von Paul B. Kleiser
Der Regierungskoalition läuft das Personal davon, von ihrem Koalitionsvertrag kriegt sie nichts umgesetzt. Erfolgreiche Mobilisierungen im Herbst könnten sie aus der Bahn werfen.
Nach nur neun Monaten im Amt befindet sich die schwarz-gelbe Koalition in einer tiefen Krise. In den jüngsten Meinungsumfragen kommen CDU/CSU gerade noch auf 31%. Die FDP schreitet in Eilschritten auf die in den 90er Jahren schon einmal aktuelle Namensbedeutung zu: «Fast Drei Prozent». Während die Wirtschaft in Deutschland nach der tiefsten Rezession seit 1929 langsam wieder Tritt fast, geht es mit der Koalition rasch bergab. Die «Wunschkoalition» des bürgerlichen Lagers entwickelt sich immer mehr zu einem perspektivlosen Verein zur Erhaltung der Macht und Verteilung von Pfründen.
Diese Entwicklung zeigt sich zunächst in einem in so kurzer Zeit nie gekannten Verlust von politischem Personal. Der von Merkel und Westerwelle als (neoliberaler) Kompromisskandidat ins Amt gehievte Sparkassenpräsident Horst Köhler schmeißt mir nichts, dir nichts den Bettel hin, weil seine Aussagen zu Afghanistan kritisiert werden. In seiner ihm eigenen Tolpatschigkeit hatte er darauf hingewiesen, dass der Westen in diesem Land für den ungehinderten Zugang zu den Rohstoffen kämpfe. Eigentlich sollte man ihm für diese Ehrlichkeit dankbar sein. Doch zur Zeit, besonders nach dem Bombardement von Kunduz mit über hundert Toten, ist hierzulande die Verdrängung der bitteren Realität dieses immer schmutziger werdenden Krieges angesagt. In den beiden Weißbüchern der Bundeswehr ist glasklar zu lesen, dass diese Armee natürlich für die sichere Versorgung des Landes mit Rohstoffen und Energie zuständig ist und der BRD bei ihren imperialen Abenteuern helfen soll – doch solches möchte man im Augenblick nicht ausgesprochen wissen. Denn die Mehrheit der Bevölkerung sieht diesen Krieg ohnehin kritisch. Daher sind die Veröffentlichungen von militärischen Aktivitäten und Schweinereien bei Wikileaks ein weiterer Schlag ins Kontor.
Den ruhmlosen Abgang von Köhler sah Angela Merkel als Chance, einen möglichen Konkurrenten ums Amt nach oben fallen zu lassen und damit auszuschalten. Diese Politik hat sie ihrem Ziehvater Helmut Kohl abgeschaut, der ebenfalls alle gefährlichen Konkurrenten (Geißler, von Weizsäcker, Späth, Süßmuth) in bäuerlicher Brutalität aus seiner Entourage verdrängte. Da diese Vorgehensweise von vielen in der Partei nicht genossen wird und es vor allem aus dem Wirtschaftsflügel viele (bislang noch leise) Kritiker der Parteichefin gibt, entfielen auf Christian Wulf im ersten Wahlgang 45 Gegenstimmen aus der Koalition; für Merkel war dies eine kräftige Ohrfeige.
Auf dem Leipziger Parteitag 2003 hatte Merkel noch ein neoliberales Programm mit Steuersenkungen für die Reichen und massivem Abbau des Sozialstaats (Kopfpauschale in der Krankenversicherung) verabschieden lassen. Ein Jahr später bereits schaltete sie den Hauptpropagandisten dieser Orientierung, Friedrich Merz, aus, indem sie ihn vom Fraktionsvorsitz verdrängte und er sich in den (lukrativen) Schmollwinkel zurückzog. Mit Günther Öttinger und Roland Koch gingen zwei weitere rechte Flügelmänner von Bord, weil in ihren Ländern die Ablehnungsfront breiter wurde und sie in Berlin nichts mehr werden konnten. Mit der krachenden Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen ist auch die etwas «sozialer» ausgestaltete Variante des «Arbeiterführers» Jürgen Rüttgers an ihr Ende gekommen. Rechnet man noch den verunglückten Skifahrer Althaus und den Bankenpleitier Milbradt (die Landesbank Sachsen häufte wegen ihrer Schattenbanken in Irland usw. milliardenschwere Verluste an) hinzu, dann sieht man, dass aus der «jungen Garde» der CDU, die nach Kohls Bimbes-Skandal von 1999/2000 der Partei wieder ein neues Gesicht gegeben hat, fast niemand mehr übrig geblieben ist. Soviel Schwund war selten.
