-Versuch im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe. Erwähnt werden außerdem Organizing-Ansätze im Organisationsbereich der IG BAU sowie Überlegungen innerhalb der IG Metall, das Organizing zu einem Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeit der Sekretäre zu machen.
Birke benennt die Widersprüche, die es zwischen den oft prekären Organizern und den gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretungen gibt. Deren Behandlung hat für die Entwicklung selbstermächtigen Handelns der Belegschaften eine große Bedeutung. Abschließend resümiert der Autor:
«Organizer sitzen innerhalb der Gewerkschaften irgendwie immer rittlings auf der Barrikade. Ein Plädoyer für Organizing, dem ich mich gern anschließe, muss deshalb eine genauere Positionierung beinhalten, die sich nicht aus sich selbst ergibt, sondern wesentlich aus dem Verhältnis, das die Organizing-Projekte zu den sozialen und gesellschaftlichen Konflikten entwickeln, denen sie im betrieblichen Alltag konkret begegnen.»
Das Buch eignet sich wenig als Ratgeberlektüre für Gewerkschaftsvorstände. Es wird auch die akademischen Diskurse nicht zu neuen Paradigmen führen. Es ist aber von Nutzen für alle sozialen Akteure, die nach Wegen zu kollektiver Selbstermächtigung suchen.
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