Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2010
Freiraum und Solidarität
Das Projekt «Wechselwirkung LEV»

Gespräch mit (ex-)Betriebsräten von Bayer Leverkusen

Ein Strukturmerkmal des gegenwärtigen Kapitalismus besteht darin, die Welt der Lohnabhängigen so auseinanderzureissen, dass getrennte Lebenswelten entstehen, unter denen die Kommunikation immer schwieriger wird. Auch der Einzelne ist viel stärker als früher Marktanforderungen ausgesetzt. In dem Maße, wie das gemeinsame Lohnarbeiterschicksal aus dem Blick gerät, wird auch die gemeinsame Organisierung erschwert.

Erwerbslosen ist dies Phänomen lange bekannt. Aber auch für die noch Beschäftigten wird es zunehmend zum Problem, äußert sich in einem schrumpfenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad ebenso wie in der hochgradigen Ignoranz der gewerkschaftlichen Vertretungen gegenüber den Problemen prekär arbeitender Lohnabhängiger.

Mitglieder der Gruppe der «Basis-Betriebsräte» im Leverkuser Bayer-Werk, deren Anfänge auf die 70er Jahre zurückgehen, haben zusammen mit Erwerbslosen und Aktivisten aus der Erwerbslosenberatung und von Flüchtkingsinitiativen die Initiative zu einem Projekt ergriffen, das den Namen «Wechselwirkung LEV» hat. Es soll zu einem Anlaufpunkt für Erwerbslose, prekär Arbeitende und reguläre Beschäftigte werden, individuelle Hilfestellungen ebenso wie praktische Ressourcen in sozialen Konflikten anbieten und die Kommunikation dieser «3 Welten» miteinander fördern.

Darüber, wie dieses Projekt entstand, wie es realisiert werden soll und welche Hoffnungen die Initiatoren damit verbinden, sprach Jochen Gester mit den Chemielaboranten Nikolaus Roth und Ingo Radermacher.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen eurer langen gewerkschaftlichen Basisaktivität zu dem von euch angeschobenen Projekt «Wechselwirkung LEV»?
Ingo: Eine Haupterfahrung war für mich, dass alle Leute, die unbequem sind, die raus sind aus dem Chemiepark oder in sonstiger Weise nicht der Gewerkschaft angepasst sind, überhaupt keine Unterstützung mehr erfahren.

War das Projekt auch eine Antwort auf die Politik des Konzerns, die Bayer AG vor Ort in 50 Tochtergesellschaften aufzusplitten?
Nico: Letztendlich ja. Die Idee entstand auf einer TIE-Konferenz. Es gab bei TIE alle zwei, drei Jahre solche internationalen Konferenzen. Wir hatten beschlossen, die prekäre Arbeit zu einem unserer Schwerpunkte zu machen. Damals ist die Idee entstanden, eine Reise, ich glaube nach New York, zu den workers centers (Arbeiterzentren) zu unternehmen. Sie hat mich auf die Idee gebracht, es könnte auch für uns in Leverkusen interessant sein, Elemente davon umzusetzen.

Denn wir haben diese 50 Firmen. Die ursprüngliche Belegschaft ist zersplittert. Die Möglichkeit, über oppositionelle Betriebsräte etwas zu verändern, ist weniger gegeben als früher. Bei vielen dieser neuen Firmen macht die Gewerkschaft eine schlechte Arbeit, bei manchen gar nichts.

Ich wurde, weil ich ja bekannt war, aus den anderen Betrieben immer wieder angesprochen. Als Oppositonsliste der «Basisbetriebsräte» (früher bereits als Gruppe der «Durchschaubaren») haben wir lange mit dem Sozialreferenten der Diakonie und stellvertretenden Vorsitzendern des Flüchtlingsrats zusammengearbeitet. Er hat wegen uns zwei Abmahnungen gekriegt. Er hat die Aktionen 1999 mitgetragen, bei der wir 800 indische Bauern vom G8-Gegengipfel vor die Pforte gebracht haben.

