von Ingo Schmidt
Sparen, streiken und rechts wählen sind drei Reaktionen auf die Wirtschaftskrise, die gegenwärtig das politische und soziale Geschehen in Europa bestimmen. Griechenland ist der Präzedenzfall für Sparprogramme zulasten von Sozialleistungen und Beschäftigten des öffentlichen Sektors sowie Streiks gegen diese Art der Krisenpolitik.
Mittlerweile haben auch die Regierungen Portugals, Spaniens und Deutschlands ähnliche Programme auf den Weg gebracht, in anderen europäischen Ländern sind sie noch im Planungstadium.
Portugal, Spanien, Frankreich und Rumänien waren bereits Schauplätze von Streiks, die italienischen Gewerkschaften bereiten Arbeitsniederlegungen und Protestkundgebungen vor, in Deutschland hat es immerhin Demonstrationen gegeben.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise konnten Sparprogramme ohne nennenswerten Widerstand bereits in Irland und einigen osteuropäischen Ländern durchgesetzt werden.
Unter letzteren ist Ungarn von besonderem Interesse, weil das vom IWF erzwungene Sparprogramm – zusammen mit dem bereits länger angestauten Unmut über die Herabstufung des Landes zur Peripherie westeuropäischen Kapitals – zum Erfolg der rechten bzw. rechtsextremen Parteien bei den Parlamentswahlen im April beigetragen hat.
Ähnliche Rechtsentwicklungen gab es auch in Belgien, den Niederlanden sowie – auf regionaler Ebene – in Italien und Frankreich.
Sollten die Streik- und Protestbewegungen in Südeuropa scheitern, droht auch dort eine Verschiebung des politischen Systems nach rechts. Der Kampf gegen Ausgabenkürzungen und Stellenabbau im öffentlichen Sektor dreht sich deshalb nicht nur um ein Stück sozialer Gerechtigkeit, sondern auch um demokratische Rechte.
Parallele zu den 70er Jahren
Angesichts der europaweiten Angriffe auf den öffentlichen Sektor ist es sicher nicht übertrieben, die gerade begonnenen Auseinandersetzungen um Steuern, Schulden und Staatsausgaben als den zentralen Konflikt anzusehen, dessen Ausgang über die weitere Entwicklung in Europa entscheiden wird. Die Parallele zu den 70er Jahren ist frappierend. Auch damals wurde eine Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft in eine Fiskalkrise des Staates verwandelt.
Mit der Behauptung, generöse Staatsausgaben würden Arbeitsmoral und Wettbewerbsfähigkeit untergraben, Schulden und Inflation in die Höhe treiben und dadurch die Innovations- und Wachstumskräfte des Marktes ersticken, erfolgte eine Ausweitung des ideologischen Kampfes über den unmittelbaren Produktionsprozess hinaus in Richtung gesamtwirtschaftlicher Fragen.
Praktisch wurde die ideologische Offensive von Arbeitslosigkeit, Rationalisierung und der beginnenden Verlagerung von Produktionsstätten in andere Länder oder Regionen begleitet. Auf diese Weise konnte die Produktionsmacht der Arbeiter im privaten Sektor, die in den späten 60er und frühen 70er Jahren zu einer Welle militanter Arbeiterkämpfe geführt hatte, erfolgreich gebrochen bzw. unterlaufen werden.
Nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 gab es zwar eine Reihe von Abwehrkämpfen, die von Berg-, Stahl- und Werftarbeitern sowie im Druckereigewerbe mit Ausdauer und Erbitterung geführt wurden. Diese Kämpfe blieben allerdings isoliert, sie konnten nicht verhindern, dass die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften im privaten Sektor seither erheblich zurückgegangen ist. Gegen die konzentrierte Macht gesamtwirtschaftlicher Größen waren die Erfahrungen und Strategien kampferprobter Belegschaft zunehmend wirkungslos.
Beispiel Großbritannien
Dies musste insbesondere die britische Arbeiterbewegung erfahren, deren Shop-Steward-Bewegung die Produktionsmacht der Arbeiter erfolgreicher als in anderen Ländern organisiert hatte. Doch gegen die kombinierte Wirkung von Weltwirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, IWF-Intervention und ideologischer Offensive des Neoliberalismus konnte auch sie nichts ausrichten.
Ihre Ohnmacht wurde noch dadurch verstärkt, dass der IWF 1976 von einer Labour-Regierung um Hilfe gebeten wurde und offene Opposition der Gewerkschaften gegen «ihre» Regierung wenig Unterstützung in den eigenen Reihen hatte.
