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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2010
Heinz Bierbaum erklärt die Forderung nach einer Wirtschaftsregierung für Europa

Die «Rettungsschirme» für Griechenland und für den Euro verletzen das Vertragswerk von Maastricht und Lissabon und haben zu einer erneuten Diskussion darüber geführt, nach welchen Regeln das Zusammenleben in Europa geordnet sein soll. Frankreich hat erneut die Forderung nach einer Wirtschaftsregierung ins Spiel gebracht; bei den politischen und Wirtschaftsführern in Deutschland sorgt diese für eine reflexartige Abwehrreaktion.

Dem Streit, der seit der Einführung des Euro schwelt, liegen unterschiedliche wirtschaftspolitische Ausrichtungen der EU-Länder zugrunde. Dabei ist die Linie, die Deutschland fährt, belastend – sowohl für den lohnabhängigen Teil der Bevölkerung im Inland als auch für andere EU-Länder.
Die SoZ sprach mit HEINZ BIERBAUM, er gehört zu den in Deutschland eher seltenen Stimmen, die für Europa eine Wirtschaftsregierung fordern.

Im Streit über die französische Forderung nach einer Wirtschaftsregierung für Europa scheint es, als habe die Bundesregierung von den Franzosen der Begriff übernommen, Frankreich von den Deutschen aber das Konzept. Was versteht man in Frankreich unter einer Wirtschaftsregierung?
Dabei geht es um eine inhaltliche Koordination der Wirtschaftspolitik. Frankreich tritt dafür ein, dass wir nicht so sehr in Richtung Sparen, sondern mehr in Richtung Stärkung der Binnennachfrage gehen, also eine stärker national ausgerichtete Wirtschaftspolitik betreiben. Das ist der Weg, den es die letzten Jahre gegangen ist.

Was bedeutet das in Bezug auf die Finanzkrise in der EU?
Da gibt es unterschiedliche Wege und da liegt auch der Kern des Streits. Die deutsche Seite favorisiert Schuldenabbau durch Sparen, die französische Seite versucht eher, die Wirtschaft zu stimulieren.

Dagegen wird hierzulande eingewandt, dies würde die Inflation anheizen. Es ist aber nicht sichtbar, dass Frankreich eine höhere Inflation hätte als Deutschland…
Bei uns wird mit der Inflationsangst Politik gemacht. Derzeit haben wir das Problem bei uns nicht. Natürlich muss man Inflationsgefahren ernst nehmen. Aber eine verschärfte Sparpolitik mit einem massiven Schuldenabbau, massiven Lohnkürzungen und einer massiven Reduzierung öffentlicher Aufgaben ist mit der Gefahr einer deflationären Entwicklung verbunden.

Die Bundesregierung will auch eine wirtschaftspolitische Koordination auf europäischer Ebene. Was schwebt ihr da vor?
Die Bundesregierung will eine administrative Absprache zwischen den Mitgliedstaaten der EU-27, ausgerichtet auf Schuldenabbau durch Kürzungen insbesondere im sozialen Bereich.

Sie will ja offenbar die Schuldenbremse allen EU-Regierungen verordnen. Wie will sie das denen gegenüber denn durchsetzen, wenn es keinen Mechanismus gibt, im Europäischen Rat die anderen Regierungen dazu zu zwingen?
Sie erzeugt politischen Druck und ist damit nicht ohne Erfolg. Man sieht ja, dass viele Länder in der EU genau diesen Weg einschlagen, Griechenland ist das praktisch verordnet worden, Spanien und Portugal gehen auch in diese Richtung.

Wie realistisch ist ein Haushaltsdiktat der EU gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten?
Ich glaube eher, dass das Diktat von einzelnen Regierungen ausgeht, allen voran von der deutschen Regierung ich halte das für eine außerordentlich gefährliche Entwicklung. Das würde nämlich bedeuten, dass wir alle anderen Länder zu Sparmaßnahmen dergestalt zwingen, dass sie Sozialleistungen kürzen, Löhne senken, Arbeitsbedingungen verschlechtern müssen. Damit sparen wir uns in die nächste tiefe Krise hinein.

Deutschland wird den anderen EU-Ländern ja mal wieder als Musterknabe vorgehalten: Unsere Orientierung auf die Exportweltmeisterschaft preist Frau Merkel als Modell für Europa an, das die anderen Länder nachmachen sollen.
Katastrophal, das wäre katastrophal...

Ist das überhaupt realistisch?
Das geht überhaupt nicht. Ich kann überhaupt nicht sehen, dass Deutschland ein Musterland sein soll. Wir haben das Grundproblem, dass Deutschland unter seinen Verhältnissen lebt, nicht über seinen Verhältnissen. Wir produzieren und verkaufen wesentlich mehr als wir selber aufnehmen können. Deswegen sind wir so stark im Export und haben eine Schieflage in der Außenhandelsbilanz. Wir sind die Kehrseite der Verschuldung der anderen Länder. Wir bräuchten eine ausgeglichene Bilanz, indem wir die Binnennachfrage und die Wirtschaftsleistung im Inneren stärken.

Die Auflagen, die der IWF und die EU jetzt für die Gewährung günstigerer Kredite machen, gehen aber in die Richtung, dass alle EU-Länder ihre Wirtschaften auf den Export orientieren sollen.
Das geht gar nicht, wohin soll das denn verkauft werden?

