von Francesca Borrelli
«Es gibt solche, die schreiben, um den Tod fernzuhalten», meinte einmal der portugiesische Dichter José Saramago, «ich tue es, um den Anderen kennenzulernen».
Saramago war 87 Jahre alt und an Leukämie erkrankt. Der Tod ereilte ihn auf Lanzarote, wohin er nach dem Streit um die Veröffentlichung seines Buches Das Evangelium nach Jesus Christus gezogen war.
Von seinem Werk wird viel bleiben, besonders die Allegorie des menschlichen Daseins, die er mit dem Roman Die Stadt der Blinden begonnen hat. Erst spät widmete er sich ausschließlich der Literatur – als er durch seinen militanten Kommunismus, aus dem er nie ein Hehl gemacht hat, seine Arbeit als Journalist verlor. 1998 gewann er den Nobelpreis.
Alle großen Dichter haben einen wiedererkennbaren Stil, aber José Saramago verstand es, für das Ohr des Lesers eine Musikalität zu schaffen – den richtigen Rhythmus zu finden, um sich mit Gedanken vertraut zu machen –, die von einer unwiderstehlichen idealen Spannung getragen wurde. Das Beste, das uns der portugiesische Autor hinterlassen hast, stellt sich wie eine Allegorie des menschlichen Daseins dar, in einer Zeit, in der dieses Dasein äußerst brüchig ist. Die Brüchigkeit entsteht durch das Wissen um den Abstand zwischen dem Vielen, das uns die Konsumgesellschaft verspricht, und dem Wenigen, das sie tatsächlich bietet, aber auch durch das, was wir sehen wollen und das, was wir bewusst ausblenden.
Im Kopf der Leser werden viele einzelne Werke des Autors überleben, die unverzichtbaren hat Saramago jedoch selbst implizit als «unfreiwillige Trilogie» hinterlassen. Den ersten Teil davon nannte er Die Stadt der Blinden, in Anspielung auf die Krise der Vernunft; den zentralen Bestandteil der Trilogie bildet der Roman Alle Namen, der auf unsere unsicheren Identitäten verweist. Den Abschluss bildet der Roman Das Zentrum (Originaltitel A Caverna – «Die Höhle»). Vor dem Hintergrund von Platons Höhlengleichnis geht es darin um die Materialität der Lebensumstände in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft. Nicht zufällig ist ein riesiges Einkaufszentrum Schauplatz des Geschehens, das jedem Wunsch zuvorkommen kann und alle Romanfiguren, eine nach der anderen, in seinen dunklen Bann zieht.
Die Romanfiguren
Der Nobelpreis brachte Saramago wenig zusätzlichen Ruhm, denn schon vorher gehörten seine Werke zum klassischen Kanon. Der portugiesische Autor war schwierig, besessen, er scherte sich nicht darum, seine Werke mit Elementen zu versehen, die Leser anlocken. Seit Jahren war er Kult für Kritiker und solche Leser, die er mit seiner außerordentlichen narrativen Intelligenz erobert hatte, mit der er über die Jahre seine Variationen über eine moderne Apokalypse komponierte. Gerne reflektierte er über den existenziellen Status des allwissenden Erzählers, dem er in seinen Romanen oftmals die Stimme lieh, und versagte ihm Unabhängigkeit vom eisernen Willen des Autors: also von ihm selbst. Ähnlich wie Vladimir Nabokov betrachtete auch er all seinen Figuren als Sklaven, die über die Ruder eines Bootes gebeugt sind, dessen Richtung er allein bestimmt: Die romantischen Diskurse von Autoren, die meinen, ihre Romanfiguren führten ein eigenes Leben, fand er lächerlich. «Ich möchte, dass die Leser verstehen und wissen, dass die Stimme und die Absicht des Autors in all dem gegenwärtig ist, was auf einer Seite geschrieben steht, denn aus meiner Sicht ist der Erzähler nichts anderes als die Stimme einer Geschichte, die nicht die seine ist und vom Autor je nach seinen Bedürfnissen benutzt wird», sagte mir Saramago in einem unserer Gespräche. «Das heißt nicht, dass die Figuren nicht über eine gewisse Autonomie verfügen, aber es ist alles relativ. Ihre Unabhängigkeit besteht nur darin, dass der Autor sie nicht dazu zwingen kann, gegen die Logik des Erzählgeflechts zu agieren, weiter nichts.»
Nach einem frühen Beginn als Schriftsteller im Jahr 1947 (im Alter von 25 Jahren) mit der Novelle Terra do Pecado («Land der Sünde») wandte er sich viele Jahre dem Journalismus zu. Dies erlaubte ihm eine schnelle Schreibweise und die Pflege seines politischen Engagements, das ihn zeitlebens begleiten sollte. Als sich jedoch nach der Nelkenrevolution die radikaleren politischen Strömungen auflösten und er als Kommunist seine Stelle verlor, begann er wieder, Bücher zu schreiben.
1977 erschien in Lissabon sein Handbuch der Malerei und Kalligraphie. Darin erzählt er die Konversion eines Künstlers zur Schriftstellerei – weniger als endlich gewonnene Ausdrucksweise, sondern als Abtötung einer Einbildungskraft, die sich unwiderruflichen Normen unterwirft.
Dialoge ohne Kommata
Saramago wird wohl für eine stilistische Besonderheit erinnert werden, die seine Verwendung von Dialogen betrifft, die er in seinen Erzählfluss ohne Anführungszeichen oder andere Erkennungsmerkmale einfügt. Damit begann er zu der Zeit, als er das Gerüst für das Buch Hoffnung im Alentejo entwarf – das Ergebnis von Gesprächen mit Bauern, die zu den Protagonisten des Buches werden sollten und deren Stimmen Saramago ganz eng mit dem Kern des Geschehens verbinden wollte. Die Protagonisten führen ein ärmliches Dasein, zusammen mit ihren Tieren, im verzweifelten Kampf gegen die Brutalität eines diktatorischen Regimes. Diese Bauern sollen zu Solisten in dem Chor werden, den Saramago mit seinen Figuren in Zukunft schaffen wird – alle derselben Musikalität einer Prosa unterworfen, die keine Unterbrechung zwischen dem Gesprochenen und dem Rest der Handlung kennt.
Exil auf Lanzarote
Als Portugal sich auf den EU-Beitritt vorbereitet, treten erneut die politischen Ambitionen Saramagos in den Vordergrund. Die Kritik des Autors kommt prompt und materialisiert sich in dem Buch Das steinerne Floß (1986), in dem er die spezifische historisch-kulturelle Natur der iberischen Halbinsel, die zwischen Afrika und Amerika liegt, als ideale Voraussetzung präsentiert, um eine Art Brückenfunktion zum Süden der Welt einzunehmen.
Als 1991 sein Buch Das Evangelium nach Jesus Christus auf heftige Kritik in Portugal und in der katholischen Welt stößt (es wurde sogar für blasphemisch erklärt) und ihm 1992 die portugiesische Regierung die Teilnahme am europäischen Literaturpreis verwehrt, zieht er sich freiwillig auf die Insel Lanzarote zurück, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte.
Aus: Il Manifesto (Rom) vom 19.6.2010 (Übersetzung: ah).
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