von Klaus Engert
In Frankreich gibt es seit einiger Zeit die Zeitschrift Décroissance (Schrumpfung) sowie eine entsprechende Bewegung. Angesichts des drohenden ökologischen Kollapses und der nicht erst seit dem Desaster im Golf von Mexiko immer offener zutage tretenden «Kollateralschäden» einer Wirtschaftsordnung, die mit immer aggressiveren und damit gefährlicheren Methoden Bodenschätze, insbesondere fossile Brennstoffe, ausbeutet, ist die in der SoZ in den letzten Ausgaben begonnene Debatte um die Zukunft der kapitalistischen Industriegesellschaft allerorten im Gange.
Prinzipiell gibt es – sieht man einmal von den systemaffirmativen Verharmlosern, Fortschrittsgläubigen und Technikfetischisten ab – hierzulande dabei drei Positionen:
Zum einen jene, die wie Saral Sarkar (siehe SoZ 6/10) und andere, einen «Rückbau» der Industriegesellschaft im Sinne einer «planmäßigen Schrumpfung» fordern und gleichzeitig, wie Bruno Kern, in Abrede stellen, dass dies durch einen Zugewinn an Freizeit, Reduktion von Arbeitszeit und damit Zuwachs an sozialem Leben kompensiert werden kann.
Zum zweiten jene, die, wie Peter Kämmerling in SoZ 5/10 behaupten, es stehe genug «saubere» Energie zur Verfügung und ein Verzicht sei «gar nicht nötig». Eine dritte Position möchte ich hier in Auseinandersetzung mit den zitierten Ansätzen erläutern.
Prämissen
Zunächst muss man ein paar Dinge klarstellen:
– Dass eine drastische Reduktion des Ausstoßes klimaschädlicher Gase (nicht nur von Kohlendioxid!) um 80–90% bis 2050 erreicht werden muss, weil sonst ein sich selbst unterhaltender, irreversibler Prozess droht, der weite Teile des Globus unbewohnbar machen wird, wird von keinem seriösen Klimaforscher mehr ernsthaft bestritten. Alle Lösungsansätze müssen sich an diesem Ziel orientieren, sonst sind sie schlicht unbrauchbar.
– Dass eine solche Reduktion nicht ausschließlich durch Ersetzung der fossilen Energieträger mit «sauberen» Energiequellen möglich ist, ist ebenfalls eine Tatsache. Der Grund ist der, dass auch die Klimabilanz der Solar-, Erdwärme- und Windenergie (auch der Biogasnutzung, soweit sie sich nicht auf die Verarbeitung sonst in die Atmosphäre gelangender Faul- und «Ab»gase beschränkt) – nimmt man die gesamte Produktionskette, von der Förderung der Grundstoffe für die Anlagen über die Produktion der technischen Artefakte bis hin zu Transport und Installation – negativ ist, in unterschiedlichem Ausmaß.
– Der menschengemachte Klimawandel ist nur ein Teil – wenn auch derzeit der bedrohlichste – des drohenden ökologischen Kollapses.
– Extrapoliert man den heutigen Lebensstandard der entwickelten Industrieländer weltweit, hätten wir den ökologischen Kollaps schon längst gehabt.
Bedürfnisse
Ohne eine nicht nur ökonomistische, sondern auch sozialpsychologische Rezeption der herrschenden Gesellschaftsordnung kann man dem Problem nicht zuleibe rücken: Der dem kapitalistischen System inhärente Wachstumszwang, die Notwendigkeit der ständigen und immer schnelleren Rückführung der erzielten Profite in den Verwertungskreislauf bedingt, dass nicht einfach bestehende Bedürfnisse befriedigt werden. Er bedingt, daß Bedürfnisse regelrecht «gemacht» werden. Es sei an dieser Stelle Walter J. Thompson zitiert, sozusagen der Nestor der US-amerikanischen Werbewirtschaft. Er sagte vor gut 20 Jahren:
«Sobald die Einkommen steigen, ist die Schaffung neuer Bedürfnisse das wichtigste. Wenn Sie die Leute fragen: ‹Wissen Sie, dass sich Ihr Lebensstandard in 10 Jahren um 50% erhöhen wird?›, dann haben sie nicht die geringste Ahnung, was das bedeutet. Sie haben kein Bedürfnis nach einem Zweitwagen, sofern man sie nicht daran erinnert. Dieses Bedürfnis muss bei ihnen hervorgerufen werden, und man muss ihnen den Vorteil begreiflich machen, zu dem ein Zweitwagen ihnen verhelfen wird. Manchmal sind sie sogar völlig dagegen. Ich betrachte die Werbung als eine Erziehungs- und Aktivierungskraft, die in der Lage ist, die für uns notwendigen Nachfrageveränderungen einzuleiten. Indem sie vielen Leuten einen höheren Lebensstandard beibringt, steigert sie den Konsum bis zu dem Grad, dem unsere Produktivität und unsere Ressourcen gerecht werden.»
