Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe* erschienen
von Helmut Dahmer
Zum 70.Todestag von Walter Benjamin hat der Suhrkamp Verlag eine kritische Edition der Thesen Über den Begriff der Geschichte herausgegeben. Sie umfasst die sechs verschiedenen Versionen der Thesen samt Faksimiles, Entwürfen und Briefen sowie einen 200 Seiten starken Kommentar.
Der Versuch, den gesamten Thesen-Komplex aus den Fragmenten, die Benjamin seinen Freunden übermittelt hat, zu erschließen, musste scheitern. Denn Benjamin hatte gerade diejenigen Notate, in denen er das «Programm» der Thesen formulierte, zurückbehalten, oder schon im Entwurf gestrichen, so als folge er der Maxime: «Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.»
«Vergangenes historisch artikulieren heißt … sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt», schrieb Mitte März 1933 der aus Hitlerdeutschland nach Paris geflohene Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in der sechsten seiner achtzehn Thesen Über den Begriff der Geschichte.
Nach dem Verlust der Publikationsmöglichkeiten bei deutschen Zeitungen und Verlagen in dürftigen Verhältnissen lebend, in steter Sorge um das Stipendium, das er von dem in die USA emigrierten Frankfurter «Institut für Sozialforschung» erhielt, arbeitete Benjamin in der zweiten Hälfte der 30er Jahre vor allem an einer großen Studie über Baudelaire und, im Zusammenhang damit, an seinem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk.
Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage durch die stalinisierte Komintern, der «Große Terror» in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen gegen die alten Bolschewiki, der Niedergang der «Volksfront» in Frankreich und die Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg machten die Hoffnung des Emigranten auf eine europäische Arbeiterrevolution, die einen zweiten Weltkrieg verhindern könnte, zunichte.
In der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom 23.August 1939, der Hitler die Möglichkeit gab, halb Polen zu besetzen und sodann in rascher Folge auch Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Belgien, geriet Benjamin – wie viele andere deutsche Flüchtlinge in Frankreich – in einen tödlichen Malstrom. Zunächst wurde er ins Olympia-Stadion von Colombes bei Paris beordert, das als Sammelplatz für «feindliche Ausländer» diente, dort zehn Tage festgehalten und dann für drei Monate in einem anderen Auffanglager, einem heruntergekommenen Schloss bei Nevers, interniert.
Als er, gesundheitlich angeschlagen, Ende November endlich nach Paris zurückkehren konnte und seine Arbeit in der Nationalbibliothek wieder aufnahm, blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die deutschen Truppen am 14.Juni 1940 Paris besetzten. Benjamin floh rechtzeitig mit Zehntausenden südwärts, über Lourdes nach Marseille. Max Horkheimer und anderen Freunden gelang es schließlich, ihn mit den erforderlichen Papieren auszustatten, die es ihm ermöglichen sollten, den Menschenfängern «Vichy»-Frankreichs und der Gestapo zu entkommen und über Franco-Spanien die Vereinigten Staaten zu erreichen.
Doch der Alkalde von Port Bou, das Benjamin mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreicht hatte, drohte, sie über die Grenze zurückzuschicken. Daraufhin beendete Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27.September 1940 sein Leben mit Hilfe von Morphiumtabletten.
In seine Geschichtsphilosophischen Thesen nahm er Bruchstücke aus früher geschriebenen, veröffentlichten und unveröffentlicht gebliebenen Texten auf, ebenso Zitate aus neueren Lektüren. Ihre definitive Gestalt erhielten sie erst in den Monaten, die auf den Schock des Hitler-Stalin-Pakts und der Internierung folgten, also zwischen Dezember 1939 und Mai 1940. Benjamin sorgte dafür, daß dies «Vermächtnis» – das Legat einer «geschlagenen Generation» – in unterschiedlichen Versionen an einige wenige gute Freunde ging:
Ein Exemplar erreichte über Hannah Arendt Theodor W. Adorno, ein anderes übermittelte seine Schwester Dora Benjamin mit Hilfe von Martin Domke ebenfalls Adorno; der für Gershom Scholem bestimmte Text ging verloren, und das von Georges Bataille (mit anderen Manuskripten Benjamins) in der «Bibliothèque Nationale» versteckte «Handexemplar» der Thesen übergab dessen Witwe erst 1981 unter dem Siegel der Verschwiegenheit Giorgio Agamben...
Benjamin betonte drei Grundfehler «unserer linken Führer»: ihren Fortschrittsoptimismus, das Vertrauen auf ihre «Massenbasis» und «ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat». Besonders dem «frömmelnden Optimismus» galt, wie er Mitte Dezember 1939 an Horkheimer schrieb, sein «unerbittlicher Hass».
Einflussreiche Historiker des 19.Jahrhunderts wie Leopold von Ranke oder Fustel de Coulanges hatten die Geschichtsschreibung dem Modell der Naturwissenschaft anzunähern gesucht. «Geschichte» imaginierten sie als eine Kette von Ereignissen, die in einer leeren, homogenen Zeit aufeinander folgen und sich dann nacherzählen lassen. Benjamin schrieb, bei der Einfühlung dieser Historiker in vergangene Epochen handele es sich allemal um eine Identifikation mit den Siegern, und diese sei eine Folge von «Herzensträgheit», nämlich der Weigerung, sich der namenlosen Fronsklaven, der Unterlegenen, der Opfer der Kultur zu erinnern und deren Perspektive einzunehmen.