Wir haben zwar jetzt erst Räume, aber wir haben die Sache schon länger in der Mache. Wir haben u.a. Veranstaltungen mit Inken Wanzek vom NCI-Netzwerk aus München gemacht und versucht, die stark selbstorganisierte basisorientierte Praxis des NCI-Netzwerks (www.nci-net.de) ein wenig auf unsere Situation anzuwenden. Das war relativ erfolgreich in einer kleinen Abteilung.

Anfangs haben wir uns immer in Kirchenräumen getroffen. Wir dachten, wir bräuchten gar keine Räume, wir könnten das so machen, also virtuell. Dann wurde klar: Ohne ein räumliches Zentrum geht es nicht. Dann ist noch das Projekt «Migra» von Ver.di dazugekommen (siehe unten). Wichtig ist auch, dass wir wenigstens einen Betriebsrat aus dem wichtigsten Betrieb mit dabei haben. Deshalb habe ich mich darum bemüht, und Ingo hat daran Interesse gefunden, viel stärker als ich angenommen hatte. Dazu kommen Leute, die wir aus der gemeinsamen politischen Praxis lange kennen. Diskutiert haben wir das Ganze über zweieinhalb Jahre. Vor einem halben Jahr haben wir gesagt: Jetzt machen wir damit Ernst.

Wer unterstützt das Ganze bzw. welche Kooperationen gibt es?
Ingo: Nach außen haben wir Kontakte durch unterschiedliche Aktionen, die damals gelaufen sind, z.B. gegen Massenentlassungen bei der Firma Dystar, die früher zur Bayer AG gehörte oder zur Ausgliederung der Personalabteilung. Die anderen Mitglieder unserer Betriebsratsgruppe machen auch mit. Dazu gibt es zwei Rechtsanwälte der Fachrichtungen Arbeits- und Sozialrecht, mit denen wir eng zusammen arbeiten, und einen Psychologen, der viele Bayer-Mitarbeiter in Mobbing-Fällen betreut. Zudem wollen wir die Suchtberatung mit im Boot haben. Rainhard Krüger vom Flüchtlingsrat wird einen Tag in der Woche bei uns Beratung anbieten. Mir schwebt vor, auch Kontakte zur Familienberatung aufzunehmen.

Nico: Wir haben einen Gedankenaustausch mit der Diakonie. Die Beratung, die Rainhard dort noch macht, über zwei halbeTage, ist das einzige Angebot für Arbeitslose in Leverkusen überhaupt. Es besteht die Chance, dass wir das übernehmen. Außerdem existiert noch eine Kooperation mit Ver.di. Ver.di hat in Leverkusen nur wenige Mitglieder. Die Gewerkschaft betreut den Ort mit einer halben Stelle. Sie hat die Aktionen an der Pforte 1 gegen die Ausgliederungen aktiv unterstützt (ein halbes Jahr hindurch ist einmal in der Woche ein bis zwei Stunden lang die A 8 blockiert worden). Ver.di hat sich offen gegen die IG Chemie gestellt, die hier der Platzhirsch ist.

Wir konnten auch davon profitieren, dass Ver.di in drei anderen Städten (Hamburg, Berlin und Frankfurt/M) Projekte für Undokumentierte (Beschäftigte ohne Papiere) unterstützt. Für Ver.di sind wir ein Teilprojekt von «Migra», so lautet die Oberbezeichnung dieser Projekte dort. Wichtig für uns ist auch: Wenn Ver.di mit dabei ist, kann man uns nicht so schnell als gewerkschaftsfeindlich brandmarken.