In Nicht-EU-Länder...
Dann hat man das Problem nur etwas nach außen verlagert. Die Einnahmen und die Ausgaben müssen einigermaßen im Gleichgewicht sein. Wenn alle sich so orientieren wie die BRD, bekommen wir ein extremes Ungleichgewicht.
Im Übrigen beruht unsere Exportstärke nicht zuletzt auf einem faktischen deutschen Lohndumping, da die Lohnentwicklung hinter der Produktivität zurückbleibt.

Derzeit spielt sich die Krise der EU auf dem Finanzsektor ab.
Die Ordnung der Finanzen hat natürlich einen Zusammenhang mit der Orientierung der Wirtschaftspolitik: Wir haben das große Problem, dass die Länder von den Finanzagenturen unterschiedlich bewertet werden: Je schlechter sie bewertet werden, desto ungünstiger sind ihre Möglichkeiten, an günstige Kredite zu kommen. Die Frage ist, ob diese Ratings immer gerechtfertigt sind. Bei einer koordinierten Wirtschaftspolitik wären die Wirtschaften der einzelnen Länder weniger stark den unterschiedlichen Ratings der Agenturen ausgesetzt.

Sie werden nicht nur unterschiedlich bewertet, ihre Produktivität ist auch unterschiedlich hoch und driftet weiter auseinander. Wie wollt ihr da gegensteuern?
In Deutschland müssen wir zu einer Lohnpolitik zurück, die den Verteilungsspielraum, der durch den Anstieg der Produktivität und den Anstieg der Preise gegeben ist, ausschöpft. Wir liegen drunter...
In den anderen Ländern haben wir zum Teil das umgekehrte Problem, dass die Lohnsteigerungen über der Produktivität liegen. Dort muss durch geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen die Produktivität entwickelt werden. Nehmen wir die spanische Wirtschaft: Die basierte in den letzten Jahren im wesentlichen auf der Bautätigkeit, dort gab es einen Boom, eine Immobilienblase. Der industrielle Bereich, mithin die Produktivität, ist demgegenüber unterentwickelt. Da müsste man mit öffentlichen Geldern in technologische Entwicklungen und industriepolitische Maßnahmen investieren.

Das wäre so etwas wie eine europäische Industriepolitik.
So ist es. Man kann die Schuldenkrise und die Wirtschaftsregierung von der Industriepolitik nicht trennen.

Die derzeitige Konstruktion der EU steht dem komplett entgegen. Wo siehst du Ansätze für einen Umbau der EU?
Die Verträge von Maastricht und Lissabon ebenso wie das Konzept EU 2020 schreiben eine neoliberale Ausrichtung vor mit Deregulierung und Privatisierung und Freizügigkeit vor allem für das Kapital. Diese Freizügigkeit muss man einschränken. Das heißt z.B. dass man den Finanzsektor stärker reguliert und eine Finanztransaktionssteuer einführt. Wir wollen den Finanzsektor auf seine ursprüngliche Funktion zurückführen, nämlich die Wirtschaft mit Krediten zu versorgen, alle anderen Aktivitäten müssen stark eingeschränkt werden. Dazu zählt insbesondere, die Spekulation zu unterbinden.

Was heißt das für die europäischen Institutionen?
Es muss so etwas wie wirtschaftspolitische Leitlinien geben, die auch die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) beeinflussen. Die Geldpolitik muss als Bestandteil der Wirtschaftspolitik gesehen werden.

Wer soll diese Politik formulieren?
Das ist eine gute Frage. Meines Erachtens brauchen wir einen politischen Prozess unter den EU-Ländern, das können wir derzeit gar nicht an eine europäische Institution abgeben. Der kann nicht nur über die Regierungen laufen, da müssen sich auch die Gewerkschaften und die anderen politischen Kräfte einmischen, das muss Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung werden, die auch entsprechende öffentliche Aktivitäten erfordert.

Eine Ausrichtung der IG Metall an dem Konzept der Wirtschaftsregierung würde in einen nicht unerheblichen Konflikt treten mit ihrem bisherigen Konzept der Standortpolitik…
Das ist richtig, es gibt aber auch Stimmen, die das kritisch sehen. Die IGM hat besonders große Probleme, weil die Vertreter der Belegschaften aus der Automobilindustrie dort sehr großen Einfluss haben, und da spielt die Exportorientierung eine große Rolle. Aber ich denke, die IG Metall muss ihre Politik anders ausrichten, weil sich ihre Bedingungen insgesamt verschlechtern.

Gibt es einen Ausblick für den Herbst?
Es gibt am 29.September eine europaweite Demo der Gewerkschaften gegen die neoliberale Art und Weise der Schuldenbekämpfung…

Gehen wir alle nach Brüssel?
So ist es zumindest geplant. Wir brauchen solche Demonstrationen sowohl auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene, auch die Streikaktionen der Gewerkschaften, die stattgefunden haben und noch angekündigt sind, gehören dazu. Das muss mehr werden.

Wenn du eine Parole formulieren solltest, um all diese Aktivitäten in einer gemeinsamen europäischen Perspektive zu bündeln, wie würde die lauten?
«Für ein Europa der Arbeit und des sozialen Fortschritts.»

Heinz Bierbaum ist stellvertretender Parteivorsitzender der LINKEN und parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im saarländischen Landtag.

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