Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2010
Berthold Huber formuliert seine Lehren aus der Krise
von Jochen Gester

Wechsel für Deutschland – Die Lehren aus der Krise.
Campus-Verlag 2010

Der Campus Verlag hat ein Buch herausgegeben, das den 1.Metall-Vorsitzenden Bertold Huber als Autor ausweist. Huber zeichnet dort verantwortlich für den Hauptbeitrag über ca. 80 Seiten. Daran schließen sich eine Reihe von Wortmeldungen an, die mehrheitlich von Sozialwissenschaftlern kommen.
Martin Bethge widmet sich den Defiziten des allgemeinbildenden und beruflichen Bildungswesens und problematisiert die Forderung Hubers nach einer Renaissance des Berufsprinzips in der Ausbildung. Colin Crouch widerholt Bekanntes zu den Organisationsproblemen der Industriegewerkschaften jenseits der männlichen Industriefacharbeiter und hofft, dass die immer stärker dominierende Rolle der großen Konzerne «die Entstehung einer regen Zivilgesellschaft begünstigen». Stefan Lessenich freut sich, dass Huber «grundlegende Alternativen» ins Auge fasst und bestärkt ihn in der Vorstellung, dass zuerst eine gesellschaftliche Debatte entstehen muss, bevor sich die Politik verändern kann. Lessenich sieht jedoch im Buch auch «leistungsideologische Stereotypen der industriellen Mittelstandsgesellschaft», die seltsam gestrig klingen. Auch formuliert er gewisse Zweifel an der Realisierbarkeit eines «guten Kapitalismus».

Burkart Lutz beschäftigt sich mit der Frage, wie visionäres Denken die Gesellschaft ergreifen kann, leider auf eine extrem akademische und wenig das konkrete Handeln inspirierende Weise. Günter Schmid versorgt die Leserinnen und Leser mit einer Grundthese seiner arbeitsmarktpolitischen Analysen, nach der es einer Weiterentwicklung der Arbeitslosen zu einer Arbeitsversicherung bedarf, um die nötige Flexibilität in der Arbeitswelt zu ermöglichen. Michael Schumann hält den Ausbau der Mitbestimmung für unverzichtbar, um die Humanressourcen im globalisierten Wettbewerb bestmöglich zu nutzen. Obwohl er das Modell Volkswagen für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte hält, äußert er Bedenken zur vorherrschenden Praxis des Co-Managements.
Aus der Politik enthält das Buch Beiträge von Erhard Eppler und Günter Verheugen. Eppler arbeitet sich an der neoliberalen Vorstellung eines Marktstaats ab, sagt, wo der Staat unverzichtbar und wohl entbehrlich ist. EU-Industriekommissar Verheugen darf die Politik der EU-Kommission verteidigen und gleichzeitig die Linke dafür zu kritisieren, dass sie es nach der Wende versäumt habe weiterhin den Kapitalismus zu zähmen.

Gegen diese sehr sektorbezogenen und auch etwas beliebigen Diagnosen, die auch sprachlich für ein nichtakademisches Publikum wenig verdaubar sind, ist der Hauptbeitrag breit angelegt und gut lesbar. Hubers Artikel beginnt mit einer Analyse der Krise und der «marktradikalen Verwüstung der Gesellschaften» und versucht dann Bausteine zu setzen für einen alternativen Entwicklungspfad. Auf diesem Pfad will er die Marktwirtschaft lenken und den Wettbewerb ordnen sowie die deutsche Volkswirtschaft «neu ausbalanzieren».

Darauf folgt ein Kapitel über «starke Individuen» und «starke Solidarität», gefolgt von der Zielsetzung Lohn und Leistung in der Gesellschaft wieder in direkte Beziehung zu bringen. Unter dem Titel «Das Heft in die Hand nehmen» befasst er sich mit der Erneuerung der Zivilgesellschaft. Von der Notwendigkeit von Industriepolitik geht es dann zu Vorschlägen nach einer Neuverteilung der Macht, in der auch die Wirtschaft nicht länger eine der Demokratie und dem Allgemeinwohl entzogene Zone bleibt.

Doch die anvisierte Machtverschiebung ist begrenzt. Es geht um die Wiederherstellung dessen, was sich die gegenwärtige Mehrheitsströmung unter einer funktionierenden Sozialpartnerschaft vorstellt. Huber: «Ich gehe damit dezidiert davon aus, dass sich das Privateigentum an Produktionsmitteln und der Gedanke der Demokratie prinzipiell nicht nur nicht ausschließen, sondern sich ergänzen können.»

Diese Selbstbeschränkung bedeutet nicht, dass in diesem Band nur Seichtes zu finden ist. Es finden sich eine Reihe von Passagen über die Veränderung der Arbeitswelt und den gebotenen gesellschaftlichen Umbau, die so auch in den sozialen Bewegungen und bei weiter links stehenden Sozialwissenschaftlern Zustimmung fänden. Das zu zitieren mag lohnen, wenn der real existierende Wettbewerbskorporatismus mal wieder alles erdrückt.

Wirklich radikal sind in Bertold Hubers Schrift allerdings Sätze wie diese: «Sich dem Anspruch stellen, eine Wertegemeinschaft zu sein, hat auch wesentliche Folgen für die Arbeit der Gewerkschaften und für ihre Art, die eigene Politik zu entwickeln. Das Mitglied steht im Mittelpunkt und nicht die Organisation. Die Beschäftigten vor Ort müssen Einfluss nehmen können, nicht nur auf dem Papier, sondern nachweisbar. Unsere Politik muss in den Betrieben entstehen, unsere Gewerkschaft muss sich noch stärker demokratisieren.»

In einer Organisation, in der Geschäftsführungen ihre Gesprächsrunden mit den Betriebsratsspitzen als Kernaufgabe ihrer Arbeit ansehen und in der abweichende politische Optionen innerhalb der Mitgliedschaft auch mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen haben, ist das wirklich eine radikale Utopie. Dies sieht man auch daran, wie der Vorstand das Buch diskutieren möchte. Es gibt keinen Blog, in den die Mitglieder schreiben können und alle Wortmeldungen sichtbar sind. Der Einzelne schreibt eine E-Mail an den Vorstand, dem Generalverwalter der eingesammelten Weisheiten.

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