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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2010
Die moderne Kommunikationstechnik verschafft Wanderarbeitern ganz neue Möglichkeiten sich zu organisieren.
von Dexter Roberts

Ein Pekinger Vorort war jüngst Schauplatz für eine Abendvorstellung in radikaler Politik. Eine aus Arbeitern bestehende Schauspieltruppe las Gedichte vor, die das harte Leben von Wanderarbeitern in Fabriken der Elektroindustrie und auf Baustellen beschrieben. Lieder wurden zur Gitarre gesungen, sie trugen Titel wie «Marginalisiertes Leben», «Industriegebiet», «Arbeiten – unser Ruhm und unsere Hölle», «Solidarisch kämpfen».

Einige der etwa hundert versammelten Wanderarbeiter viele von ihnen arbeiten in kleinen Möbelfabriken der Hauptstadt fingen an zu weinen. Der Abend endete damit, dass die Menge die «Internationale» sang, die alte Hymne der weltweiten sozialistischen Bewegung. «Die Atmosphäre war kämpferisch, aber es gab keine offene Kritik an der Regierung», äußerte der Politikwissenschaftler Eric Harwit von der University of Hawaii, der an der über zweistündigen Veranstaltung an diesem 28.Mai teilgenommen hatte. «Sie schienen wirklich aufrichtig empört über die Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter.»

Das Pekinger Schauspiel ist nur ein Beispiel für den jetzt offenkundigen Aufschwung der Kämpfe der Werktätigen in China: In deren Zentrum standen in den letzten Wochen die Ausstände in den Fabriken von Foxconn und Honda Motor. Daran beteiligt sind Gruppen wie «Neue Arbeit», aber auch Rechtshilfe- und andere Netzwerke an Dutzenden Universitäten, Anwaltspraxen, die sich auf die Unterstützung der Rechte der Arbeiter spezialisieren, und zahllose Selbsthilfegruppen von Arbeitsmigranten. «Die Organisationen der Zivilgesellschaft nehmen massiv zu. Sie werden China zum Wandel drängen», sagt Li Fan, Leiter der in Peking ansässigen Nichtregierungsorganisation World & China Institute. Li hat eng mit Arbeiterbünden und Organisationen zur Förderung der Basisdemokratie zusammengearbeitet.

Die Frage ist, ob diese Gruppen eine Arbeiterbewegung hervorbringen können, die über die Organisation und die Masse verfügt, um Fabrikeigner im ganzen Land herausfordern zu können. Noch bis vor wenigen Jahren konnten die chinesischen Behörden sporadische Arbeiterproteste relativ leicht brechen. Sie verhafteten einige Anführer und machten den restlichen Streikenden rasche Zugeständnisse, um die Unruhe zu stoppen. Vor allem sorgte der chinesische Sicherheitsapparat dafür, dass die Anführer von Arbeiterprotesten in Shenzhen, Harbin oder anderswo keine Verbindung zueinander aufnahmen, die eine landesweite Bewegung hätte schaffen können.

Segnungen des Internets
Die jungen Arbeiter von heute sind womöglich schwerer im Zaum zu halten. In China gibt es jetzt 787 Millionen Nutzer von Mobiltelefonen und 348 Millionen Internetnutzer Arbeitsmigranten in ihren 20ern sind weitaus informierter über die Entwicklungen in der Welt als ihre Eltern. Die jüngere Generation kann die Arbeitskämpfe verfolgen, sobald sie ausbrechen ob in Chinas Nordosten oder im Delta des Perlflusses. «Sie haben Zugang zu Informationen. Sie benutzen ihre Mobiltelefone, um Nachrichten und Bilder zu versenden und ins Internet zu gehen», sagt Bu Wei, Professor für Journalismus an der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, der über den Gebrauch der Medien durch Arbeitsmigranten forscht.

Die selbstbewussteren Arbeiter profitieren auch von den verstärkten Anstrengungen der staatlichen chinesischen Medien, die Kenntnisse über das 2008 verabschiedete schwierige Tarifvertragsgesetz zu verbreitern. Das Resultat ist, dass junge Arbeiter wissen, was ihnen zusteht, ob ein garantierter doppelter Lohn bei Überstunden oder sicherere Arbeitsbedingungen. «Jeder Arbeiter ist sein eigener Arbeitsrechtler. Sie kennen ihre Rechte besser als mein Personalchef», sagt Franz Jäger, ein deutscher Unternehmer, dessen Firma in Dongguan in der Provinz Guangdong Kabelstecker herstellt. Harley Seyedin, Präsident der Amerikanischen Handelskammer von Südchina, fügt hinzu: «Es gibt überall Internetcafés, sodass sich die Arbeiter informieren können. Sie fangen an, nach mehr zu verlangen. Die Zeiten billiger Arbeitskräfte sind vorbei.»

