von Pepe Escobar
Alle Welt fragt sich nach dem tieferen Grund für Israels Überfall auf die Mavi Marmara.
Warum wollte Israel mit einer bewussten und methodischen Operation, die laut Erklärungen israelischer Militärs in hebräischen Medien über eine Woche im Voraus geplant war, ein unbewaffnetes Schiff auf humanitärer Mission angreifen? Warum wollten israelische Kommandos neun unbewaffnete Aktivisten mit 9-Millimeter-Geschossen aus unmittelbarer Nähe erschießen – darunter einen US-Bürger?
Wie konnte Israel denken, dass es damit durchkommt, indem es Videos und Fotos zensiert; und dann wieder damit durchkommt, indem es sich einer internationalen unabhängigen Kommission zur Untersuchung des Vorfalls und seiner anschließenden Vertuschung verweigert?
Ist dies nur ein Fall «disfunktionaler Regierung», wie Bradley Burston in der israelischen Zeitung Haaretz schrieb?
Das Nuklearabkommen
Es gibt vielleicht eine sehr einfache Antwort auf all diese Fragen: Angst.
Ein wichtiges Motiv für Israels Angriff auf die Flotille könnte darin bestanden haben, an die Türkei ein «Signal» zu senden wegen des Nuklearabkommens, das Brasilien und die Türkei kurz zuvor mit dem Iran abgeschlossen hatten, weil es Israels Vorwände für einen Miliärschlag gegen Teherans Atomanlagen konterkariert. Das Abkommen sieht vor, dass der Iran den größten Teil seines schwach angereicherten Urans in die Türkei schickt und im Gegenzug dafür aus der Türkei Brennstäbe für den Teheraner Versuchsreaktor erhält.
Israel will den Konflikt zwischen Washington und Teheran – und es will Präsident Obamas halbherzige Versuche, mit Teheran ein Abkommen über das iranische Urananreicherungsprogramm zu erreichen, sabotieren.
Israel will eine schwache Türkei. Die Türkei aber ist eine aufstrebende und wichtige Regionalmacht, die derzeit gute und stabile Beziehungen zu ihren Nachbarn hat. Das Land ist wichtig für die USA: 70% des gesamten Nachschubs für die US-Truppen im Irak geht über die Basis Inçirlik. Die Türkei hat Soldaten, die in Afghanistan an der Seite der USA kämpfen. Und sie stellt – in Obamas eigenen Worten – die entscheidende Brücke zwischen dem Westen und der muslimischen Welt dar.
Ankara hat nicht wirklich Angst vor Israels «Botschaft». Die konventionelle militärische Stärke der Türkei ist größer als die Israels, darüber hinaus ist die Türkei ein bedeutender Verbündeter der USA in der NATO.
Ein weiteres wichtiges Motiv Israels könnte der Wunsch sein, jede Möglichkeit ernsthafter Friedensverhandlungen zwischen Palästinensern und Syrern zu sabotieren – die Türkei soll dabei außen vor bleiben. Die Türkei ist in die palästinensische Tragödie sehr stark involviert. Sie versucht beharrlich, die Differenzen zwischen Fatah und Hamas zu überbrücken.
Ein wichtiges israelisches Ziel scheint zu sein, jede von der Türkei geführte Friedensinitiative zur Lösung des palästinensischen Problems, die einen vollständig atomwaffenfreien Mittleren Osten vorsieht, zu sabotieren. Für die (unerklärte) Atommacht Israel ist diese Vorstellung ein Gräuel.
Das entscheidende Element der Angst aber ist dies: Als die einst legendäre israelische Armee 2006 im Libanon gegen die Hezbollah und 2008 in Gaza gegen die Hamas kämpfte, musste sie lernen, dass ihre Panzer nunmehr verwundbar geworden waren durch in Russland hergestellte raketengetriebene Granaten, ihre Schiffe durch in China gefertigte Raketen, und ihre Flugzeuge werden bald verwundbar sein durch russische S-300-Flugabwehrraketen.
Die neue Achse
Irakisch-Kurdistan ist heute faktisch unabhängig – entsprechend den Plänen Washingtons. Israel ist überall in diesem Teil Kurdistans außerordentlich aktiv. Gleichzeitig unterstützen die USA die vom Irak aus operierenden kurdischen Separatisten der PKK in Ostanatolien, die kurdischen Separatisten der PJAK im Iran und kurdische Separatisten in Syrien.
Die türkischen Militärs haben aus diesen wichtigen Entwicklungen die Schlussfolgerung gezogen: Die NATO bietet keinen allseitigen Schutz. Wir müssen uns auf den Mittleren Osten konzentrieren.
