von Rolf Euler
Am 18.Juli hat das Ruhrgebiet die Kulturhauptstadt in die Hand und unter die Füße genommen. Zwei Millionen Menschen haben gezeigt, dass sie ohne Zwischenfälle und in völlig entspannter Atmosphäre sich gemeinsam an etwas freuen können.
Nachdem nun schon mehr als die Hälfte des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr 2010 vorbei ist, stellt sich die Frage, was sie bisher für die Menschen im Revier gebracht hat. Man sollte sich den Blick auf so vieles andere, was in den vergangenen Monaten alles möglich war, nicht durch die Ereignise um die Loveparade verstellen lassen:
Am 18.Juli hat «das Ruhrgebiet» die Kulturhauptstadt selbst in die Hand und unter die Füße bzw. die Räder genommen und mal so richtig genossen. Gelebte Kultur des Alltags und des normalen Wochenendes quer durch alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung fand am Sonntag, dem 18.Juli, auf der gesperrten A40, der alten B1, dem «Ruhrschnellweg» statt.
Sicher gab es während des ganzen Jahres schon gute und kulturell herausragende Veranstaltungen, eine unübersehbare Fülle an vielen Orten, die zusammen einzuschätzen nicht möglich ist. Theater, Konzerte, lokale Veranstaltungen in großer Zahl verwehren den Gesamtüberblick, hier musste sich jeder, der wollte, seine Art der Kultur heraussuchen. Entscheidend war aber, dass oft «Kultur für» die Leute gemacht wurde, und zu selten «Kultur von» und mit den eigenen Kräften der Leute. Hier war das Stillleben A40 eine herausragende Ausnahme.
Viele Befürchtungen im Vorfeld, hier würde ein «Mega-Event» für die Selbstdarstellung der Kulturhauptstadtmacher produziert, stellten sich als unbegründet heraus, weil die Veranstaltung tatsächlich ein richtig «großes Ereignis» mit wohl rund 2 Millionen Beteiligten war, dieses Ereignis aber vor allem von den Beteiligten selber in ihrem Sinne gestaltet wurde. Das Ruhrgebiet ergriff vom Ruhrschnellweg «Besitz», und man lernte, was alles ohne Autos geht!
Das «Stillleben A40» wurde so durchgeführt, dass die gesamte Autobahn zwischen Dortmund und Duisburg auf 60 Kilometern ab dem Abend zuvor für den Autoverkehr gesperrt wurde. Dann wurden auf der einen Fahrbahn Bierzeltgarnituren aufgestellt, deren Abschnitte und Tischnummern jeweils verlost bzw. Städten und Gemeinden zugeteilt worden waren. Diese Tische wurden von Vereinen, Belegschaften, Schulklassen, Organisationen, Künstlergruppen, Familien, Nachbarschaftsgruppen und allen, die Lust dazu hatten, belegt mit ihren Aktivitäten, Selbstdarstellungen, Spielen, Kinderbeschäftigungen, Festessen, Kunstaktionen, Musik, Kabarett, Theater – von 11 bis 17 Uhr konnte alles gemacht werden.
Die Fahrbahn mit den Tischen war für Fußgänger freigegeben, die sich streckenweise dicht um die Tische und Bühnen und Bänke, Stände und unter Schirme drängten, mitmachten oder nur schauten. Auf der anderen Fahrbahn war die Autobahn nur für «Räder ohne Motor» freigegeben, und so drängten dann vor allem Fahrradfahrer (etwa eine Million soll es gewesen sein!) während des Tages über die Zufahrten auf die Strecke, die teilweise wegen des Andrangs gesperrt werden musste. Es kamen viele Familien, Fahrradgruppen, Einzelfahrer, aber auch Inlineskater, und so entstand an vielen Stellen sogar der «Normalzustand» der A40: Stau zwischen den Anschlussstellen Essen oder Bochum!
Die Fahrradfahrer konnten in der Regel nur an den Auffahrten auf die Tisch- und Fußgänger-Fahrbahn wechseln, so bildeten sich dort schnell riesige Abstellplätze. Besucher aus der gesamten Bundesrepublik wurden gesichtet, es waren aber vor allem Anwohner der B1 und Bewohner der anderen Ruhrgebietsstädte, die sich die gesperrte Autobahn nicht entgehen lassen wollten. So kamen alle Familien, Initiativen und Vereine, die einen Tisch hatten, zu großem Publikum. Musik und Essen, Gaukelei und Kindergruppen waren dicht umlagert, man lernte Kleinkunst und Kultur des Alltags in großer Vielseitigkeit kennen. Die Menschen standen freundlich und geduldig im Fahrradstau oder in den Warteschlangen vor Toiletten und Verpflegungswagen (zum Selbstkostenpreis, kein Kommerz war erlaubt).
Es waren Freiwillige aller möglichen Organisationen und auch die sog. «Volunteers» für Information, Ablauf und Sicherheit eingeteilt. Die Organisation für den Auf- und Abbau der Tische lief gut, hier wurde eine auch von mir zu Anfang skeptisch beäugte Idee auf verblüffend einfache Weise verwirklicht. Die Stimmung war überall fröhlich – auch war das Wetter schließlich kulturgeneigt sonnig und nicht zu heiß – und entsprach einem gelungenen Nachbarschafts- und Straßenfest, bloß in vieltausendfacher Anzahl und Länge.
Wenn Menschen sich auf diese Art die «Straße erobern», heißt das natürlich nicht, dass damit eine politische Bewegung inszeniert wurde. Aber die Tatsache, dass die Kulturhauptstadtorganisation die A40 still legte und der Bevölkerung «zur Verfügung» stellte, hatte einen deutlich anderen Charakter, als wenn sonst dafür vorgesehene Spezialisten der Bevölkerung erlernte Kultur bieten, die sie eher passiv konsumieren muss. Vergessen wir nicht, dass die Kulturhauptstadt 2010 auch angetreten ist, Werbung für den Wirtschaftsstandort Ruhrgebiet und NRW zu machen.
Meine Erfahrung an dem Tag war: Das war eine andere Art Kulturhauptstadt – eher Kultur von unten, und dass man «Hauptstadt» war, interessierte an dem Tag wenige, außer, dass es eben der nützliche Anlass war, die Autobahn still zu legen. Vieles geht dann ohne Lärm und Abgase! Und was Frank Goosens Großvater angeht, der auf die Frage, warum man im Revier überhaupt leben könne, gesagt haben soll: «Woanders is auch Scheiße!» – so könnte er an dem Tag ruhig das «auch» weggelassen haben…
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