Unter den Arbeitern gibt es viele, die Eigeninitiative zeigen, wie Xu Haitao. Der 28-jährige Techniker in einer Metallfabrik in Shenzhen besucht jeden Sonntag in einem lokalen Zentrum zur Unterstützung von Arbeitsmigranten einen Kurs über Arbeitsrecht und die Rechte der Beschäftigten. «Natürlich kennen heutzutage immer mehr Arbeiter ihre Rechte», sagt Xu, der regelmäßig im Internet Seiten über Arbeitsrecht besucht. «Letztes Jahr habe ich angefangen, meinen eigenen Computer zu nutzen. Computer sind nicht mehr teuer.» Xu will, dass sich mehr Arbeiter selber fortbilden. «Viele Kapitalisten und Fabrikmanager verstoßen immer noch gegen unsere Rechte. Würden alle Arbeiter das Arbeitsrecht kennen alle 600 Millionen von uns , würden viele Fabrikeigner in Konkurs gehen.»

Verbündete
Arbeiter wie Xu haben neue Verbündete an Chinas Universitäten. Das jahrzehntelange Bemühen Pekings, die Zahl der Studierenden an Chinas Universitäten zu steigern, hat einen immer größeren Teil der ländlichen Bevölkerung – und solche mit Freunden und Verwandten, die noch in den Fabriken arbeiten – an chinesische Hochschulen gebracht. Dies hat dort zu einer Welle der Unterstützung für die Arbeitsmigranten geführt, hebt Professor Bu hervor. Studierende, die Jura, Politik und Sozialwissenschaften studieren, bilden Unterstützergruppen und bieten Arbeitern Rechtshilfe in einem nie gewesenen Ausmaß an. So hat einer der Studenten von Professor Bu einen Bruder, der bei Foxconn nahe Shanghai arbeitet.
Auch viele Dozenten unterstützen die Aktivität ihrer Studenten. «Durch die Foxconn-Tragödie hören wir vom Schicksal einer neuen Generation von Wanderarbeitern, das die Gesellschaft mahnt, ein Entwicklungsmodell zu überdenken, das die Würde der Bevölkerung opfert», warnt am 19.Mai ein Offener Brief, der von neun Soziologen u.a. der Universitäten von Peking und Tsinhua unterzeichnet wurde. «Wir rufen die nationalen und lokalen Regierungen auf, praktische Maßnahmen zu ergreifen, die es den Arbeitsmigranten ermöglichen, sich in den Städten zu integrieren und dort Wurzel zu fassen und die Früchte der wirtschaftlichen Entwicklung zu ernten, die sie selbst geschaffen haben.»
Für die chinesischen Behörden könnte es ein langer Sommer werden, wenn sie versuchen, diese Unruhen einzudämmen. Am 3.Juni wurden über zwanzig Arbeiterinnen festgenommen, als die Polizei versuchte, einen zwei Wochen dauernden Streik in der formell staatlichen Baumwollfabrik in Pingdingshan (Provinz Henan) zu unterdrücken. Tausende Arbeiterinnen hatten die Arbeit niedergelegt, um ihre Wut über die Privatisierung der Fabrik zum Ausdruck zu bringen und höhere Löhne zu fordern.
Und wenngleich die Arbeiter der Honda-Fabrik die Arbeit wieder aufgenommen haben, ist ihre Sprache doch alles anders als versöhnlich. «Wir rufen alle Arbeiter auf, ein hohes Maß an Einheit zu bewahren und den Kapitalisten nicht zu erlauben, uns zu spalten», heißt es in ihrer Erklärung vom 3.Juni. «Wir kämpfen nicht nur für die Rechte von 1800 Arbeitern, sondern für die Rechte der Arbeiter des ganzen Landes.»
Am 7.Juni begann der Streik in einer weiteren Honda-Fabrik in China.

Dexter Roberts ist Redakteur von Bloomberg Businessweek (Übersetzung: hgm).

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