Euer Projekt heißt «Wechselwirkung». Wenn ich es richtig verstehe, macht ihr unterschiedliche Angebote an drei unterschiedliche Gruppen von Lohnabhängigen: Erwerbslose, prekär Beschäftigte und regulär Arbeitende. Alle bekommen sie passgenauen Angebote. Aber wie entsteht nun eine Wechselwirkung zwischen ihnen?
Ingo: In dem wir für alle diese Gruppen ein Angebot machen. Es gibt da z.B. eine Idee unseres Kollegen Joachim, der Grafiker ist: Alle Interessierten bewaffnen sich mit einem Fotoapparat und halten die Abhängigkeit der Stadt von der Bayer AG fotografisch fest, und zwar alle drei Gruppen gemeinsam. Das Primäre an der ganzen Geschichte ist erstmal, dass die Leute räumlich zusammen gebracht werden, so dass die Isolierung der einzelnen Gruppen zueinander aufgebrochen wird.
Nico: Für mich spielt noch eine andere Idee eine Rolle. Es soll ja nicht nur eine Wechselwirkung zwischen diesen drei Lebenswelten möglich werden. Es stellt sich auch schon lange die Frage: Machen wir was für die Leute – Beratung usw. –, oder wollen wir nur Impulsgeber sein? Das ist natürlich ein hoher Anspruch. Bei den von uns unterstützten oder initiierten Gruppen bei Bayer gelang es uns recht gut, nur Impulsgeber zu sein. Wir konnten unser Knowhow vermitteln, hielten uns dann aber eher zurück. Wir haben erklärt: «Wir können als Betriebsräte nur wenig machen und geben euch jetzt einen Diskussionsraum, damit ihr selber tätig werden könnt.»
Ingo: Meine Idealvorstellung ist nicht einmal, dass wir die Initiatoren sind, sondern ich hoffe, dass es aus diesen drei Gruppen selbst kommt. Wir würden dann nur den Rahmen, den Raum zur Verfügung stellen.

Wie finanziert sich das Projekt?
Nico: Wir arbeiten ehrenamtlich. Wir haben eine Anschubfinanzierung durch eine Stiftung bekommen. Auch haben wir recht große Einzelspenden erhalten, auch von der Diakonie, die hier honoriert, dass wir ihre Arbeit weiterführen wollen/. /Wir müssen noch darüber entscheiden, ob wir den Status eines Arbeitslosenzentrums haben wollen, um damit in die Förderung des Landes NRW kommen. Dieses Zentrum würde in Kooperation mit der Diakonie stattfinden.

Was soll sich längerfristig aus dem Projekt entwickeln? Wird es eine Art soziales Zentrum nach dem Vorbild der Sozialforumsbewegung werden, oder wollt ihr die gewerkschaftliche Arbeit neu erfinden?
Nico: Das sind für uns zu grundsätzliche politische Festlegungen. Ich würde schon gerne mal mit Ingo und anderen zum Sozialen Zentrum nach Bochum fahren, wir könnten da sicher eine Menge lernen. Eine Zeitlang hieß der Arbeitstitel unseres Projekts «Freiraum». Den Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, frei zu denken und zu agieren.
Ingo: Meine Wunschvorstellung wäre ein solidarisches Miteinander, frei von Politik. Ich habe nicht den Anspruch, eine neue Gewerkschaft zu gründen.

Es geht euch also mehr um die Schaffung eines sozialen Raums, um das Möglichmachen von Kommunikation zwischen verschiedenen Welten von Lohnabhängigen und um eine Hilfestellung bei der Lösung ihrer Probleme.
Ingo: Der Idealfall wäre: Die Leute kommen einzeln rein und gehen zusammen wieder raus. Das wäre meine Wunschvorstellung. Schließlich heißt es ja: Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Die Leute sollen begreifen, was sie verbindet.
Ingo:
Ja. Ich hätte am liebsten, dass wir uns irgendwann mal zurückziehen können und dass die Leute das selber machen. Es ist zwar nicht schön, unnötig zu sein. Aber das wäre meine Idealvorstellung.

Langfassung des Interviews unter www.soz-online.de/. Im Januar 2011 laden die Leverkusener zu einem Eröffnungsfest für das Zentrum ein.
Siehe
www.basisbetriebsraete.de/

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