Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2010

Ein unheilbarer Optimist
Michael Löwy bespricht die Biografie von Jan Willem Stutje
Jan Willem Stutje
Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923–1995)
Hamburg: VSA, 2009
470 S., 39,80 Euro

Am 20.Juli 1995 starb der marxistische Ökonom Ernest Mandel. 2005 erschien aus der Feder des niederländischen Historikers Jan Willem Stutje eine erste Biographie über ihn; Ende 2009 veröffentlichte der Neue ISP Verlag eine Darlegung seiner wirtschaftlichen und politischen Theorien von Manuel Kellner.
Die Biografie Stutjes ist die erste systematische Biografie des wichtigsten Führers und Theoretikers der IV.Internationale nach 1945, der, wie Tariq Ali in seinem Vorwort schreibt, einer der kreativsten und unabhängigsten revolutionären Denker unserer Zeit war. Der Autor stützt seine Untersuchung nicht nur durch eine gewaltige Bibliografie, sondern auch durch eine große Anzahl von Interviews mit früheren Freunden und Gefährten und vor allem durch das persönliche Archiv Ernest Mandels. Die Arbeit kombiniert historische Genauigkeit mit einer offensichtlichen Sympathie für die Person und einer luziden kritischen Distanz, ohne in Apologetik abzugleiten.

1923 in eine Familie ungläubiger polnischer Juden deutscher Kultur geboren, entdeckt der junge Ezra (später Ernest) mit 13 Jahren den Sozialismus durch die Lektüre von Victor Hugos Die Elenden. Später bezeugt er: «Damals ist meine politische Haltung für mein ganzes Leben geprägt worden.» Als Mann der Linken nähert sich der Vater Henri Mandel nach den Moskauer Prozessen dem Milieu deutscher trotzkistischer Flüchtlinge in Belgien. Ezra tritt 1938 als 15-Jähriger in die Revolutionäre Sozialistische Partei (RSP), die belgische Sektion der IV.Internationale, ein. Ohne sich vom Krieg und der Nazibesatzung Belgiens entmutigen zu lassen, engagiert er sich im Widerstand. Im Januar 1943 zum ersten Mal verhaftet, profitiert er von einem Moment der Unachtsamkeit seiner Wärter und kann fliehen. Er schreibt regelmäßig für Das freie Wort, die deutschsprachige Zeitung im Untergrund, die sich an die deutschen Soldaten wendet. So schreibt er im September 1943: «Die Nazi-Verbrecher und Meuchelmörder bringen Hunderttausende unschuldige und wehrlose Männer, Frauen und Kinder um, bloß weil sie diese Polen, Russen und Juden als sogenannte ‹Untermenschen› betrachten! Die zivilisierte Menschheit kann und wird es nie dulden! Jeder von Euch, deutsche Soldaten, macht sich mitschuldig, wenn er sich nicht gegen diese Verbrechen auflehnt und sie sogar verschweigt. Keiner von Euch wird sich dabei auf ‹höheren Befehl› und ‹soldatische Pflicht› berufen können, denn auch dabei gibt es Grenzen, die ein Soldat nicht überschreiten darf. Eure Pflicht ist es, den Nazi-Bestien das Handwerk zu legen: Rasende Hunde gehören an die Kette!»

Ein zweites Mal im Mai 1944 inhaftiert, nach Deutschland deportiert und von einem Lager ins andere transportiert, kann er noch einmal, im Juli 1944, entkommen, wird aber kurz danach wieder festgenommen und erst im März 1945 von der US-Armee befreit. Der unheilbare Optimismus Mandels manchmal begleitet von einer gewissen Blindheit zeigt sich in seiner Haltung während der Deportation: «Ich war glücklich, nach Deutschland deportiert zu werden, denn ich befände mich dort im Zentrum der deutschen Revolution!» Dieser hartnäckige Glaube an die deutsche Revolution ein Erbe des klassischen Marxismus hat ihn bis 1990 nie verlassen.

In den Jahren 1944–1946 war Mandel vom Herannahen der europäischen Revolution überzeugt, und dass der Kapitalismus seine letzte Phase erreicht habe, die des Todeskampfes, wie es Trotzki 1938 dargelegt hatte. Erst nach und nach sollte er widerwillig die Realität akzeptieren, dass die revolutionäre Welle zurückflutete.

Infolge der von der IV.Internationale angenommenen Orientierung des «Entrismus sui generis» tritt er 1951 in die Belgische Sozialistische Partei ein, wobei er seine Identität als trotzkistischer Führer verheimlicht (seine brillanten Artikel in der Presse der Internationale unterzeichnet er mit dem Pseudonym «E.Germain»). 1956 gründet er die Wochenzeitung La Gauche mit Unterstützung des Gewerkschafters André Renard und des alten sozialdemokratischen Führers Camille Huysmans. Die Zeitung hat einen realen Einfluss auf die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Linke und initiiert die Debatte über die antikapitalistischen «Strukturreformen». Im belgischen Generalstreik vom Winter 1960/61 sieht Mandel den Vorläufer einer zukünftigen Radikalisierung der Kämpfe in Europa. Das Verbot von La Gauche durch die Sozialistische Partei 1964 zwingt ihn, die Partei zu verlassen.

