Köln/Karlsruhe: Neuer ISP Verlag, 2010
304 S., 29,80 Euro
von Nancy Holmstrom
Es ist ein verblüffendes Paradox, wie Wood mehrfach bemerkt, dass gerade im Moment der weltweiten Dominanz des Kapitalismus theoretische Richtungen auf der Linken Überhand nehmen, durch die diese Tatsache unwichtig, unbegreifbar oder gar unsichtbar wird. Die postmoderne Feindseligkeit gegenüber jeder Vorstellung von System, Struktur und «großer Erzählung» macht es unmöglich, den Kapitalismus als ein System mit spezifischen Gesetzen oder seinen totalisierenden Charakter zu begreifen;
die Betonung von Fragmentierung, Heterogenität und Besonderheit erlaubt nur den lokal beschränkten Widerstand. Offensichtlich muss etwas falsch sein mit theoretischen Richtungen, die uns so entwaffnen.
Ellen Meiksins Woods zeigt uns genau, was daran falsch ist. Demokratie contra Kapitalismus ist ein herausragendes Buch, das es verdient, zu einem Klassiker unserer politischen Richtung – dessen, was Hal Draper «Sozialismus von unten» nannte – zu werden. Wood liefert eine brillante Darlegung und Verteidigung der zentralen, für den Sozialismus relevanten theoretischen Konzepte – Sozialismus dabei verstanden als radikalste soziale und ökonomische Demokratie.
Wenngleich reich an historischer und soziologischer Gelehrsamkeit, die vom antiken Griechenland über den Feudalismus zur Gegenwart, von Max Weber über Louis Althusser zu den Theoretikern der Postmoderne reicht, ist dies nicht in erster Linie ein akademisches Werk. Wie bei all ihren Arbeiten handelt es sich um ein politisches Buch, dessen theoretische Darlegungen Waffen für den ideologischen Kampf gegen den Kapitalismus liefern wollen. Ihr Stil ist mitunter polemisch, und diejenigen, die das Buch nicht lieben, werden es wahrscheinlich hassen.
Historischer Materialismus und Kapitalismus
Der Kern des historischen Materialismus ist für Wood die Vorstellung, dass jede Produktionsweise spezifische Produktionsverhältnisse aufweist, die dem System seine spezifische Logik verleihen. Die dem Kapitalismus eigentümlichen Produktionsverhältnisse erlauben erstmals in der Geschichte, dass die herrschende Klasse ihre Herrschaft ausübt, ohne das Monopol der politischen Macht zu besitzen. Daher ist die Demokratie – in einer sozial schwachen Form – für den Kapitalismus charakteristisch.
Woods Interpretation des historischen Materialismus wurde als «politischer Marxismus» abgewertet, aber sie heftet sich dieses Etikett gerne an. Denn sie zeigt, dass Marx enthüllte, was die Ökonomen verschleiert hatten: dass nämlich das Wesen der kapitalistischen Produktion in dem Sinne politisch ist, dass es auf den Machtverhältnissen zwischen denjenigen beruht, die die Produktionsmittel besitzen, und denjenigen, die sie nicht besitzen.
Der politische Marxismus betrachtet die Produktionsverhältnisse «unter ihrem politischen Aspekt … unter dem sie konkret umkämpft werden: nämlich als Herrschafts- und Eigentumsrechte, als Macht, die Produktion und Aneignung zu organisieren und zu lenken. Das Ziel dieses theoretischen Ansatzes ist … ein praktisches. Es geht darum, das Terrain der Kämpfe zu beleuchten, indem man die Produktionsweisen nicht als abstrakte Strukturen betrachtet, sondern so, wie Menschen mit ihnen konfrontiert sind und in Beziehung zu ihnen handeln müssen.»
Somit wird die Betonung der Politik und des Klassenkampfs in der historischen Erklärung durch Wood (und Marx) nicht einer Betonung der Produktions- oder Wirtschaftsweise entgegengesetzt. Sie zielt vielmehr darauf ab zu enthüllen, wie diese zutiefst gesellschaftlich und politisch sind. Wood will diese Einsicht wieder in das Zentrum der historischen und gesellschaftlichen Analysen stellen, wo sie hingehört.
