«Wenn es einen Michelin-Führer der Proteste gäbe, hätte Frankreich drei Sterne verdient, dicht gefolgt von Griechenland mit zwei Sternen», schreibt Tariq Ali in einem Kommentar zum Aufstand gegen die Rente mit 67 in Frankreich.
Dort verallgemeinern sich die Proteste nicht durch den Aufruf der Gewerkschaften zum Generalstreik – dieser Aufruf lässt auf sich warten –, sondern durch die Politisierung der Auseinandersetzung und die dadurch mögliche Beteiligung von immer mehr Sektoren an den Kämpfen.
Olivier Besancenot, Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), hat sich in einem Interview mit Le Monde jugendlichen Kritikern gestellt.
Zbeul: Ist dieser Streik ein politischer Streik, der eine allgemeine Unzufriedenheit ausdrückt, oder ein sozialer Streik, der sich nur um die Frage der Rente dreht?
Die Unzufriedenheit geht über die Frage der Rente hinaus, aber an der Frage der Rente kristallisiert sie sich. Viele Lohnabhängige und viele junge Leute können nicht länger ertragen, dass die Regierung mit zweierlei Maß misst, und sehen tatsächlich im Rentenstreik eine Möglichkeit der Abrechnung mit der Regierung Sarkozy, die wir schon zu lange ertragen.
Abdelmalik: Wie soll es weitergehen, wenn das Gesetz beschlossen ist?
Das Gesetz bleibt solange ein Entwurf, solange es nicht im Amtsblatt veröffentlicht ist. Und selbst wenn es dort veröffentlicht ist, erinnert uns die Sozialgeschichte unseres Landes daran, dass das, was das Parlament – Nationalversammlung und Senat – beschlossen hat, von der Straße wieder in Frage gestellt werden kann.
Fred: Selbst bei 3 Millionen Demonstranten – hat die Straße dieselbe Legitimität wie ein gewähltes Parlament?
Heute ist die Legitimität auf der Seite der Straße und die Straße kann eine größere Macht haben als die Regierungen. Das war so 1995, als der Plan Juppé durchgesetzt werden sollte [die Rentenregelungen für die Privatwirtschaft sollten auf den öffentlichen Dienst ausgeweitet werden,], das war so auch 2006, als es um die Erstanstellungsverträge [für unter 26-Jährige mit geringerem Kündigungsschutz] ging.
Unsere wichtigsten sozialen Errungenschaften wurden zuerst in den Kämpfen und Mobilisierungen unserer Großväter erstritten. Hätten sie 1936 nicht gestreikt, hätten wir heute keinen bezahlten Urlaub.
Opd: Sie glauben also, dass der Wahlakt aller Bürger weniger Wert hat als die sozialen Bewegungen?
Und zu welchem Zeitpunkt hätten die Bürger über die Rente mit 67 abgestimmt? Auf YouTube können Sie noch Nicolas Sarkozy sehen, wie er erkärt, er werde die Rente mit 60 nicht antasten.
Léon: Ruft die NPA die Schüler zu Streiks und Demonstrationen auf?
Die Schüler setzen sich ganz von selbst in Bewegung, sie brauchen niemanden dazu. Schüler können aber Mitglieder der NPA sein.
Außerdem stehen die Erwachsenen – Lohnabhängige, Eltern – häufig vor den Schulen und fordern von der Polizei, dass die sich daraus zurückzieht und ihre Provokationen sein lässt. Das ist eine gute Sache.
Roland: Die Gewalttätigkeiten, die es vor manchen Schulen gibt, bergen die Gefahr, dass die öffentliche Meinung über die Bewegung kippt. War es wirklich nötig, die Schüler da mit reinzuziehen?
Ja, alle müssen reingezogen werden. Die Jugendlichen verstehen: Wenn man von den Alten fordert, dass sie länger arbeiten, haben sie noch weniger Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden.
Die Regierung versucht mit ihren wiederholten Polizeiprovokationen, die Lage außer Kontrolle zu bringen, sie will Angst verbreiten, weil sie glaubt, dadurch den Protest klein zu kriegen.
Emilieu22: Was erlaubt es Ihnen, die Demonstrationen der letzten Tage mit Mai 68 zu vergleichen? Ist die Entwicklung einer solchen Bewegung in Frankreich wahrscheinlich oder gar wünschenwert?
Es gibt kein Modell, das sich exportieren ließe. Jeder Kampf ist ein besonderer und folgt seinen eigenen Gesetzen. Aber ich denke, ein neuer Mai 68 in den Farben des 21.Jahrhunderts würde niemandem schaden, höchstens den Kapitalisten und der Regierung. Das ist aber nicht schlimm…
Mai 68, das waren nicht nur Barrikaden, das war ein Generalstreik, bei dem eine Million Menschen auf die soziale und politische Bühne stürmten. Es ist dieser Sturm, den wir heute brauchen.
Thibaud: Streikende, die Raffinerien und Transportwege blockieren: Ist das noch Streik, wenn andere aktiv am Arbeiten gehindert werden? Kommt das nicht eher der Vorstellung nahe, die Sie sich von einem «revolutionären Aktivismus» machen?
Wir erleben (noch!) keine Revolution. Wir sind in einem Prozess der Verallgemeinerung der Streikbewegung, bei der Radikalisierung und Ausweitung Hand in Hand gehen. Die Bewegung breitet sich jedes Mal ein Stückchen mehr aus, gleichzeitig radikalisieren sich die Aktionen, weil die Regierung sie dahin treibt.
Marc: Hat die NPA ein alternatives Reformprojekt zum Rentenentwurf an der Hand? Wenn ja, wie lautet es?