Parallel zu seinen Aktivitäten in Belgien widmet sich «E.Germain» der theoretischen Arbeit – sein erstes wichtiges Buch, die Marxistische Wirtschaftstheorie (1961, dt. 1968) ist ein in dieser Zeit seltener Versuch, ökonomische Theorie und Geschichte zu integrieren. In den internen Auseinandersetzungen der IV.Internationale unterstützt er mit einer gewissen Distanz die Thesen von Michel Pablo: Angesichts des «kommenden Krieges» muss man in die Arbeitermassenparteien eintreten («Entrismus»). Der Versuch, der französischen Sektion auf autoritäre Weise den Eintritt in die Französische Kommunistische Partei, dieser totalen Verfechterin des Stalinismus, aufzuzwingen, führt zu einer Spaltung in Frankreich und in der Folge in der gesamten Internationale. Diskret in seinen Kommentaren, kann Stutje, der Biograf, sein Erstaunen nicht verbergen: «Warum ein solcher Ultrazentralismus? Warum dieser Zwang?» Seiner Meinung nach hat «Germain» seine eigene Meinung geopfert, um die Einheit mit Pablo zu erhalten. Erst 1963 wird die Einheit der Internationale nach einem freundschaftlichen Treffen zwischen Mandel und James P. Cannon, dem alten Führer der US-amerikanischen SWP, zumindest teilweise wiederhergestellt. Auf dem Wiedervereinigungskongress präsentiert «Germain» eine These über die drei Sektoren der Weltrevolution die proletarische Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, die koloniale Revolution, die politische Revolution in den Ländern des Ostens , die mit Pablos Beschränkung auf die Dritte Welt bricht.

Das bedeutete nicht, dass Mandel sich nicht für die Dritte Welt und besonders Lateinamerika interessierte. 1964 wird er nach Kuba eingeladen, wo er Che Guevara trifft und, in Solidarität mit ihm, eine Antwort auf Thesen von Charles Bettelheim verfasst und dabei die zentrale Planung gegen die «Marktmechanismen» und die Vorherrschaft des Wertgesetzes verteidigt. Als Mandel 1967 Kuba erneut besucht, ist Che bereits nach Bolivien abgereist. Als er von seinem Tod erfährt, ehrt er ihn als «einen großen Freund, einen beispielhaften Genossen, einen heroischen Kämpfer».
Im Mai 1968 ist Mandel in Paris und beteiligt sich in der Nacht des 10.Mai am Aufbau der Barrikaden der Rue Gay Lussac, im Herzen des Quartier Latin, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Gisela Scholtz einer jungen Aktivistin des deutschen SDS, die er 1966 geheiratet hatte und den französischen Genossen der JCR Alain Krivine, Daniel Bensaïd u.a.

Wenig später beschließt der IX.Weltkongress der IV.Internationale 1969 mit einer von Ernest Mandel unterstützten Resolution für Lateinamerika die Strategie des bewaffneten Kampfes. Stutje fragt sich einmal mehr, ob nicht Mandel seine persönliche Meinung zugunsten der Einheit mit den jungen französischen Genossen der JCR und den Lateinamerikanern geopfert hat, die für diesen neuen Kurs waren. Ich war damals dabei und teile nicht die Analyse des Biografen; er zitiert außerdem eine Erklärung Mandels eine Antwort auf Angriffe von Akademikern in Deutschland 1972 , deren Aufrichtigkeit schwerlich in Frage gestellt werden kann: Wo die demokratischen Grundrechte aufgehoben sind, steht das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung außer Zweifel.

Während dieser Jahre veröffentlichte Mandel zwei seiner wichtigsten Werke: Die Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1967, dt. 1968) und Der Spätkapitalismus (1972). Letzteres Werk ist vielleicht sein einflussreichstes Buch, trotz des von vielen Freunden bedauerten Fehlens einer Zusammenschau, die über die brillanten Kapitel zu verschiedenen Aspekten des zeitgenössischen Kapitalismus hinausgeht. Andere wichtige Schriften dieser Zeit sind die Debatte mit Nicolas Krassó über Trotzki in der New Left Review, die viel dazu beigetragen hat, Redakteure von NLR für den revolutionären Marxismus zu gewinnen, und Die Langen Wellen im Kapitalismus (1980, dt. 1983).