Quellen und Irrtümer
Die meisten Historiker und Sozialwissenschaftler haben diesen Aspekt übersehen. Und einige marxistische Theorien der Geschichte machen denselben Fehler. Im Gegensatz zu solchen Theorien zitiert Wood zustimmend Robert Brenners Arbeit, die den spezifischen Charakter jeder Produktionsweise betont und den Übergang zum Kapitalismus in Bezug auf die Dynamik, die Widersprüche und die Kämpfe innerhalb der vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse zu erklären sucht.
Brenners Arbeit hilft, die Details dessen zu liefern, was, wie Wood – Marx folgend – betont, die entscheidende, für den Kapitalismus erforderliche, Bedingung ist: die Scheidung der jeweiligen Produzenten von ihren Reproduktionsbedingungen – eine historische Transformation, die gleichzeitig ökonomisch, sozial und politisch ist.
Eine weitere Quelle für Irrtümer bei der Interpretation des historischen Materialismus besteht darin, der Metapher von «Basis und Überbau» eine zu große theoretische Bedeutung beizumessen, die, wie Wood sagt, stets mehr geschadet als genutzt hat, da sie die Existenz getrennter, in sich abgeschlossener Bereiche suggeriert. Dies wurde noch schlimmer durch den stalinistischen mechanischen, üblicherweise technologischen, Determinismus.
Die Standardalternative zu mechanisch-deterministischen Interpretationen war jedoch ein vager Humanismus. Als ein Beispiel dafür wird oft das Werk E.P.Thompsons angeführt, doch Wood sieht in ihm einen Vertreter ihrer Richtung des politischen Marxismus. Wood legt dar, dass Thompsons Arbeit diese falschen Dualismen überwindet, indem er zeigt, dass das Ökonomische irreduzibel gesellschaftlich und politisch ist und aus menschlichen Beziehungen von Ausbeutung und Aneignung besteht.
Sich an Thompsons Kritiker wendend bietet Wood eine vernichtende Analyse von Louis Althussers Werk, das sich als eine geniale Auflösung des Konflikts zwischen einem rigiden Basis-Überbau-Modells einerseits und vager menschlicher Wirkung andererseits präsentiert. Aber tatsächlich, so Wood, erreichten die Althusserianer diese Auflösung «gewissermaßen durch begriffliche Trickserei, denn während im Reiche gesellschaftlicher Strukturen eine rigide Determinierung vorherrschte, erwies es sich, dass dieses Reich praktisch gesehen eine Sphäre reiner Theorie ist. Die reale empirische Welt dagegen – wenngleich von wenig Interesse für die meisten Althusserianer – blieb (ungeachtet aller expliziten Denunziationen von Kontingenz) tatsächlich kontingent und auf irreduzible Weise einzigartig.»
Die Enttäuschung über den Althusser’schen Marxismus war, wie Wood meint, ein Impuls, überhaupt vom Marxismus zur Postmoderne überzugehen.
Der demos contra «Wir, das Volk»
Die spezifische Besonderheit des Kapitalismus, die Wood in ihrer Interpretation des historischen Materialismus betont, ist auch die Grundlage ihrer Analyse der Demokratie und deren Verbindung mit dem Kapitalismus. Nach der vorherrschenden Darstellung der Geschichte entstand sie in Athen, verschwand aber von der historischen Bühne bis zu ihrem Sieg im Kapitalismus.
Radikale haben oft die Beschränkungen der kapitalistischen Demokratie und der des antiken Griechenlands hervorgehoben. Aber Wood fügt dieser radikalen Kritik eine neue und faszinierende Perspektive hinzu. Wenngleich es wichtig ist, Idealisierungen der athenischen Demokratie aufzudecken, indem man zeigt, wie viele Menschen von der Teilnahme ausgeschlossen waren, vor allem Sklaven sowie Frauen aller Klassen, ist es bemerkenswert, wen sie einbezog. Die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes «Demokratie» ist «Herrschaft durch das Volk», und mit «Volk» («demos») wurden insbesondere auch die Menschen verstanden, die mit ihren Händen arbeiteten.
Sich auf ihr Buch Peasant-Citizen and Slave: The Foundations of Athenian Democracy beziehend, erklärt sie, dass die Bauern-Bürger von Athen eine beispiellose historische Formation hervorbrachten, deren tiefer gesellschaftlicher Hintergrund ein Kräftegleichgewicht zwischen Reich und Arm war. Dies wurde sowohl von den Anhängern der Demokratie wie auch von ihren Gegnern, Plato und Aristoteles, verstanden.
