von Ulrich Peter
Stefan Müller
Heinz Dürrbeck (1912–2001): Gewerkschafter, Sozialist und Bildungsarbeiter
Essen: Klartext, 2010
568 Seiten, 39,95 Euro
Gut geschriebene Biografien sind zwischen zwei Buchdeckel gepresste lebendige Zeitbilder. Ein gutes Beispiel dafür ist der vorliegende Band von Stefan Müller über Heinz Dürrbeck. Er leistet im Rahmen einer politischen Biografie einen wichtigen Beitrag zur Organisationsgeschichte der IG Metall und zur Nachkriegsgeschichte des deutschen Linkssozialismus.
Heinz Dürrbeck wuchs im Arbeitermilieu des «roten (Hannover-)Linden» auf und wurde politisch in der Arbeiterjugendbewegung sozialisiert. Der Berufsausbildung zum Elektriker folgte die Weiterqualifizierung zum Ingenieur. Nach kurzem Kriegseinsatz war er «unabkömmlicher Spezialist» in der Rüstungsforschung der AEG, war dort im Widerstand und engagierte sich nach Kriegsende im Wiederaufbau gewerkschaftlicher Strukturen in Betrieb und Region. 1954 wird er, inzwischen Geschäftsführer des AEG-Hauptbetriebsrats, in den geschäftsführenden Vorstand der IGM gewählt, verantwortlich zunächst für die Angestelltenarbeit. Bis 1977 ist er im Vorstand der IG Metall, schon 1975 gerät er ins Fadenkreuz von BND und Justiz, wird als «Ost-Agent» verdächtigt und inhaftiert, aber nicht verurteilt. Dürrbeck flieht, psychisch zermürbt, erst nach Italien und dann nach Ungarn, wo er 2001 stirbt. Müller kommt nach intensivem Quellenstudium zum Ergebnis, «dass Heinz Dürrbeck nicht für das MfS tätig war».
Der Arbeit voran steht die zentrale These, dass Dürrbeck (wie Otto Brenner und Willi Bleicher) einer «sozialistischen Brückengeneration» angehörte, die ihre Sozialisation noch in der Weimarer Republik erfuhr, sich Ende der 20er Jahre von der Sozialdemokratie löste, erst nach 1945 wieder zu ihr zurückkehrte, und in Abgrenzung zu den für die Niederlage verantwortlich gemachten Gewerkschaftsführern der Weimarer Republik die bundesdeutschen Gewerkschaften in spezifischer Weise prägte. Sie hielt am Sozialismus als Fernziel fest und stand in erheblicher Distanz zur Bonner Republik. Abgelöst wurde diese Generation in den deutschen Gewerkschaften etwa Anfang der 70er Jahre.
Der Linkssozialismus war für das SPD-Mitglied Dürrbeck ein positiver Bezugspunkt. Das Interesse für unorthodox-marxistische Positionen behielt er bis zu seinem Lebensende bei. Mit dieser Orientierung war er in einer Minderheit, die – so Stefan Müller – auch dadurch geprägt war, «dass sich die Spitze der IG Metall und die führenden Funktionäre in der Bildungsarbeit gerade hinsichtlich der Fragen antikapitalistischer gesellschaftlicher Perspektiven und des Verhältnisses zur Sozialdemokratie politisch weit links von ihrer eigenen Mitgliedschaft befanden».
Bildungsarbeit
Dürrbeck versuchte, durch Bildungsarbeit die Kluft zwischen Alltagsbewusstsein und emanzipatorischer Politik zu schließen. Unterstützung fand er außerhalb der Gewerkschaftsbewegung bei linkssozialistischen Kräften in der SPD und dem SDS, die nach der Transformation der Sozialdemokratie zur Volkspartei «Nischen» für eine Neuorientierung sozialistischer oder auch radikal-sozialdemokratischer Politik suchten. Die Gewerkschaft als soziale Bewegung stand im Fokus der Dürrbeck’schen Anstrengungen. Hier suchte er nach neuen Methoden und Ansätzen in der Arbeiterbildung, um diese, die bisher vorwiegend Betriebsräte- und Organisationsschulung war, als «autonome gewerkschaftliche Klassenpolitik» zu entwickeln.
Die Vertrauensleute bzw. die Bildungsobleute als Träger betriebsnaher Bildungsarbeit sollten als quasi autonome, gewerkschaftliche Gruppen selbstständig und lediglich im Rahmen sehr breiter und allgemeiner Beschlussfassungen agieren. Dürrbeck sah in ihnen ein Korrektiv gegenüber der Institutionalisierung der Gewerkschaftspolitik. Die in den Seminaren verwendeten Texte machten die marxistische Intention dieser Arbeit deutlich: Schriften von Karl Marx, Ernest Mandel, André Gorz, Karl Korsch, Theo Pirker und Leo Kofler zählten zur Standardliteratur.
Mit der Ausbildung betrieblicher Bildungsobleute zu Multiplikatoren, die ehrenamtlich Bildungsarbeit betreiben sollten, griff die Abteilung Bildung das institutionelle Gefüge von Vertrauensleuten, Betriebsräten und Arbeitsdirektoren in der IG Metall an und erzeugte massive Konflikte.
Unter dem Eindruck der spontanen Septemberstreiks 1969 wurde die Bildungsarbeit für die innerorganisatorischen Konflikte verantwortlich gemacht. 1972 führten diese Konflikte zur Absetzung Dürrbecks als Bildungsverantwortlichen. Er ist also gescheitert, weil er, wie er selbst reflektierte, die «Zahl der Gegner» falsch eingeschätzt hatte. Zu seinen Gegnern zählte er die «Betriebsratsfürsten, die keine Basisdemokratie ertragen können», die Bevollmächtigten, «weil die keine Opposition, keine Demokratie in der Vertreterversammlung ertragen konnten» und die Bezirksleiter – kurzum die zentralen Funktionsträger der IG Metall. Obwohl durch demokratische Wahlen legitimiert (mit Ausnahme der Bezirksleiter), betrachtete Dürrbeck den «Apparat» der IG Metall als im Grunde undemokratische Organisation, die nach dem Prinzip des «top down» (von oben nach unten) funktioniere – ein aus der Sicht Dürrbecks sich durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung ziehendes Phänomen.
Es ist bemerkenswert, dass die heftige Kontroverse, die in den 70er Jahren in der Gewerkschaftsjugend über Erfahrungs- versus Leitfadenansatz tobte, bereits ein Jahrzehnt vorher in der IG Metall stattgefunden hatte und dort bereits entschieden war. Auch die späteren Debatten über Vertrauensleuteansatz, betriebsnahe Tarifpolitik, innergewerkschaftliche Demokratie – alles schon gehabt.
Ein Grund zur Resignation? In den Gewerkschaften wiederholt sich Geschichte permanent. Insofern ist es für jede neue Generation von Basisaktivisten eine Notwendigkeit, auch die Geschichte der Niederlagen zu kennen. Wie sangen die Schmetterlinge in ihrer Proletenpassion: «Wir lernen im Gehen, wir lernen im Vorwärtsgehen.»
Zum künftigen Gepäck des Vorwärtsgehens gehört auch Stefan Müllers schönes Buch.
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