Unter dem Einfluss neukantianischer Philosophen wie Paul Natorp und Karl Vorländer zeichneten sozialdemokratische Ideologen (Benjamin nennt unter anderen Josef Dietzgen und Robert Schmidt) ein Bild der historischen Entwicklung, auf dem diese einer Rolltreppe glich, die die Menschheit langsam, aber unaufhaltsam ihrem «Ideal», der Zukunftsgesellschaft, näherbrachte. Angesichts der Katastrophen seit 1914, der Gräuel des Faschismus und des Umschlags der russischen Revolution in eine despotische Schreckensherrschaft plädierte Benjamin, der in den Thesen als der «historische Materialist» (oder «Dialektiker») auftritt, für einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von Geschichte und Geschichtsschreibung, wie sie dem Historismus ebenso wie dem Vulgärmarxismus der Sozialdemokraten zugrunde lag.
Seinen Brüdern im Geiste und in der Politik riet Benjamin, radikal mit liebgewordenen Denkgewohnheiten zu brechen und sich für ein neuartiges Geschichtsverständnis zu öffnen, das Faschismus wie Stalinismus Rechnung trägt. In seinen Thesen umriss er die ihm vorschwebende gründliche Revision des vulgarisierten, konformistisch gewordenen historischen Materialismus. Weder Max Horkheimer noch Gretel Adorno mochte er sie in ihrer provisorischen Fassung vorlegen, schon gar nicht wollte er sie veröffentlicht sehen. Er fürchtete das «enthusiastische Missverständnis» und hatte bei der Redaktion mindestens einer der überlieferten sechs Varianten auch die (französische) Zensur im Sinn. So ließ er fort, was er bei den wenigen guten Freunden, die seinen Text lesen sollten, glaubte voraussetzen zu können.
Dieser elliptische («knappe», «reduzierte») und darum enigmatische Charakter seiner Thesen hat, seit sie 1942 bzw. 1950 veröffentlicht wurden, nicht wenig zu Fehldeutungen beigetragen. Günther Stern-Anders hielt sie, laut Brecht, für «dunkel und verworren», Brecht selbst aber (1941) für «klar und entwirrend»; Adorno und Horkheimer sahen, dass Benjamins «letzte Konzeption» ihren eigenen Intentionen nahekam, bemängelten aber «eine gewisse Naivität in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist», bzw. die allzu «unverhüllte» Terminologie. Hannah Arendt und Heinrich Blücher wiederum hielten die Thesen für eine Art Abrechnung mit der Philosophie Horkheimers und Adornos, Arendt fürchtete gar, diese «Schweinebande» werde den Text «einfach unterschlagen»: «Die werden sich rächen, wie sich Benji im Grunde durch Schreiben dieser Sache gerächt hat.»
Jüngst noch meinte ein Rezensent, vor vier, fünf Jahrzehnten habe Benjamins «rätselhafte Orakelrede» als eine Art «heiliger Text» gegolten, nun aber – in der neuen Edition – erwiesen sich seine Thesen als ein weit überschätzter, widersprüchlicher und «diffuser Komplex von Papieren».
Erst die Reunion der verstreuten Versionen und Entwürfe zeigt, dass es sich bei den Thesen um die Disposition zu einem theologisch-politischen Traktat handelt. Dessen Thema ist die ausstehende Revolution, eine, die dem ruinösen «Fortschritt», wie er im Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen gedeiht – «Trümmer auf Trümmer» und Massaker auf Massaker häufend – ein Ende setzt.
Der Leser meint, einem Gespräch der unterschiedlichen Personen beizuwohnen, die Walter Benjamin in sich vereinigte, oder hört aus diesem Symposion die einander widerstreitenden Stimmen seiner Freunde Bertolt Brecht und Gershom Scholem heraus. Auch andere seiner literarischen Favoriten kommen zu Wort: Marcel Proust bringt die Lehre von der unwillkürlichen Erinnerung einer verlorenen Zeit als einer «Jetztzeit» ein, Schlegel und Novalis mahnen, «wir sind auf der Erde erwartet worden», und Franz Kafka gibt zu bedenken: «Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht schon im Augenblick, da er sich auftut, ins Leere spricht»…
«Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst», heißt es im Anschluss an Georg Lukács in der XII. These. Der revolutionäre Historiker ist deren Mandatar. Im Unheil der Gegenwart manifestiert sich ihm die Quintessenz (oder «Abbreviatur») der gesamten Klassengeschichte. Wo andere dem technischen Fortschritt huldigen, erblickt er dessen Nachtseite, den gesellschaftlichen Rückschritt. Wo andere die Kulturgüter feiern, erinnert er sich mit Grausen der Generationen von Fronarbeitern, die vernutzt wurden, um sie zu schaffen. Mit Rosa Luxemburg (im Text ist von «Spartacus» die Rede) erkennt Benjamin in der Katastrophe die wahre «Daseinsform» des Kapitalismus, in der vermeintlichen Ausnahme die Regel.
Weder die Führer, Ideologen und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen noch die der stalinisierten Kommunistischen Parteien haben sich dem gewachsen gezeigt; ihr Fortschrittsoptimismus schlug sie mit Blindheit. 1914 wie 1933 und 1939 wurden sie von den «Ereignissen» überrascht.
*Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlass, Kritische Gesamtausgabe, Bd.19 (Hg. Gérard Raulet), Berlin (Suhrkamp) 2010, 380 S., 34,80 Euro.
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