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Bewegung 2. Juli 2010
Alessandra Mecozzi über ihre Erwartungen vor dem 6.ESF in Istanbul
Die Teilnahme am Europäischen Sozialforum in Istanbul vom 1. bis 4.Juli verspricht diesmal eine eher magerere Beteiligung, vor allem aus dem europäischen Ausland. Dies steht im scharfen Widerspruch zu den Aufgaben einer gemeinsamen europäischen Aktionsperspektive der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen.
Die sozialen und politischen Gruppen, die die Sozialforen organisieren, sind zum Glück immer sehr heterogen, und es bedarf immer einer großen Anstrengung, um alle zusammen zu bringen und die organisatorische Maschinerie in Bewegung zu setzen.

Das gilt auch für die Türkei, ein sehr komplexes Land mit einer repressiven Gesetzgebung, das sozial und politisch stark fragmentiert ist, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein eher kümmerliches Dasein fristen. Daher gibt es wohl es nur geringe Erfahrungen mit sozialen Bewegungen abgesehen von den Gewerkschaften, zu denen auch Berufsverbände gehören (was es in anderen europäischen Ländern nicht gibt).

Soweit wir das von hier aus beurteilen können, war die Organisation sehr mühsam, wegen Verspätungen und organisatorischer Mängel, zu geringer Aufmerksamkeit für die Probleme der Teilnahme des «Sozialforumsvolks» (z.B. kostengünstige oder gar kostenlose Unterbringung), aber auch deshalb, weil ein solches Forum für die Türkei  etwas ganz Neues ist. Die Unterbringung beispielsweise determiniert viel stärker als interne politische Differenzen, wie viele teilnehmen können.

Wir wissen nicht, wie viele und wer teilnehmen wird, weder von türkischer Seite noch aus den europäischen Ländern. Erschwerend kommt hinzu, dass die europäischen Bewegungen schwächeln und die «Formel Sozialforum» langsam verschleißt.

Abgesehen von einigen Ländern gelang es zudem den Bewegungen nicht, eine starke Antwort auf die Krise zu geben. Das Sozialforum, d.h. wir alle, waren nicht in der Lage, uns zu erneuern. Hier kommt auch die Abwesenheit der Gewerkschaften auf europäischer Ebene ins Spiel, die Schwäche des EGB, der nun endlich für den 29.September einen Aktionstag ausgerufen hat.

Das Programm
Auf dem Sozialforum werden die Gewerkschaftskämpfe, die sich seit einigen Wochen in verschiedenen europäischen Ländern abspielen, natürlich behandelt. Das Programm weist viele Seminare zu verschiedenen Aspekten der Krise aus. Da wir diesmal in der Türkei sind, wird es aber auch Initiativen geben, die vom Mesopotamischen Sozialforum ausgehen, z.B. Seminare zur Kurdenfrage. Der Aktionstag des Weltmarsches der Frauen am 30.Juni kann ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen, besonders weil er sich in einem vornehmlich muslimischen Land abspielt, in dem die Armee die Fahne des Laizismus hochhält!!

Im Wesentlichen werden wir mit großer Aufmerksamkeit auf das Neue schauen müssen, das wir in der Türkei vorfinden können. Wir müssen versuchen, die Gesellschaft und Politik eines Landes zu entdecken, das voller Widersprüche steckt, aber sehr dynamisch ist. Das Mesopotamische Sozialforum, das im letzten Jahr in Diyarbak?r stattfand, zählte 5000 Teilnehmern, war gut organisiert und bot eine außerordentliche Gelegenheit, Menschen kennenzulernen.

Mehr denn je erscheint auch eine Koordinierung der Kämpfe gegen die Krise auf europäischer Ebene notwendig. Wir werden sie versuchen, auch deshalb, weil der EGB, der in Istanbul gemeinsam mit den türkischen Gewerkschaften ein großes Seminar organisiert, den 29.September als Aktionstag angekündigt hat. Wir sollten diesen Tag als einen gemeinsamen Bezugspunkt betrachten, wobei man nicht notwendigerweise alle dasselbe tun müssen. Ich bezweifle, dass sich die Umweltbewegungen gegen die Klimakrise, die sich in Kopenhagen Gehör verschafften, im Begriff «Wachstum» wiedererkennen, der in den Losungen des EGB auftaucht! Wir können aber gemeinsam für eine nachhaltige Gesellschaft und Wirtschaft und für einen Paradigmenwechsel der gesellschaftlichen Entwicklung kämpfen. Der Aufbau einer Alternative ist ein langsamer Prozess, aber das Sozialforum sollte eine Bewegung in diese Richtung anzeigen.

Initiativen
Ich hoffe, dass vor allem die Seminare über die Zukunft des Sozialforums und die Reaktion der sozialen Bewegungen in Europa auf die Krise, aber auch die Diskussionen über das Verhältnis des Europäischen Sozialforums zum Weltsozialforum neue Ideen hervorbringen. Wir alle spüren die Notwendigkeit, etwas zu verändern und mehr Wirksamkeit in unseren Handlungen zu entwickeln. Es sollte Treffen geben, die eng umrissene Themen diskutieren oder sich auf bestimmte Regionen beziehen. Es gibt viele örtliche Initiativen, die nicht in Istanbul sein werden und die untereinander gar nicht vernetzt sind: das ist ein großes Problem.

Ob allerdings von Istanbul aus Initiativen ausgehen, die ein breiteres Gehör finden, vermag ich nicht vorauszusehen. Das Sozialforum ist eine Herausforderung und eine unbekannte Größe. Sicher aber wird es uns bereichern und es wird viele neue Fragen geben das ist genau das, was wir brauchen!

Alessandra Mecozzi ist verantwortlich für die Internationale Arbeit der italienischen Metallergewerkschaft FIOM.

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