Im Winter 1978/79 – der später als winter of discontent (Winter des Missvergnügens) bezeichnet wurde – kam es zwar in einigen Branchen des privaten Sektors zu Streiks und Lohnabschlüssen, die gegen die Inflationsziele verstießen, die die Regierung im Rahmen ihres IWF-Programms gesetzt hatte. Nachdem diese vereinzelten Konflikte beigelegt waren, begann ein Streik im öffentlichen Sektor, den Tories und Medien erfolgreich als ein Streik überbezahlter Faulenzer denunzieren konnten.
Der neoliberale Populismus gegen Gewerkschaftsbosse und ihre Freunde in der Labour Party verhalf Margaret Thatcher im Frühjahr 1979 zu einem zuvor für unmöglich gehaltenen Wahlsieg und leitete die Ära des Neoliberalismus in Europa ein.
Öffentlicher und privater Sektor
In anderen Ländern verlief der Übergang zur neoliberalen Form des Kapitalismus in anderen Formen, vielfach weniger dramatisch, hatte aber überall ein paradoxes Resultat: Trotz der ideologischen Mobilisierung gegen den öffentlichen Sektor richtete sich der Hauptangriff des Kapitals gegen die Arbeiter im privaten Sektor. Deshalb ist ersterer heute, am Ende des neoliberalen Akkumulationszyklus, deutlich besser gewerkschaftlich organisiert als letzterer. Eines der Hauptziele der gegenwärtigen Sparprogramme besteht deshalb darin, die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors auf das niedrige Niveau des privaten Sektors zurückzustutzen.
Unabhängig von den tatsächlichen Unterschieden von Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen stellt allein der unterschiedliche Organisierungsgrad in beiden Sektoren einen Ansatzpunkt der Mobilisierung gegen die Beschäftigten des öffentlichen Sektors dar.
Besonders empfänglich für die Thesen vom faulen Staatsbediensteten, der sich auf Kosten des Steuerzahlers ein schönes Leben macht, könnte sich die wachsende Zahl von prekär Beschäftigten erweisen, die tarifvertraglich geregelte Arbeitsverträge und Betriebs- bzw. Personalräte nur vom Hörensagen kennen und als arbeiteraristokratisches Paradies ansehen, von dem sie aber leider ausgeschlossen sind.
Die Gefahr ist groß, dass die gegenwärtigen und künftigen Kämpfe gegen die Sparpolitik ebenso isoliert bleiben, wie der Streik der öffentlichen Beschäftigten während des britischen winter of discontent.
Die Einheit der Arbeiterklasse stellt sich eben weder spontan her, noch wird sie durch die Führungsgremien kommunistischer oder sozialdemokratischer Parteien repräsentiert. Sie muss, wenn überhaupt, politisch über alle inneren Differenzierungen der Arbeiterklassen hinweg erarbeitet werden.
Nachdem der Neoliberalismus sich bereits zu etablieren begonnen hatte, erkannten dies auch viele Linke in europäischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften. In der Labour Party wurde eine Alternative Economic Strategy ausgearbeitet, die schwedische Sozialdemokratie, zu jener Zeit auf der Oppositionsbank, setzte sich für den Meidner-Plan gewerkschaftlich kontrollierter Investitionsfonds ein, PS und PCF in Frankreich verständigten sich auf ein Programme commun.
Trotz der Unterschiede im Detail zielten diese Programme auf eine Ausweitung des Sozialstaats zulasten der Verfügungsgewalt privaten Kapitaleigentums. Ihre gesamtwirtschaftliche Ausrichtung erlaubte es, die spezifischen Interessen unterschiedlicher Beschäftigtengruppen und Arbeitsloser zu berücksichtigen und damit eine Perspektive zur Zusammenführung einzelner Kämpfe zu eröffnen.
Diese praktische Herstellung der «vielgestaltigen Einheit der Arbeiterklasse» hätte allerdings zu einer Konfrontation mit dem Kapital geführt, deren Notwendigkeit von vielen Partei- und Gewerkschaftsführern und -aktivisten entweder nicht erkannt oder geleugnet wurde. Das klassische Beispiel hierfür ist die französische Linksregierung zu Beginn der 80er Jahre, die, konfrontiert mit Kapitalflucht und Investitionsstreik, auf einen neoliberalen Kurs einschwenkte, anstatt verschärfte Kapitalverkehrskontrollen zu erlassen und Schritte in Richtung Investitionskontrolle zu unternehmen.
Über Willen und Fähigkeit der Sozialdemokratie, die Interessen subalterner Klassen wahrzunehmen, gibt es heute kaum noch Illusionen. Gewählt werden sie bestenfalls aus Mangel an Alternativen, aber nicht aus Überzeugung. Deshalb besteht heute immerhin die Hoffnung, dass Erfahrungen, die im Laufe der letzten drei Jahrzehnte gemacht wurden, angesichts der neuen Kapitaloffensive zu einer Mobilisierung und strategischen Orientierung führen, die seit den 70er Jahren nicht gelungen sind.
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