Dies führte zum jüngsten israelischen Albtraum. Die neue wichtige Achse im Mittleren Osten besteht aus der Türkei, dem Iran und Syrien. Sie verbindet den schiitischen Iran mit dem säkularen Syrien und der nachosmanischen sunnitischen Türkei.
Dieses Bündnis schafft einige faszinierende Nebeneffekte: So finden z.B. über eine Million großenteils gut ausgebildete Iraker ein neues Leben in Syrien. Das Bemerkenswerteste an dieser Achse ist jedoch die Tatsache, dass sie die alte Logik des «Teile und herrsche» zerstört, die der westliche Kolonialismus seit über einem Jahrhundert dem Mittleren Osten auferlegt hat. Das Schicksal der Türkei ist vielleicht doch nicht so fest mit Europa verbunden, das zu furchtsam ist, sie als Mitglied aufzunehmen – dann ist die Türkei dazu bestimmt, erneut zur Anführerin der muslimischen Welt zu werden.
Die neue Achse wird kein einfaches Leben haben. Undercover-Aktivitäten der USA haben – vergeblich – versucht den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad zu destabilisieren. Dasselbe gilt für CIA-Operationen in der südostiranischen Provinz Balutschistan, die das Regime in Teheran destabilisieren sollen, und für zwielichtige Aktivitäten, die eine neue Militärdiktatur in der Türkei an die Macht bringen wollen.
Dennoch: Während US-Außenministerin Clinton viel Lärm machte, trafen sich der syrische Staatschef Assad, Hassan Nasrallah von der Hezbollah und der iranische Präsident Ahmadinejad im Februar in Syrien und festigten ihre Partnerschaft. Russland besetzte sofort den von den USA frei gelassenen Raum. Präsident Medwedew besuchte Ankara und Damaskus und sprach sich für eine vollständige Versöhnung zwischen der Fatah und der Hamas und einen voll funktionstüchtigen Palästinenserstaat neben Israel aus.
Sogar General David Petraeus vom US-Zentralkommando sah sich gezwungen, öffentlich zuzugeben, dass der strategische Verbündete der USA, Israel, wegen der fortgesetzten Kolonisierung Palästinas und der Blockade des Gazastreifens zu einer gewaltigen Belastung für die strategischen Pläne der USA geworden ist.
Russland
Russland hingegen unterstützt die neue politisch-ökonomische Achse Türkei–Syrien–Iran. Zwischen Ankara und Moskau kann man jetzt ohne Visum reisen. Im August werden die russischen Konzerne Rosatom und Atomstroyexport das iranische AKW Buschehr fertigstellen; der Bau weiterer Anlagen wird diskutiert. Dieselben Unternehmen haben auch mit der Türkei einen 20-Milliarden-Dollar-Vertrag für den Bau eines AKW ausgehandelt (Syrien ist auch interessiert). Stroitransgaz und Gazprom werden syrisches Gas in den Libanon bringen, während Israel den Libanon daran hindert, seine beträchtlichen küstennahen Vorräte zu fördern. Russland ist im Geschäft. Teheran wird bald die bereits bezahlten S-300-Raketen erhalten und Syrien einen neuen Flottenstützpunkt.
Russland wird die Samsun-Ceyhan-Pipeline bauen, um russisches Öl vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer zu bringen. Darüber hinaus ist die Türkei dabei, sich an die Russian-South-Stream-Pipeline anzuschließen, was ein direkter Schlag gegen die von den USA und der EU unterstützte Nabucco-Pipeline ist.
Russland will auch, wie die Türkei, einen vollständig kernwaffenfreien Mittleren Osten, was auch ein kernwaffenfreies Israel bedeuten würde. Deshalb fürchtet Israel die neue Türkei, Syrien und den Iran ebenso wie die russische Unterstützung dieser Achse. Ein neuer Mittlerer Osten entsteht, und es scheint für Israel nur einen Platz zu geben: die Isolation.
Israels aggressive Strategie – entwickelt vom früheren Militärführer Moshe Dayan – ist nicht gerade geeignet, sich daran anzupassen. Big Brother Washington mag blind dafür sein, aber wenn man ein Staat ist, dessen Strategie darin besteht, sich wie Südafrika während der Götterdämmerung der Apartheid aufzuführen, dann ist Methode das letzte, was sich in diesem Wahnsinn finden lässt.
Aus: Asia Times online (www.atimes. com). Pepe Escobar ist brasilianischer Journalist und Kolumnist der Asia Times (Übersetzung: hgm).
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.