Das moderne Konzept der Demokratie hingegen hat seinen Ursprung in einer sehr anderen Zeit und einem anderen Kampf, dem der feudalen Grundbesitzer gegen die Monarchie. Die Freiheit, für die sie kämpften, war nicht die Freiheit von den Herren, sondern die Freiheit der Herren, «über ihr Eigentum und ihre Diener nach Belieben zu verfügen».
Die parlamentarische Herrschaft mit ihren Prinzipien der eingeschränkten Regierung und der Trennung der Gewalten schloss alle, die kein Eigentum besaßen, von den Bürgerrechten aus. Es war die Herrschaft einer hochgradig privilegierten Elite, die vorgeblich das Volk als Ganzes repräsentierte und eindeutig als Gegnerin der Demokratie verstanden wurde.
Zu der Zeit der nordamerikanischen Revolution konnte die Demokratie nicht mehr explizit abgelehnt werden – aber sie konnte neu definiert werden. Die amerikanische Neuerung der «repräsentativen Demokratie» wurde von Alexander Hamilton erklärt: «Das Konzept einer faktischen Vertretung aller Kategorien der Bevölkerung durch Personen jeder einzelnen Kategorie ist vollkommen utopisch … Wir müssen deshalb Kaufleute als die natürlichen Repräsentanten all dieser Gruppen der Gesellschaft betrachten.»
Trennung von Ökonomie und Politik
Folglich wurde die Kernbedeutung von «Demokratie» in ihr exaktes Gegenteil verwandelt! Dennoch wurde, trotz erbitterter Opposition, die politische Teilnahme zuerst auf alle freien weißen Männer, dann auf alle Männer und schließlich auf alle Bürger und Bürgerinnen ausgedehnt. Aber diese Einbeziehung war, wie Wood erklärt, nur möglich aufgrund der dem Kapitalismus eigentümlichen Trennung zwischen dem «Ökonomischen» und dem «Politischen».
Der Kapitalismus definiert sich durch das private Eigentum an den Produktions- und Subsistenzmitteln, das den meisten Menschen keine andere Wahl lässt, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Mehrwert wird über den Markt erzielt anstatt, wie in allen anderen Klassengesellschaften, über den Staat. Diese Verhältnisse von Besitz und Nichtbesitz – gleichzeitig ökonomisch, sozial und politisch – bilden die Grundlage der Macht der Kapitalisten.
Deshalb konnte zum ersten Mal in der Geschichte das Bürgerrecht auf alle ausgedehnt werden, ohne die ökonomische Macht der herrschenden Klasse zu gefährden – aber die Bedeutung dieser Bürgerrechte wurde drastisch reduziert. Die Demokratie wurde mehr formal als substanziell, sie wurde zu einer Bürgerschaft atomisierter Individuen.
Oft wird heute der Begriff «Demokratie» nicht im Sinne von Herrschaft des Volkes verwendet (wie begrenzt auch das «Volk» oder das, worüber es herrschen darf, sein mag), sondern als Synonym für Liberalismus – d.h. garantierter Verfassungs- und Verfahrensrechte – oder gar implizit für Kapitalismus, wie in Berichten über die Ausdehnung der «Demokratie» in den ehemaligen Ostblockstaaten. Somit geht der vorgebliche Triumph der Demokratie einher mit dem Verlust ihrer ursprünglich zentralen sozialen Bedeutung.
Der «andauernde Fluch des Stalinismus» (Daniel Singer) besteht in der Zerstörung jeder alternativen Vision des Sozialismus. Aber in dem Maße, wie sich unvermeidlich Kämpfe gegen die weltweite Hegemonie des Kapitalismus entwickeln, werden auch unvermeidlich Fragen auftauchen, wie er zu begreifen ist und welche Alternative es zu ihm gibt.
Woods Demokratie contra Kapitalismus bietet eine anspruchsvolle Interpretation und Verteidigung der Kernaussagen der besten jemals über dieses System entstandenen Theorie. Die Vision vom Sozialismus als die radikalste Demokratie war stets ein minoritäres Verständnis, aber es war Marx’ Vision, und sie ist in der Geschichte immer wieder aufgetaucht. Ellen Wood hat einen wertvollen Beitrag zum Kampf für die Verwirklichung dieser Vision geleistet.
Stark gekürzte Fassung einer Besprechung, die zuerst in der US-amerikanischen Zeitschrift Against the Current (1997) erschienen ist.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.