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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2010
von Jonna Schürkes

In den Strategiepapieren der Bundesregierung wie der Regierung Obama zu Afghanistan geht es im Wesentlichen nur noch darum, die afghanische Regierung möglichst schnell zu befähigen, dass sie die Aufständischen in ihrem Land selber bekämpfen und damit das Risiko für die NATO-Soldaten verringern.

Dies versucht man zu erreichen, indem man der Regierung Karzai einen möglichst großen Repressionsapparat aufbaut und ihn finanziell, nachrichtendienstlich und logistisch auch mittel- bis langfristig von sich abhängig hält. Allerdings gibt es hierfür immer noch zu wenig afghanische Bodentruppen, die im Kampf gegen die Aufständischen in erster Reihe kämpfen würden. Viele Menschen schließen sich eher den Aufständischen an, als Soldat oder Polizist zu werden – beides schlecht bezahlte, hochgradig gefährliche und nicht gut angesehene Berufe in Afghanistan.

Deshalb geht der Westen seit Juli 2010 verstärkt dazu über, Milizen zu bewaffnen und sie in den Kampf gegen die Aufständischen einzubeziehen. Das bedeutet vor allem eine weitere Bewaffnung der Gesellschaft – der Bürgerkrieg wird zusätzlich angeheizt. Damit tendiert die sowieso schon geringe Wirkung der seit 2003 laufenden Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprogramme unter der Leitung der UNO gegen Null.

Mitte Juli 2010 brachte der neue ISAF-Kommandeur, General Petraeus, den afghanischen Präsidenten Karzai dazu, dem Aufbau von «Dorfstreitkräften» (Village Defence Forces) zuzustimmen. Dabei handelt es sich um lokale Milizen, die von der Regierung in Kabul bezahlt, ausgerüstet und bewaffnet werden und dann in ihrem Dorf für Sicherheit sorgen sollen. Die Aufstellung dieser Dorfstreitkräfte sei notwendig, weil der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte nicht schnell genug vorangehe und die internationalen Truppen alleine nicht in der Lage seien, die Aufständischen zu vertreiben.

Seit 2006 sind jedoch verschiedene Programme, die eine ähnliche Ausrichtung gehabt haben, grandios gescheitert. Als das Mandat der ISAF 2006 auf den Süden und Osten des Landes ausgeweitet wurde, eskalierte der Krieg und die «internationale Gemeinschaft» wurde sich dessen bewusst, dass die von ihnen geschaffene Polizei (ANP) und Armee (ANA) kaum in der Lage war, die internationalen Truppen in ihrem Kampf gegen die Aufständischen zu unterstützen.

Also wurde beschlossen, eine «Afghanische Hilfspolizei» (ANAP) zu schaffen. Die Hilfspolizisten sollten vor allem zur Vertreibung der Aufständischen in unruhigen Distrikten, an wichtigen Infrastrukturpunkten und an Check-Points eingesetzt werden und die afghanische Armee und Polizei in Kämpfen unterstützen. Bis Ende 2006 wurden – vor allem in südlichen Distrikten – 11271 Hilfspolizisten angeworben. Die Ausbildung bestand aus 40 Stunden Unterricht, in denen US-Soldaten ihnen ihre Aufgaben erläuterten, und 40 Stunden Training an den AK47, die ihnen ausgehändigt wurden.

Offiziell wurde die ANAP 2008 aufgelöst. Dies hatte verschiedene Gründe, in allererster Linie wohl den, dass das US-Militär innerhalb kürzester Zeit keine Kontrolle mehr über die Hilfspolizisten hatte und meist vollkommen unklar war, ob die bewaffneten Einheiten tatsächlich gegen Aufständische vorgingen oder vielmehr mit Waffe und Uniform zu ihnen übergelaufen waren. Auch der Plan, die Hilfspolizisten später in die Polizei und die Armee aufzunehmen und damit den Aufbau der Sicherheitskräfte in Afghanistan zu beschleunigen, ging nicht auf. Eher wirkte die ANAP als Konkurrenz für die ANP, als dass damit mehr Menschen zu regulären Polizisten geworden wären – vor allem deshalb, weil die Hilfspolizisten nicht so weit entfernt von ihren Heimatdörfern eingesetzt wurden wie die Polizei.

Im Juni 2010 wurde Stanley McCrystal von David Petraeus als ISAF-Kommandeur abgelöst. Petreaus war 2007 und 2008 Oberster Befehlshaber der Multinationalen Truppe im Irak (MNF-I) gewesen und hatte dort eine große Anzahl von Milizen bewaffnet, die gemeinsam mit der US-Armee gegen die Aufständischem im Irak vorgegangen waren. Die so genannten «Söhne des Irak» gelten als ein Faktor, der es der USA ermöglichte, Truppen abzuziehen. Dieses Modell soll nun offensichtlich in Afghanistan kopiert werden, ebenfalls mit dem Ziel, damit eine Verringerung der internationalen Truppenpräsenz einleiten zu können. Hier spielt es auch keine Rolle, dass die irakische Regierung heute massive Probleme mit den «Söhnen des Irak» hat. Auch die Tatsache, dass die Aufrüstung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen dazu führte, dass es in den meisten Städten ethnisch getrennte Viertel gibt, die militärisch bewacht sind, hindert den Westen nicht daran, es nicht dennoch auch in Afghanistan zu versuchen.

Da hilft auch nicht, dass Karzai sich massiv gegen die Bewaffnung von Milizen ausgesprochen hat. Es sollen 10.000 Dorfschützer rekrutiert werden, die vom afghanischen Innenministerium bewaffnet, bezahlt und «kontrolliert» werden. Die deutsche Regierung hat diese Art der Kriegsführung lange offiziell kritisiert. Inzwischen ist aber auch sie daran interessiert, möglichst schnell eine große Anzahl afghanischer Bodentruppen zu rekrutieren, die den Krieg gegen die Aufständischen führen. Dies ist wohl vor allem auf das erhöhte Risiko für die deutschen Truppen und die damit zusammenhängende steigende Anzahl getöteter Soldaten zurückzuführen.

Was derzeit in Afghanistan produziert wird, ist eine noch stärker bewaffnete Gesellschaft, in der einzelne Gruppen dazu befähigt werden, ihre Interessen, die eventuell zeitweilig mit denen des Westens übereinstimmen, gewaltsam durchzusetzen. Damit wird bewusst die weitere Eskalation des Bürgerkriegs in Kauf genommen, unter der vor allem die Zivilbevölkerung leidet.

Ungekürzte Fassung auf www.imi-online.de/.

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