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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2010
von Beatrix Sassermann

Anfang Juni wurde in Brasilien ein neuer Gewerkschaftsverband gegründet. Die Gründung blieb jedoch unvollständig: Wegen mangelnder Konsensfähigkeit und unterschiedlichen politischen und organisatorischen Vorstellungen blieben wichtige Gewerkschaften fern.

Im Jahr 2004 beschloss die Regierung Lula eine Rentenreform, die gravierende Verschlechterungen beinhaltete. Anders als beim vorhergehenden Versuch der Vorgängerregierung Cardoso, die Renten zu reformieren, rief diesmal der bedeutendste Gewerkschaftsdachverband CUT nicht zu Protesten auf. Die Folge waren Wut und Enttäuschung und die Schaffung einer sog. Nationalen Koordinierung der Kämpfe (Conlutas), die gegen die «Reform» mobilisierte. Aus dieser Koordinierung wurde 2006 formal der Dachverband Conlutas der radikalen Linken gegründet. In Brasilien gibt es sechs gewerkschaftliche Dachverbände.

Viele, auch Unzufriedene, waren damals aber noch nicht bereit, aus der CUT auszusteigen und bei der Neugründung mitzumachen. Sie bildeten innerhalb und außerhalb der CUT neue Strömungen (z.B. die Intersindical), um sich eigenständig zu organisieren. Bei sozialen Angriffen kooperierten sie mit den Mitgliedern von Conlutas, auch wenn man sich bei Gewerkschaftswahlen vor Ort unter Umständen als Gegner oder auf konkurrierenden Listen gegenüber stand.

Der Gründungskongress

Auf dem Weltsozialforum in Belém im Februar 2009 vereinbarte eine Versammlung mit über 1000 Teilnehmenden die Schaffung eines neuen Dachverbandes. Binnen eines Jahres sollte festgestellt werden, ob eine solche Vereinigung möglich sei. Im Laufe dieses Jahres führten die einzelnen Strömungen bzw. Gewerkschaften 970 Versammlungen durch. Bei diesen Treffen diskutierten insgesamt rund 20.000 Lohnabhängige über den Zusammenschluss, stimmten darüber ab und benannten Delegierte. In vielen Punkten wurde Einigkeit erreicht, drei große Fragen blieben jedoch offen. Sie sollten auf dem Gründungskongress des neuen Dachverbands Anfang Juni zur Abstimmung gestellt werden.

An den beiden Tagen vor der Gründung des neuen Dachverbandes stimmten ca. 2000 Aktivisten aus 389 Gewerkschaften auf dem Kongress von Conlutas für die Auflösung ihrer Organisation zugunsten des neuen Dachverbandes. [Der bestehende Dachverband Conlutas wurde somit zugunsten eines neuen, größeren Dachverbands aufgelöst, d.Red.]

Der Gründungskongress fand am 5. und 6.Juni in Santos statt, einer Stadt rund 70 Kilometer von São Paulo entfernt. 4050 Teilnehmer, davon 3180 Delegierte, vertraten rund 3,5 Millionen Beschäftigte. Auch Beobachter, Gäste und Unterstützer waren gekommen. Die wichtigsten Teilnehmerorganisationen waren Conlutas, Intersindical, Pastoral Operária Metropolitana de São Paulo (PO – die Arbeiterpastorale der Stadt São Paulo), Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST – Arbeiter ohne Obdach), Movimento Terra, Trabalho e Liberdade (MTL – Bewegung Land, Arbeit und Freiheit) und MAS (Movimento Avanço Sindical – Bewegung für gewerkschaftlichen Fortschritt). Die größte unter den teilnehmenden Gewerkschaften war Conlutas, die zweitgrößte Intersindical.

Internationale Teilnehmer

Zum Gründungskongress kamen 120 Vertreter aus 26 Ländern Europas, Lateinamerikas, dem karibischen Raum, den USA und Japan. In den Kongressdebatten wurde immer wieder betont, dass der Internationalismus – wie auch der Kampf für den Sozialismus – einer der Grundpfeiler des neuen Verbandes sein soll. In einem sehr bewegenden Moment wurden die internationalen Gäste nach vorne gerufen und sangen gemeinsam mit 4000 Brasilianern die Internationale in ihrer jeweiligen Sprache.

Bewegend war auch die Ansprache des Vertreters aus Haiti, der u.a. den Abzug der brasilianischen Truppen aus seinem Land forderte und darauf hinwies, dass die «humanitäre Hilfe» aus den USA für die Erdbebenopfer eher eine Verstärkung der Militärpräsenz bedeute mit dem Ziel, so nahe an Venezuela und Kuba den Einfluss der USA in der Region zu vergrößern. Viel Beifall erhielt auch der Kollege aus Griechenland, der über den Widerstand und die Streiks gegen die Abwälzung der Krisenlast auf die Erwerbstätigen in seinem Land berichtete. Als weitere Punkte standen der Überfall der Israelis auf die Gaza-Flotille und die Situation in Honduras nach dem Putsch vor einem Jahr auf der Tagesordnung.