Vielleicht sollte dieses Zitat Anlass bieten, den von Peter Kämmerling inkriminierten «Verzicht» einmal unter einem anderen Aspekt zu betrachten, nämlich unter dem, welche von den «Bedürfnissen», die die Menschen in unserer Industriegesellschaft als selbstverständlich ansehen, gar keine «authentischen» Bedürfnisse sind. Darüber hinaus gibt es natürlich auch noch solche Bedürfnisse, die schlicht nicht bei «allen» befriedigt werden können. Oder sollten in Zukunft alle Weltbewohner in ihrem Urlaub eine Fernreise mit dem Jet antreten? Sollte die Welt mit einem Netz von stromfressenden Hochgeschwindigkeitszügen in europäischer Dichte überzogen werden?
Eine Debatte (die übrigens vor 40 Jahren unter dem Label «gegen den Konsumterror» begonnen hat) über Bedürfnisse, Ersatzbefriedigung, Konsumzwang und Bedürfnisbefriedigung ist im Rahmen der Diskussion über einen Ausweg aus dem real existierenden kapitalistischen Raubbau an Mensch und Natur überfällig. Diese Debatte schlicht damit abwürgen zu wollen, dass man den derzeitigen «materiellen Wohlstand» als selbstverständlich oder unverzichtbar setzt, ohne ihn genauer zu definieren (auch in unserem Lande gibt es da ja bekanntermaßen himmelschreiende Unterschiede), ist ein bisschen unernst.
Die Argumentation von Peter Kämmerling steht aber auch noch aus anderen Gründen auf tönernen Füßen: Natürlich gibt es genug erneuerbare Energie für alle. Nur ist diese, insbesondere die Wind- und Solarenergie, in ihrer heutigen Form mitnichten klimaneutral und sie ist auch nicht «ungiftig», wenn man die verwendeten Materialien einschließlich der Folgeprobleme betrachtet – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass alle Rohstoffe auf diesem Globus endlich sind, dass sehr viele seriöse Schätzungen über ihre Reichweite vorliegen und dass der größte Teil davon in den letzten zweihundert Jahren von einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung bereits vernutzt wurde.
Schließlich muss gelegentlich auch daran erinnert werden, dass nicht irgendwelche «Auswüchse» des bestehenden Gesellschaftssystems uns das ökologische Desaster beschert haben, sondern das System selbst dank seiner ihm innewohnenden Funktionsdynamik.
Schrumpfung?
Peter Kämmerling hat dort in gewisser Weise Recht, wo er sozusagen in die Sphäre der Taktik wechselt. Natürlich ist es schwierig, Menschen begreiflich zu machen, dass «Bedürfnisse» im obengenannten Sinne, die sie bisher als selbstverständlich wahrgenommen haben, nicht mehr befriedigt werden (können). Besonders schwierig oder unmöglich, ist das allerdings, wenn die existierende, national wie international empörend ungleiche, Verteilung der Ressourcen beibehalten wird.
Der banale Trick, durch den das herrschende System Akzeptanz zu erzeugen vermag, ist schlicht die Vorspiegelung, dass bei genügender (individueller) Anstrengung jeder alles bekommen könne. Dass das physikalisch nicht möglich ist, ist eine Banalität (die allerdings nicht in der Schule gelehrt wird…). Dem wäre Wolfgang Harichs ökologischer Imperativ entgegenzuhalten, dass nämlich nur produziert werden darf, was prinzipiell für alle erhältlich gemacht werden kann, ohne den Globus zu ruinieren. Den heutigen Lebensstandard eines Mittelschicht-Mitteleuropäers – nicht nur in Hinblick auf den Zweitwagen und die Urlaubsreise, sondern auch auf den Wasserverbrauch, die Flächenversiegelung durch Eigenheime und Ähnliches – weltweit zu fordern, käme dem ökologischen Selbstmord gleich.
Deshalb sind ökonomische Gleichheit und eine kollektive, weltweite, gesellschaftliche Debatte und Übereinkunft über Bedürfnisbefriedigung Grundvoraussetzungen für die Schaffung einer – sagen wir – ökokompatiblen und dabei gerechten Gesellschaft – und die nenne ich Ökosozialismus.
