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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2010
Die angekündigte Anhebung des Mindestlohns reicht nicht zum Leben
von Lutz Getzschmann

In den letzten Jahren haben zahlreiche internationale Textilkonzerne Bangladesch als Billiglohnland entdeckt, seitdem die Textilarbeiterinnen in China und anderen süd- und ostasiatischen Ländern in erfolgreichen Lohnkämpfen beträchtliche Lohnsteigerungen erzielen konnten. Nun setzten sie sich in diesem Sommer auch in Bangladesch zur Wehr.

In diesem Sommer gab es in der Textilindustrie in Bangladesch heftige Konflikte. In einem beispiellosen Massenstreik begehrten die Textilarbeiterinnen gegen niedrige Löhne und exorbitante Preissteigerungen auf und erschütterten das Land, das schon seit einiger Zeit von inneren Unruhen erfasst ist. Auftakt der Streikaktionen war ein massiver Generalstreik Mitte Juli in der Bekleidungsindustrie, der die Hauptstadt Dhaka komplett lahmlegte.

Unmittelbarer Anlass waren Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Angesichts der erbärmlichen Löhne, die seit 2006 nicht mehr angehoben worden waren (und auch diese Anhebung war erst nach einem Streik erfolgt), war das Überleben der Arbeiterinnen und Arbeitern kaum noch gesichert. Der durchschnittliche Lohn einer Textilarbeiterin betrug zu Beginn der Streikaktionen 1887 Taka im Monat, das sind etwas über 21 Euro; die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass man mindestens 8000 Taka zum Überleben braucht.

Obwohl die Polizei die Streikenden massiv angriff, den Streik gewaltsam beendete und die Arbeiterinnen zurück an die Arbeit zwang, war das Signal, das von dem Generalstreik ausging, stark genug, um die regierende Awami-League zu veranlassen, Ende Juli einen höheren Mindestlohn in der Textilindustrie von 3000 Taka (knapp 34 Euro) monatlich anzukündigen.

Damit blieb die Regierung jedoch deutlich unter der Forderung der Streikenden und ihrer Gewerkschaften von 5000 Taka monatlich und auch weit unter einem Lohn, von dem die Beschäftigten ihren täglichen Lebensunterhalt bestreiten könnten. Die Arbeiterinnen setzten deshalb ihre Aktionen fort. Sie streikten, bauten Barrikaden und Straßensperren, zündeten Autos an und demonstrierten, wobei es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei kam.

Erwartungsgemäß vertraten die Medien uneingeschränkt den Standpunkt der Regierung und der Textilfabrikanten und denunzierten die Arbeiterinnen als «Randalierer». Über die Gewaltexzesse der Polizei berichteten sie allenfalls am Rande. Auch die zynische Haltung der Textilfabrikanten, die eine Verschiebung der von der Regierung angekündigten Lohnerhöhung um vier Monate forderten – und diese bewilligt bekamen – und sogar mit einer Verlagerung ihrer Produktionsstätten in andere Länder drohten, wurde in der öffentlichen Meinung kaum thematisiert.

Fabrikschließungen

Die Textilfabrikanten schlossen 250 Fabriken und forderten die Unterstützung der Polizeikräfte an, um Fabrikbesetzungen zu verhindern und den Streik niederzuschlagen. Bei den darauffolgenden Auseinandersetzungen gingen die Polizeikräfte mit großer Härte gegen die Streikenden vor. Dabei wurden mehr als 100 Arbeiterinnen verletzt, die Gewalt der Polizei richtete sich auch gegen Kinder und Jugendliche.

Zugleich erklärten die beiden wichtigsten Unternehmerverbände, die Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (BGMEA) und die Bangladesh Knitwear Manufactures & Exporters Association (BKMEA), sie würden auf keinen Fall Lohnerhöhungen über die von der Regierung zugesicherten 3000 Taka monatlich hinaus zustimmen, und es sei Aufgabe der Regierung, Ruhe, Ordnung und Arbeitsdisziplin wieder herzustellen.