Der Einfluss Ernest Mandels auf die rebellierende Jugend ist auf seinem Höhepunkt; er hat Aufenthaltsverbot in fünf Staaten, darunter Frankreich, die USA und die BRD. Der deutsche Innenminister, der «liberale» Genscher, erklärt, dass «Professor Mandel die Lehre von der permanenten Revolution nicht nur wissenschaftlich vertritt, sondern sich auch … aktiv betätigt». Karola und Ernst Bloch, enge Freunde von Ernest und Gisela, schreiben ihm: «Eigentlich müsstest Du auch stolz sein … dass  man vor Dir solche Angst hat! Du bist nach den Terroristen Feind Nr.1 für die herrschende Klasse.»

Der Tod seines Freundes Rudi Dutschke 1979 und vor allem der seiner Gefährtin Gisela 1982 waren für ihn harte persönliche Rückschläge. Stutje verbirgt nicht seine Kritik an Mandels Unfähigkeit, mit Gisela zu kommunizieren und ihr bei ihrer emotionalen Krise zu helfen. Ein Jahr später wird er Anne Sprimont heiraten, die dreißig Jahre jünger ist als er und deren Standfestigkeit und geistige Unabhängigkeit ihm eine große Stütze sein wird.

Mandel hat stets Historiker sein wollen es war Michel Pablo, der ihn davon überzeugt hat, sich der politischen Ökonomie zu widmen , aber erst 1986 veröffentlicht er sein erstes historisches Werk: Der Zweite Weltkrieg (dt. 1991). Es handelt sich zweifellos um ein innovatives und intelligentes Werk, aber im Gegensatz zu Stutje denke ich nicht, dass er den spezifischen Charakter des Völkermords an den Juden erfasst hat. Erst nachdem er in dieser Frage kritisiert worden war, veröffentlichte er 1990 einen bedeutenden Essay, der in die deutsche Ausgabe des Buches aufgenommen wurde: «Ursprung, Wesen, Einmaligkeit und Reproduzierbarkeit des Dritten Reiches».

Die Reformen Gorbatschows in der UdSSR wecken bei Ernest Mandel große Hoffnungen auf eine bevorstehende «politische Revolution» in der Sowjetunion; die Möglichkeit einer Restauration des Kapitalismus stellt er nicht in Rechnung. Seine Begeisterung wird noch größer bei der großen Demonstration im November 1989 in Ostberlin, die zum Fall der Mauer führt und an der er persönlich teilnahm. Er glaubt, es handele sich um das Erwachen der mit der Ermordung Rosa Luxemburgs besiegten deutschen Revolution in jedem Fall um eine Bewegung, die alles übertrifft, «was Europa seit 1968 gesehen hat, wenn nicht sogar seit der spanischen Revolution». Nach 1990 sollte er mit der deutschen Wiedervereinigung und der Wiederherstellung des Kapitalismus im Osten enttäuscht werden…

Trotz dieser Enttäuschung veröffentlichte er noch bedeutende Bücher: Macht und Geld (1992, dt. 2000), eine Analyse der gesellschaftlichen Ursprünge der Bürokratie, und Trotzki als Alternative (1992), die beide die Legitimität der Kritik Rosa Luxemburgs an den Bolschewiki (in Bezug auf die Demokratie) und die «substitutionistischen» Verirrungen Trotzkis in den Jahren 1920/21 anerkennen.

In den letzten Jahren hat Mandel die klassische Alternative «Sozialismus oder Barbarei» durch die apokalyptische Alternative «Sozialismus oder Tod» ersetzt: Der Kapitalismus führt zur Vernichtung der Menschheit durch nukleare Kriege oder Umweltzerstörung. Im Gegensatz zu Stutje glaube ich nicht, dass es sich dabei um einen «üblen Messianismus» handelt, sondern sehe darin vielmehr eine hellsichtige Einschätzung der Gefahren…

Stutje bemerkt zu Recht, dass Mandel die Tendenz hatte, den Körper vom Geist zu trennen und extrem ungesund zu leben: zuviel Nahrung, keine Bewegung. Nach einem Herzanfall 1993 muss er seine Aktivitäten reduzieren. Zuletzt trat Mandel im Juni 1995 auf dem XIV.Weltkongress der Internationale politisch auf. Kurz danach, im Juli, starb er nach einem erneuten Herzanfall. Im September fand auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise seine Beisetzung statt, an der zahlreiche Personen aus der ganzen Welt teilnahmen.

In seinem Fazit zitiert Stutje meine Kommentare zum «anthropologischen Optimismus» Ernest Mandels, sein Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, sich der Ungerechtigkeit zu widersetzen. Aber der Biograf hat, so scheint mir, meine folgende Bemerkung nicht verstanden: Der Optimismus des Willens wurde bei ihm nicht immer von einem Pessimismus des Verstandes kompensiert…*

*Siehe M.Löwy, «Mandels revolutionärer Humanismus», in: G.Achcar (Hg.), Gerechtigkeit und Solidarität. Ernest Mandels Beitrag zum Marxismus, Köln (Neuer ISP Verlag) 2003, S.35.

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