Besser, als mit dem Kollaps zu drohen und Schrumpfung zu fordern, ist es allerdings, sich tatsächlich auf die positiven Aspekte eines Umbaus der Industriegesellschaft zu beziehen – nämlich hin zu einer Produktionsweise, die den ökologischen Imperativ zur Grundlage hat. In dieser Hinsicht ist Bruno Kern zu widersprechen, der auf der Kasseler Ökosozialistischen Konferenz äußerte, eine solche Gesellschaft werde nicht mehr «Freizeit» haben: Eine solche Gesellschaft wäre deshalb attraktiv, weil sie den Warenfetisch beseitigt und tatsächlich Raum und Zeit für die Befriedigung im Kapitalismus unterdrückter, pervertierter oder verhinderter immaterieller Bedürfnisse bietet.
Vor dem Beginn des Industriekapitalismus lagen die realen Arbeitszeiten bei etwa fünf Stunden. Darin waren damals schon – es handelte sich ja mitnichten um ursozialistische Gesellschaften – eine Unzahl unproduktiver bis kontraproduktiver Tätigkeiten eingeschlossen, auch damals gab es eine herrschende parasitäre Schicht, die von dieser Arbeit mitunterhalten wurde, einschließlich eines Machtapparats. Wenn also Kerns «Rückbau» der Industriegesellschaft theoretisch bis ins 17. Jahrhundert zurückginge, hätten wir erheblich weniger «Arbeit». (Ich setze das Wort Arbeit in Anführungszeichen, weil die strikte Trennung von Arbeit und Freizeit in der heutigen Form das Ergebnis eines Entfremdungsprozesses ist, der im gleichen Maße rückgeführt werden muss.)
Positive Perspektiven?
Der einen Grundthese von Sarkar, dass eine kapitalistische Gesellschaft als solche nicht nachhaltig zu betreiben sei, ist rückhaltlos zuzustimmen. Die These allerdings, dass «industrielle Kreislaufwirtschaft ausgeschlossen» sei, ist problematisch. Wenn man mit dem Entropiegesetz argumentiert, wie Sarkar, so muss man ehrlicherweise auch dazu sagen, dass dieses auch für eine nichtindustrielle Gesellschaft gilt. Und zum anderen ist die real existierende Industriegesellschaft von ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit nicht zu trennen: Wir haben keine unabhängig von letzterer existierende wertfreie «Industriegesellschaft», sondern eine kapitalistische – die natürlich wiederum eine Konsequenz der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung ist.
Aufgabe einer ökosozialistischen Bewegung wäre es, neben der Beförderung einer gesamtgesellschaftlichen Debatte um Gleichheit und Bedürfnisse, auch konkret zu untersuchen, wo die Nachhaltigkeitspotenziale in den derzeit existierenden Produktions- und Distributionssystemen liegen, was davon dem ökologischen Imperativ genügt und was nicht (zu einer ganzen Reihe von Einzelproblemen gibt es bereits genügend Material).
Auch da ist die Wahrheit konkret. Von der Umweltbewegung ist in den letzten Jahrzehnten schon eine ganze Menge Arbeit dazu geleistet worden, wenn auch nicht immer unter den genannten Aspekten. (Die Bewegung des ökologischen Landbaus bspw. bedeutet einen Schritt nach vorn – unter kapitalistischen Bedingungen hatte sie aber auch zur Konsequenz, dass in deutschen Supermärkten mit dem Flugzeug importierte Bio-Früchte aus Asien und Lateinamerika angeboten werden. Das hat sehr viel mit individueller gesunder Ernährung und gar nichts mit ökologischem Verantwortungsbewusstsein zu tun.)
Die Frage der Arbeitszeit spielt dabei im Sinne der von Kämmerling geforderten positiven Perspektive eine zentrale Rolle. Man darf deshalb auf die SALZ-Konferenz in Kassel im nächsten Jahr gespannt sein, die exakt dieses Thema zum Gegenstand haben wird.
Denn die entscheidende Frage, da ist Peter Kämmerling Recht zu geben, ist die Frage nach einer attraktiven Alternative zum herrschenden System. Wenn man da nicht in die gleiche Falle laufen will wie die sog. realsozialistischen Systeme, eine solche Alternative am Zuwachs an Waren und Gütern festzumachen – mit den auch in diesen Systemen grauenhaften ökologischen Konsequenzen –, dann muss man in eine andere Richtung denken: also den Schwerpunkt auf die Entwicklung der sozialen Beziehungen legen, auf ein längst vergessenes Wort, nämlich Muße, aber auch auf die Befreiung der Menschen von sinnentleerter, weil nur dem Verwertungsinteresse des Kapitals dienender, Arbeit.
Das zu vermitteln ist, zugegeben, nicht einfach – aber bleibt uns etwas anderes übrig?
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