von Norbert Kollenda
Neulich schrieb mir jemand: «Das Flugzeug nach Smolensk bestieg ein kleiner, streitsüchtiger, fremdenfeindlicher und mittelmäßiger Politiker, Autor solche Aussagen wie: ‹Verpiss dich Alter›, ‹Roter Affe›, ‹Frau, ich mach Sie fertig!›, der nicht einmal den Refrain unserer Nationalhymne kennt. Belächelt nicht nur von den Satirikern und eine Witzfigur in ganz Europa, ein Dilettant und ein Präsident mit einem rekordverdächtig niedrigem Ansehen in der Gesellschaft.
Im Sarg aus Smolensk kam ein ‹hervorragender Staatsmann›, ein ‹Patriot›, ein ‹Held›, ‹Vater der Nation›, der ‹größte Pole den Königen gleich›. Ich frage mich wer hat die Leiche vertauscht? Wo ist die Leiche des echten Präsidenten Kaczynski?»
Diese Frage stellen sich viele. War doch allgemein bekannt, dass die Zufriedenheit der Polen mit ihrem Präsidenten bei 20% lag, viele sich schämten, solch einen Repräsentanten zu haben. Nach dem ersten Schock verwandelte sich mit einem Mal das Bild. Danach rieben sich viele Polen die Augen, als sie sehen und hören mussten, welch ein bedeutender Staatsmann und Held ihr verunglückter Präsident war. Ja, der Krakauer Kardinal verfügte gar, dass er den Königen und Helden gleich mit seiner Gattin in der Krypta der Königsburg Wawel eine würdige Ruhestätte fand. Obwohl sein Vorgänger ausdrücklich betont hatte, dass die Krypta voll belegt sei.
Die Regierungsmaschine war bei Katyn abgestürzt. Katyn hat für Polen eine große symbolische Bedeutung. Dort wurden auf Befehl Stalins am 5.März 1940 mindestens 21768 polnische Bürger hingerichtet - viele sprechen von der damaligen Elite Polens. Die Machthaber im Kreml hatten diese Ermordung den Nazis in die Schuhe geschoben, und auch Russland hat einige Probleme, die Schuld voll einzugestehen.
Jetzt stürzt die Regierungsmaschine bei Katyn ab. Für die ultrakonservativen katholischen Medien um Pater Rydzyk und das öffentliche Fernsehen - die PiS-Zwillinge haben die Spitzenämter durch ihre Leute besetzen lassen - war dies ein zweites Katyn. Die Elite Polens saß nämlich im Flugzeug - zumindest ein Teil davon; es waren vor allem von Kaczynski eingesetzte Amtsträger.
Mit dem Phänomen dieser Nationaltrauer beschäftigte sich auch der Psychologe und Soziologe Janusz Czapi. Nach seiner Meinung haben alle Menschen das Bedürfnis nach einer Identifikation mit einer Gruppe in der Gesellschaft. Die Polen hätten zwei Bezugspunkte. Der eine sei die kleine Gruppe, die Familie, der andere die Nation. Das Ereignis war nun für viele Menschen Anlass, ihre starke emotionale Bindung zur Nation zu unterstreichen. Der Nation wurde ein Schlag versetzt und ich demonstriere meine starken Gefühle für mein Land.
Die Polen trügen in sich eine gewisse Dosis an Komplexen. Und so wie es auch einzelnen Menschen dieses Typs geht, die zudem unsicher sind, ob sie Recht haben, tun sie ihre Meinung besonders laut und mit Nachdruck kund. (Dies passierte z.B. auch bei Audienzen mit dem polnischen Papst, als seine Landsleute besonders laut zu seiner Begrüßung kreischten.) Nun steht ein Pole neben dem anderen in der Trauer und es herrscht eine sehr freundschaftliche Atmosphäre - das für Polen typische Misstrauen gibt es nicht, weil das Gefühl vorherrscht, man sei unter Freunden, habe die gleichen Ansichten und den gleichen Seelenzustand.
Es dürfe auch nicht vergessen werden, schreibt Czapi, dass die Polen hier nicht den Präsidenten Kaczynski beweint haben, sondern das Symbol, das Staatsoberhaupt. Im Grunde genommen trauerten sie darum, dass Polen wieder in Katyn ein Schlag versetzt wurde. Die Mehrheit der Polen hätte ihre Meinung über den Präsidenten nicht geändert, aber die Medien und die Anhänger der Partei «Recht und Gerechtigkeit» versuchten den Menschen einzureden, welch großer Held ihr Präsident war.
Und schon erheben sich aus ihren Reihen Stimmen, die Menschen verteufeln, die nicht dieser Auffassung sind. Diese, nicht die anderen, sind die wahren Patrioten.
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