Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2010

Zur sozialistischen Strategie bei Ernest Mandel
Köln: Neuer ISP Verlag, 2009
464 Seiten, 36 Euro
von Michael Löwy

Dieses Buch ist der erste substanzielle Versuch, das Denken des wichtigsten Leitungsmitglieds der IV.Internationale in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts systematisch darzustellen.
Manuel Kellner bezeichnet sich selber als Schüler von Mandel, der erst nach und nach die notwendige Distanz zu seinem Thema gewinnen konnte. Dies kommt in der Struktur des Buchs zum Ausdruck, in dem zunächst die Positionen von Ernest Mandel vorgestellt, zusammengefasst und erklärt werden; erst im letzten Kapitel werden sie kritisch diskutiert. Was schade ist, denn es wäre vorzuziehen gewesen, dass die kritische Distanz den gesamten Text begleitet hätte.

Im ersten Kapitel werden unter dem Blickwinkel des Verhältnisses zwischen «Theorie und Praxis» die wichtigsten Stationen in Ernest Mandels Biografie kurz durchgegangen. Im Anschluss daran klopft Manuel Kellner die wichtigsten Beiträge von Mandel zu einer Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus ab: die historisch-genetische Methode der Analyse, die Krisentheorien, den Spätkapitalismus, die langen Wellen der Ökonomie. Er arbeitet das Wesentliche heraus: Ernest Mandels Analysen waren keine akademischen Übungen, sondern direkt mit seinem Kampf als antikapitalistischer Denker und Aktivist verbunden.

Unter der Überschrift «Emanzipation und gesellschaftliche Katastrophe» werden Ernest Mandels Arbeiten zu Trotzkis Faschismustheorie und seine Schriften über den Holocaust diskutiert. Gehören die zuerst genannten zweifelsohne zu den reichhaltigsten und interessantesten Beiträgen Mandels, so werfen die letzteren mehr Probleme auf. Wie Manuel Kellner einräumt, tat Ernest Mandel sich schwer damit, der «Einzigartigkeit» des Judenmords Rechnung zu tragen, manchmal unterlag er der Tendenz zu einer gewissen «Relativierung» des Verbrechens, das er als eine der zahlreichen
Abscheulichkeiten auffasste, die von Imperialismus und Kolonialismus begangen wurden.

Das letzte Kapitel mit der Überschrift «Wertung und Ausblick» ist eines der interessantesten in dem Buch, weil Manuel Kellner sich hier vom Werk seines Meisters entfernt und eine Reihe von Kritikpunkten skizziert. Sie beziehen sich auf den recht problematischen Begriff des bürokratisierten Arbeiterstaats von dem Ernest Mandel glaubte, er könne sogar noch auf Pol Pots Kambodscha angewendet werden sowie auf den eingefleischten Optimismus seiner Voraussagen, sei es in Bezug auf das revolutionäre Potenzial in Westeuropa (seit 1946!) oder auf die Unwahrscheinlichkeit einer kapitalistischen Restauration in Osteuropa nach der Wende von 1989. Der Verfasser erwähnt hier die Unterscheidung, die ich in einem eigenen Beitrag zu einem Mandel-Symposium vorgeschlagen habe, ohne dass er sie vollständig teilt, nämlich die zwischen dem (legitimen) anthropologischen Optimismus von Ernest Mandel und seinem nicht begründeten Optimismus auf dem Gebiet der historischen Voraussagen.

In seinem letzten Text, einer Polemik gegen die nordamerikanische Sekte der «Spartacists» räumt Mandel ein, dass es im theoretischen Korpus des Marxismus zwei bedeutende Lücken gibt: die ökologische Frage und die Unterdrückung der Frauen. Die Aufgabe, sie zu füllen, steht weitgehend erst noch vor uns, stellt Manuel Kellner nüchtern fest.

Übersetzung: Wilfried Dubois. Von der Redaktion stark gekürzt.

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