Anfang August akzeptierten schließlich 42 der insgesamt über 60 Gewerkschaften der Textilarbeiterinnen die von der Regierung angekündigten Lohnerhöhungen. Darunter waren überwiegend regierungsnahe und moderate Gewerkschaften, aber auch die bisher als radikal und syndikalistisch geltende National Garment Workers Federation (NGWF). Einige radikalere Arbeiterorganisationen lehnten das bescheidene Zugeständnis weiterhin ab und setzten ihre Proteste noch bis Ende August fort, trotz der verstärkten Repression und der durch die Spaltungstaktik der Regierung bewirkten Schwächung der Bewegung.

Festnahmen

Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden mehr als 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter in Polizeigewahrsam genommen. Nachdem die Polizei mit Hilfe von Bildmaterial versucht hatte, die «Rädelsführer» zu identifizieren, wurden noch mehr verhaftet. Man nutzte die Gelegenheit außerdem dazu, um mit harter Hand auch gegen führende Aktivisten der Gewerkschaften und der bengalischen Linken vorzugehen, mehrere Kader der Communist Party of Bangladesh (CPB) und des mit der CPB verbundenen Garment Trade Union Center (GTUC) befanden sich unter den Verhafteten, Mitglieder der Bangladesh Socialist Party und des von dieser geführten Garments Sramik Sangram Parishad (GSSP) wurden Opfer von Hausdurchsuchungen und polizeilichen Ermittlungen. Das Innenministerium schickte gegen die Arbeiterinnen das «Rapid Action Battalion» aus, eine Eliteeinheit, die normalerweise gegen organisiertes Verbrechen, terroristische Gruppen und Guerillabewegungen eingesetzt wird.

Die Repressionswelle führte zu Protestdemonstrationen, an denen sich neben den Textilarbeitergewerkschaften auch die breitere bengalische Linke stark beteiligte. Am 14.August etwa besetzten 4000 Arbeiter vier Stunden lang die Autobahn zwischen Dhaka und Sylhet, bis sie schließlich von den Sicherheitskräften vertrieben wurden.

Die Minimalforderungen der Protestierenden beinhalteten die Einführung des von der Regierung angekündigten Mindestlohns ab August statt ab November, den 8-Stunden-Tag (statt des jetzigen 11-Stunden-Tags), das sofortige Ende der Verhaftungen und der Gewaltmaßnahmen des Staates, den Rückzug der Schlägertrupps der Textilfabrikanten und die Freilassung der inhaftierten Arbeiter. Ihre Aktion wurde unterstützt durch eine große Menschenkette, die von Arbeitern, Lehrern, Künstlern und Intellektuellen am zentralen Platz Shahbagh in Dhaka organisiert wurde.

Die Regierung jedoch zeigte sich unbeeindruckt und die Innenministerin von Bangladesch, Sahara Khatun, kündigte an, gegen sämtliche Teilnehmer an illegalen Demonstrationen und gewalttätigen Unruhen des Sommers mit aller Härte des Gesetzes vorgehen zu wollen.

Doppelstrategie

Die Streiks und Demonstrationen setzten die in Bangladesch ansässigen Textilunternehmen schwer unter Druck. Ihr Interesse an einer gewaltsamen Niederschlagung des Streiks war groß, denn weitere zwei Wochen hätten sie den Mobilisierungen der Beschäftigten nicht mehr standgehalten. Die Arbeiter hatten im Laufe der Aktionen Fabriken direkt angegriffen und einige Produktionsstätten verwüstet.

Größer allerdings waren die Verluste der Unternehmer durch den Stillstand der Produktion, sie sprechen von umgerechnet 113 Millionen US-Dollar. Die Unternehmer drohen nun mit dem Abzug von Produktionskapazitäten in andere Länder, die Regierung ist bemüht, Ruhe herzustellen, bevor sich die Unruhen zu einem Flächenbrand ausweiten können.

Angesichts der deutlicheren Verschlechterung der ökonomische Situation und der Lebensbedingungen der Bevölkerung in den letzten Jahren kann sich der aufgestaute Unmut jederzeit in gewaltsamen Protesten entladen. Dabei fährt die Regierung eine Doppelstrategie: Einerseits greift sie mit großer Härte radikalere Gewerkschaften und linke Organisationen an – deren Aktivisten werden oft auf Polizeistationen misshandelt. Zugleich versucht sie, regierungstreue Gewerkschaften zu stärken.