Die NPA fordert nicht eine Verbesserung des Gesetzentwurfs, sondern schlicht und einfach seine Rücknahme. Wir wollen die volle Rente mit 60 und die Rückkehr zu 37,5 Jahren Rentenanwartschaftszeiten. Um das zu bezahlen, schlagen wir vor, die Arbeitgeberbeiträge zu erhöhen.
Nach Angaben des Rentenorientierungsrats [eine im Jahr 2000 gebildete, ständige Einrichtung, die Parlamentarier, Sachverständige, Vertreter der Tarifpartner und des Staates zusammenbringt] brauchen wir von heute bis zum Jahr 2050 3% des Bruttoinlandsprodukts, um die Rente zu finanzieren. Jedes Jahr verschwinden 17% des BIP in Form von Profiten in den Taschen einer privilegierten Minderheit.
Der Reichtum muss also verteilt werden, auch die Arbeitszeit muss umverteilt werden, sie muss in den Betrieben gekürzt werden, damit alle, die jetzt draußen sind, einen Arbeitsplatz bekommen können.
Victor: Welche Sektoren müssten Ihrer Ansicht nach vorrangig besteuert werden, wenn die nötigen Mittel aufgetrieben werden sollen, um die Rente zu finanzieren?
Die Kapitaleinkommen. Jedes Jahr gehen uns 32 Milliarden Euro durch Befreiung von Lohnnebenkosten verloren, womit angeblich Arbeitsplätze geschaffen werden (man sieht, mit welchem Erfolg!). Der Verzicht auf diese Beiträge reißt Löcher in die Kassen.
Georges P.: Wie kommt es, dass Sie offenkundig die wirtschaftlichen Folgen der Bewegungen, die Sie organisieren oder anstacheln, nicht fürchten (die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, das Wirtschaftswachstum usw.)?
Die Probleme, die die Wirtschaft derzeit hat, sind nicht Folge des Generalstreiks, sondern eines Tatbestands, der sich Kapitalismus nennt, dessen Krise, die vor zwei Jahren durch die Subprimekredite ausgelöst wurde, das Räderwerk der gesamten Ökonomie blockiert hat. Wir erleben eine Überproduktionskrise im marxistischen Sinne des Wortes. Wir werden eines Tages wohl eine neue Produktionsweise und Konsumtionsweise erfinden müssen, die uns erlaubt, die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen.
Student Tokyo: Glauben Sie, dass ein Referendum eine gute Lösung wäre, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen?
Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das wäre eine Ablenkung und ein institutioneller Ersatz für die soziale Mobilisierung. Wenn es ein wirksameres Mittel gibt um zu siegen, als der verlängerbare Generalstreik, soll man uns das sagen, ich sehe keins. Das Bürgervotum konnte zum Zeitpunkt der Privatisierung der Post ein Mittel sein, die Kämpfe zu unterstützen. Es kann sie aber in keinem Fall ersetzen.
Serena: Die Studenten bewegen sich noch sehr wenig, könnten sie eine zentrale Rolle spielen?
Keine Panik, Serena, das wird noch kommen! Ein Dutzend Universitäten sind schon in Aktion, und die Studentenproteste könnten tatsächlich eine entscheidende Rolle für die Ausweitung der Bewegung spielen.
MatthieuRecu: Es ist also normal, Einrichtungen zu blockieren und Menschen am Studieren zu hindern?
Es ist also normal, dass ich auf der Seite der Blockierer stehe.
Zbeul: Liegt die Lösung eher in den Aktionen des Schwarzen Blocks als in den traditionellen Latschdemos mit Merguez und CGT?
Ich bin eher für einen Roten Block. Außerdem mag ich Merguez-Würstchen und bin ein Verfechter des verlängerbaren Generalstreiks.
GG: Was wäre mit einer wirklichen Allianz zwischen NPA und Linksfront, um in den kommenden Jahren Druck auf die SP auszuüben?
Wir schlagen den Zusammenschluss aller antikapitalistischen Kräfte auf der Basis der Einheit und der Radikalität vor, in völliger Unabhängigkeit von der SP. Mein Ziel ist nicht, die Politik der SP zu ändern oder sie zum Antikapitalismus zu konvertieren (viel Erfolg!), sondern der SP die Hegemonie über die restliche Linke streitig zu machen.
Es gibt zwei große politische Linien auf der Linken: Die eine bezieht sich auf den Rahmen der Marktwirtschaft, die andere will da raus. Beide Linien passen nicht in einer Regierung zusammen, aber wir können unsere Kräfte addieren, um die Rechten zu schlagen, wie es bei der Rente der Fall ist.
Laurent F.: Herr Besancenot, wann wollen Sie in Rente gehen?
Mit 60, und bei vollen Bezügen! Aber wisse, Laurent, dass ich auch danach politisch aktiv bleiben werde.
Maroux: Wo wird diese Spirale enden?
Im Sieg. Die Bedingungen für einen Sieg der Rentenbewegung sind gegeben. Er steht nicht geschrieben, und es liegen noch viele Hindernisse vor uns. Aber objektiv weitet sich unser Lager, das der Proteste, aus, während das andere Lager sich isoliert und schwächer wird.
Die Regierung, die gerade umgebildet wurde [nach der Niederlage der UMP bei den Regionalwahlen im März 2010] zeigt Auflösungserscheinungen. Einige Minister bereiten ihren Abgang vor. Die Straße kann einen entscheidenden Sieg in diesem Klassenkampf erringen. Wie Che sagte: ¡Hasta la victoria siempre!
*Die Diskussion fand am 19.10.2010 statt. Es moderierte Caroline Monnot. http://www.lemonde.fr.
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