Literaturnobelpreis 2010: Von der nueva novela zum Kandidaten der Konservativen
von Paul Kleiser
Nachdem er seit bald vierzig Jahren als Anwärter gehandelt wurde, hat der 1936 im peruanischen Arequipa geborene Mario Vargas Llosa in diesem Herbst nun endlich den Nobelpreis für Literatur erhalten. Er folgt damit auf seinen früheren Freund und heutigen Gegenspieler Gabriel García Márquez, der 1982 ausgezeichnet wurde, sowie auf den Mexikaner Octavio Paz, der 1990 an der Reihe war.
Langsam scheint sich eine Wiederentdeckung der großen lateinamerikanischen Literatur anzubahnen. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse war Argentinien als Gastland eingeladen. Und in den hiesigen Verlagen erscheinen wieder zunehmend Werke lateinamerikanischer AutorInnen.
Nach einem Boom in den 70er Jahren war das Interesse an der Literatur dieses Kontinents stark abgekühlt. Unter anderem hing das mit den geschwundenen Hoffnungen zusammen, die viele Linke auf Kuba und die lateinamerikanische Revolution gesetzt hatten, die dann jedoch in vielen Ländern, vor allem aber in Chile und Argentinien, im Blut erstickt wurde. Die brutale Mittelamerikapolitik der Reagan-Administration (in Nikaragua, El Salvador, Grenada), aber auch Fehler der revolutionären Bewegungen taten ein Übriges, solche Hoffnungen zu untergraben.
Unbestritten zählt Vargas Llosa vor allem wegen seiner Romane der 60er Jahre zu den bedeutendsten heute lebenden Schriftstellern. Allerdings liegt sein Fall ähnlich wie der von Günter Grass, der mit der Danziger Trilogie und vor allem der Blechtrommel, dem besten deutschen Roman der 50er Jahre, den großen Wurf machte, dann jedoch die literarische Qualität dieser ersten drei Romane nie wieder erreicht hat.
Der frühreife Vargas Llosa promovierte bereits mit 22 Jahren mit einer Arbeit über den nikaraguanischen Schriftsteller Rubén Darío (1867–1916), einem der ersten eigenständigen lateinamerikanischen Autoren. Mit 26 Jahren publizierte er seinen ersten weltweit erfolgreichen Roman, Die Stadt und die Hunde, über die Machtstrukturen in einem Militärinternat, der auf persönlichen Erfahrungen beruht. Mit diesem Werk brachte er die peruanischen Militärs so sehr gegen sich auf, dass sie das Buch auf dem Marktplatz von Lima öffentlich verbrennen ließen.
Die Episode erinnert an die Geschichte der französischen Frühsozialistin und Feministin Flora Tristan (1803–1844), die sich 1833 nach Peru einschiffte, um in Vargas Llosas Geburtsstadt Arequipa bei ihrem Onkel das Erbe ihres peruanischen Vaters Tristan y Moscoso zu beanspruchen – vergeblich. Das literarische Zeugnis der Reise dieser mutigen Frau unter lauter Männern, Fahrten einer Paria (auf deutsch erhältlich unter dem geschönten Titel Meine Reise nach Peru) und des etwa anderthalbjährigen Aufenthalts im Land ihres Vaters wurde in Peru nach Erscheinen ebenfalls öffentlich verbrannt. Heute versucht der peruanische Staat, Flora Tristan als große Peruanerin für sich zu vereinnahmen.
Im Jahre 2003 hat Vargas Llosa mit seinem Buch Das Paradies ist anderswo Flora Tristan und ihrem Enkel Paul Gauguin ein literarisches Denkmal gesetzt. Eine weitere Parallele zwischen Flora Tristan und Vargas Llosa besteht auch darin, dass beide vaterlos bei ihren Müttern in armen Verhältnissen aufwuchsen.
Mitte der 60er Jahre erschien von Vargas Llosa Das grüne Haus, eine Art peruanisches Panoptikum, in dem anhand von fünf auf komplizierte Weise miteinander verstrickten Erzählsträngen Gegenwart und Geschichte des Landes untrennbar miteinander verwoben werden. In der Art von Orson Welles’ Citizen Kane muss der Leser/die Leserin die verschiedenen Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.
Das grüne Haus ist ein Bordell in der gottverlassenen Wüstenstadt Piura im Norden des Landes, in dem sich zahlreiche Geschichten von maßloser Liebe und unbändigem Hass vielfach brechen. Man könnte sagen, die Kolonialzeit breche in das Leben der Jäger und Sammler ein – mit mörderischen Folgen. Nachgezeichnet werden die unterschiedlichen Zivilisationsstufen der peruanischen Gesellschaft, die in eine weiße Oberschicht und mestizische Mittelschichten zerfällt, für die Indios und Schwarze ausbeutbare Objekte darstellen, und die extremen psychosozialen Spannungen in der peruanischen Gesellschaft, vor allem ihren unbändigen «machismo».
Gewalt und sexuelle Ausbeutung vor dem Hintergrund einer zerrissenen Gesellschaft sind ein Grundthema in den Romanen von Vargas Llosa.
Der dritte große Roman der 60er Jahre, Konversation in der Kathedrale, stellt die erste große Arbeit von Vargas Llosa dar, in der er sich mit einer konkreteren historischen Epoche, der Zeit der Militärdiktatur von General Odría beschäftigt, der 1948 vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges den gewählten Präsidenten Bustamente wegputschte.
Später hat sich Vargas Llosa nochmals dieses Themas angenommen, nämlich der von den USA unterstützten Militärdiktatur von General Trujillo, der die Dominikanische Republik von 1930 bis zu seiner Ermordung 1961 wie eine private Hazienda ausbeutete. Das im Jahr 2000 veröffentlichte Fest des Ziegenbocks enthält eine Analyse der Macht- und Herrschaftsstrukturen des langjährigen Diktators – ohne die superbe literarische Qualität des Romans von 1969 wieder zu erreichen.
Die «Kathedrale» ist hier kein religiöser Ort, sondern – Ironie des Schriftstellers – eine Spelunke in Lima. Hier offenbart sich die innere Lage einer Gesellschaft, die unter der Diktatur ein riesiges Frustrationspotenzial aufbaut und in Worten und Werken eine Leere aushalten muss, die ganz im Gegensatz zum offiziellen Optimismus steht, den das herrschende B
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