Auch hierzulande bekannte Personen und Organisationen waren zugegen: Matteo Beretta von der FIOM, Italien; Christian Mahieux von SUD, Frankreich; Jane Slaughter von Labor Notes, USA; Edgar Paez von Sinaltrainal, Kolumbien; Vertreter von Jubilee South und der MST (der Landlosenbewegung in Brasilien).

Drei Streitpunkte

Im Mittelpunkt des Kongresses standen drei zentrale Punkte, über die in der Vorbereitungsphase des Gründungskongress partout keine Einigkeit gefunden werden konnte.

Der Charakter der Organisation: In Conlutas waren auch Studierende organisiert gewesen, die auf dem Kongress glühend für ihren Platz in der neuen Organisation kämpften. Sie hatten bei Streiks und Mobilisierungen an der Seite der Arbeiter gestanden und sahen sich als Teil der Einheitsfront, die nun gegründet werden sollte. Andere vertraten jedoch den Standpunkt, dass Studierende nicht zur Arbeiterklasse gehören und nur ein Durchgangsstadium darstellen, und wollten deshalb keine Vertretung von Studierenden akzeptieren. Denselben Personen, die die Studierenden ablehnten, war auch schon die Einbeziehung sozialer Bewegungen, wie die der Landarbeiter und der Obdachlosen, schwer gefallen. Ähnliches galt auch für die Vertretungen von Schwulen, Afro-Brasilianern usw.

Man einigte sich darauf, dass die Vertreter dieser unterdrückten Gruppen insgesamt nicht mehr als 5% der Mitglieder des neuen Dachverband ausmachen dürften. Zu guter Letzt wurde der Charakter der Organisation als sindical (gewerkschaftlich), popular (aus dem Volke – gemeint sind soziale Bewegungen) und estudantil (studentisch) bestimmt.

Die innere Struktur der Organisation: Bis ein Kompromiss für die Art der Wahl des Vorstands gefunden wurde, gab es große Differenzen. Wie kann eine Bürokratisierung, die ja alle an der CUT kritisiert haben, verhindert werden? Soll, wie üblich, ein Vorstand auf dem Kongress gewählt werden, der dann die Geschicke für die nächste Zeit leitet, oder können Formen gefunden werden, die den Basisgewerkschaften auf Dauer mehr Einfluss garantieren? Die Conlutas hatte in ihrer eigenen Struktur von einem Kongressvorstand Abstand genommen und alle zwei Monate Versammlungen mit Vertretern der Basisorganisationen abgehalten. Das erschien besonders den kleineren Gewerkschaften zu aufwendig und zu teuer. Sie fürchteten auch einen Mangel an Kontinuität durch möglicherweise wechselnde Vertreter.

Der Kompromiss war dann eine Mischform. Übrigens haben neben den «normalen» Gewerkschaften, Bewegungen und unterdrückten Gruppen auch oppositionelle Listen ihren Platz in der neuen Organisation.

Der Name der Organisation: Das war der dritte und schwierigster Streitpunkt. Conlutas schlug den Namen Conlutas-Intersindical vor, die Intersindical und andere favorisierten jedoch den Namen CeClaT. Nach einer unglaublich hitzigen und teilweise eskalierenden Diskussion wurde abgestimmt – die Stimmen wurden zweimal gezählt. Es gab eine klare, aber nicht große Mehrheit für den Namen «Conlutas/Intersindical – Central Sindical y Popular». Daraufhin verließen Intersindical, MAS und eine kleinere Gruppe (Unidos para Lutar – Gemeinsam kämpfen) aus Protest den Kongress.

Am Ende eines so bewegenden und konstruktiven Kongresses wählten die Verbliebenden (Conlutas, MTST, MTL u.a.) einen vorläufigen Vorstand. Der neue Dachverband wurde also ohne einen bedeutenden Teil der Bewegung und mit einem nun unpassenden Namen gegründet. Ihn nicht zu gründen ging aber auch nicht, weil Conlutas sich bereits aufgelöst hatte. Klar war, dass nicht der Name der Organisation das ausschlaggebende Problem war, sondern Fragen wie Hegemonie der Mehrheit, Einhaltung von Absprachen, Konsensfähigkeit und Rücksichtnahme, unterschiedliche politische und organisatorische Konzepte, z.T. verbunden mit dahinter stehenden politischen Parteien.

Das Scheitern bei der Namensfindung und eine Neugründung ohne wichtige Gewerkschaften, die daran hätten beteiligt sein sollen, soll jedoch kein Anlass für Besserwisserei oder Arroganz sein. Die Aufgaben und Fragen, die sich die brasilianischen Kollegen gestellt haben, sind bei uns überhaupt (noch) nicht in Sicht. Die große Anzahl junger Leute, die lebendige Selbstverständlichkeit, mit der die Beteiligten für ihre eigenen Interessen eintreten und voranschreiten, die Handlungsfähigkeit der brasilianischen Linken bleiben trotz alledem eine Inspiration. Diese Erfahrungen sind für uns höchst lehrreich und interessant.

Die Autorin nahm als Vertreterin von BaSo am Kongress teil.

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