Die 3,5 Millionen Beschäftigten der Textilindustrie, in der Mehrzahl Frauen, sind in mehr als 60 Gewerkschaften organisiert. Die meisten dieser Gewerkschaften sind illegal und müssen unter konspirativen Bedingungen arbeiten. Zugleich richtet sich der Blick des Staates auf die Tätigkeit von NGOs, die in den letzten Jahren mit Unterstützung von Gewerkschaften und Solidaritätsgruppen in westlichen Ländern aufgebaut wurden. Sie sind eine Quelle finanzieller Unterstützung und Informationsaustausch und führen internationale Kampagnen zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen der bengalischen Arbeiterinnen.

In den letzten fünf Monaten hat das staatliche NGO Affairs Bureau 334 NGOs geschlossen. Die Regierung unterstellt ihnen eine unterstützende Rolle bei den militanten Protesten und den Organisierungsbemühungen der radikaleren Gewerkschaften. Unter anderem wurde auch das Bangladesh Center for Workers Solidarity (BCWS) geschlossen, das in den letzten Jahren zusammen mit britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften wichtige Kampagnen organisiert hat, um im Westen öffentlichen Druck auf die großen Einzelhandelskonzerne und Textilunternehmen auszuüben, und eine koordinierende Rolle bei den jüngsten Streiks gespielt hat.

Die globalen Textilkonzerne

Die Textilindustrie ist der wichtigste Industriezweig im 1971 von Pakistan abgespaltenen Bangladesch. Ihr Exportanteil beträgt 80%, und mit 3,5 Millionen verzeichnet sie den größten Anteil an Beschäftigten. Die Textilproduktion hat eine lange Tradition in Bengalen, die bis weit in die vorkoloniale Zeit zurückreicht.

In den letzten Jahren entdeckten die global agierenden Textil- und Bekleidungskonzerne, stets auf der Suche nach immer neuen Niedriglohnländern, Bangladesch als Produktionsstandort, nachdem sie in Ländern wie China, den Philippinen und Indonesien verstärkt mit gewerkschaftlichem Widerstand gegen Niedriglöhne und extrem schlechte Arbeitsbedingungen konfrontiert worden waren. Längst lassen Einzelhandelsriesen wie Wal-Mart, aber auch Lidl und KiK in Bangladesch durch dort ansässige Firmen für sich produzieren, ohne dass die Arbeitsbedingungen der bengalischen Textilarbeiterinnen im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit in Nordamerika oder Europa eine Rolle spielen.

Durchbrochen wurde diese Mauer des Schweigens und Desinteresses im August, als die Nachrichten von Straßenschlachten zwischen der Polizei und den Streikenden auch hier durch die Medien gingen und ein Bericht in einem ARD-Magazin die mörderischen Bedingungen enthüllte, unter denen KiK und andere westliche Konzerne dort produzieren lassen. Obwohl es auch in vergangenen Jahren schon ähnliche Berichte gegeben hatte, kam die Firmenleitung von KiK, einem Unternehmen der Tengelmann-Gruppe, erst jetzt durch die aufgeschreckte Öffentlichkeit richtig unter Druck.

Da die Wirtschaft von Bangladesch stark von der Textilindustrie und deren Weltmarktposition abhängig ist, hat bisher noch jede der in den letzten Jahren um die Regierungsmacht kämpfenden politischen Parteien – sowohl die regierende populistische Awami League, wie auch die oppositionelle konservative Nationalist Party – große Energien darauf verwendet, die Ausbeutungsbedingungen in der Textilindustrie zu schützen.

Die einzige Option für die Textilarbeiterinnen und ihre Gewerkschaften ist es daher, durch direkte Aktionen, Streiks und Demonstrationen das öffentliche Leben lahmzulegen. Die Produktionsmacht der Arbeiterinnen in der Textilindustrie selbst ist gering, nur durch die Ausweitung des Kampfterrains und eine breite Solidarisierung aus anderen Sektoren der Arbeiterklasse sind ihnen Erfolge möglich. Wichtig ist hierfür auch der internationale Druck, den Gewerkschaften und Kampagnengruppen in westlichen Ländern auf Einzelhandelsketten und Textilkonzerne ausüben.

Gerade vor dem Hintergrund der verschärften Repressionswelle und der Versuche des Staates, vor allem dieses Band der Solidarität zu kappen, erfordert die Entwicklung der Klassenkämpfe und der politischen Ereignisse in Bangladesch eine verstärkte Aufmerksamkeit.

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