Vor allem der Mittelstand beklagt die Orientierungslosigkeit der Union bzw. deren «Sozialdemokratisierung», was bedeutet, dass aufgrund der Krise die Union zusammen mit der SPD einer Reihe von Staatseingriffen zugestimmt hat, die die Abgabenbelastung erhöhen (werden) und somit den Marktinteressen dieser Leute zuwiderlaufen. Während die Verstaatlichung der Hypo Real Estate wegen des wirtschaftlichen Bebens, das ein Zusammenbruch dieser Bank ausgelöst hätte, zumeist geschluckt wird, gilt die «Rentengarantie» nicht nur bei Brüderle als eine «Sünde wider den Geist».
Auch programmatisch daneben
Die Verluste an politischem Personal sind durch die tiefe programmatische Krise bedingt, in der sich die Parteien der Koalition befinden und die auch eine Folge der bereits erfolgten und noch zu erwartenden Erschütterungen durch die Wirtschaftskrise sind. Denn liest man den Koalitionsvertrag heute, dann sieht man, dass die vertragsschließenden Parteien völlig neben der Kappe lagen. Die FDP wollte um jeden Preis ihr Motto «Mehr Netto vom Brutto» in die Tat umsetzen. In der Gesundheitspolitik hätte dies bei Einführung der «Kopfpauschale» nur für die «Besserverdienenden» (ab etwa 40000 Euro Jahreseinkommen) gegolten, während alle anderen höher belastet worden wären. Die nunmehr gefundene «Lösung» mit höheren Beiträgen steht erstens dem genannten Motto entgegen, und der Wegfall der Begrenzung der Zusatzbeiträge (bisher maximal 1% des Einkommens) bringt eine weitere Umverteilung von oben nach unten. Dagegen werden die von der Pharmaindustrie verlangten Preisabschläge aufgrund von Lücken im Rösler-Gesetz kalt lächelnd umgangen.
Besonders deutlich werden die Widersprüche in der Frage der Verlängerung der Laufzeiten der bestehenden Atomkraftwerke. Im Herbst möchte die Koalition ein neues Konzept für die Energiepolitik vorlegen, das – gleichgültig wie es ausfällt – zu massiven Auseinandersetzungen führen wird. Zunächst ist höchst strittig, um welchen Zeitraum eine Verlängerung zugelassen werden soll: um maximal acht Jahre (Umweltminister Röttgen) oder unbegrenzt (Mappus und Seehofer)? Man wird sehen, inwieweit die Regierung den Interessen der vier Großstromer, die als einzige AKWs betreiben (E.on, RWE, EnBW und Vattenfall), entgegenkommen möchte. Für diese Multis ist eine Verlängerung der Laufzeiten eh schon eine Gelddruckmaschine.
Das Haushaltssanierungsprogramm der Regierung sieht auch eine Brennelementesteuer mit Gesamteinnahmen von 2,3 Milliarden Euro vor, gegen die sich die Konzerne natürlich massiv wehren, weil sie möglichst alle Kosten auf die Abnehmer und die Steuerzahler abwälzen wollen. (Nach neuen Berechnungen wird die Beseitigung der bestehenden AKWs 10–12 Mrd. Euro kosten, die Sanierung der Lager Asse und Morsleben jeweils 3–4 Mrd. Euro, und die Kosten der «Endlagerung» sind noch gar nicht bezifferbar.) Auch in der Union regt sich massiver Widerstand gegen die Politik, den Atomstrom als «Brückentechnologie» zu nutzen, weil vielen Mitgliedern dämmert, welche Kosten auf die Gesellschaft zukommen, und weil es zahlreiche Kommunen gibt, die auf eine Entwicklung erneuerbarer Energien setzen. Sie haben bereits viel Geld in solche Technologien investiert. Diese Anlagen würden durch eine Verlängerung der Laufzeiten von AKWs entwertet und die Finanzkrise der Kommunen verschärft. Gerade im Umkreis von Atomanlagen (in Bayern in Landshut und Schweinfurt) sprechen sich CDU- bzw. CSU-Ortsverbände gegen Laufzeitverlängerungen aus, was den Mobilisierungen im Herbst nur zusätzlichen Auftrieb verschaffen kann.
Neben der Sparpolitik mit der Kürzung von Sozialleistungen für die am meisten Bedürftigen (Elterngeld bei Hartz-IV-Bezieherinnen) stellt der Kampf um die Neuausrichtung der Energiepolitik mit Sicherheit das Schlachtfeld dar, auf dem dieser Regierung vom widerspenstigen Teil der Bevölkerung eine schwere Niederlage bereitet werden kann, die sie womöglich nicht überleben wird. Wir sollten uns in diesen Auseinandersetzungen kräftig engagieren!
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