270 S., 21,90 Euro
von Dieter Braeg
Dieser Roman wurde erstmals im Jahre 1932 im Frankfurter Societätsverlag veröffentlicht. In Österreich wurde das Buch ausgezeichnet. In Deutschland im Jahre 1933 wurde es von der Gestapo verboten.
Der Autor Rudolf Brunngraber ist einer der interessantesten Schriftsteller Österreichs im vorigen Jahrhundert gewesen. Er war Holzfäller in Schweden, Totensänger und Wanderprediger in Finnland, in Wien war er einige Zeit Schüler von Gustav Klimt.
1933 erschien er in englischer Sprache, 1934 in Italienisch, 1939 in slowenischer Übersetzung. Bei Hitlers Machtergreifung wurde das Buch in Deutschland als «marxistisch, defätistisch und pazifistisch» verboten.
Der Roman konnte sich nach 1945 nicht durchsetzen. Nach zwei Neuausgaben in den Jahren 1952 und 1978 wurde er 1988 in die «Andere Bibliothek» übernommen und 1999 erneut verlegt – im antiquarischen Buchhandel wird derzeit nur ein Exemplar angeboten. Der Wiener Milena Verlag hat nun den Roman neu aufgelegt. Welche Ausgabe aus der Vergangenheit nachgedruckt wurde, wird leider in dem Band, der im Anhang auch einen Text von Kasimir Edschmied enthält, nicht verraten.
Jedenfalls passt die Neuausgabe in die heutige Zeit der brutalen Zerstörung sozialen Zusammenhalts und einer Globalisierung, die Schritt für Schritt die Armut der abhängig Beschäftigten und Lebenden vorantreibt.
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«Als Frederick W. Tyler (Philadelphia) 1880 als Erster konsequent den Gedanken der Rationalisierung fasste, war der Wiener Karl Lackner noch nicht unter den Lebenden.»
Das ist der erste Satz des Romans. Karl Lackner, die Hauptfigur, erlebt Taylorismus und Rationalisierung. Dass die Nazis dann, im Rückgriff auf die Rationalisierungserfahrungen der 20 Jahre, ihre eigene «Arbeitswissenschaft» samt dazugehörigen «Organisationsideologien» entwickelten, ist nicht Romaninhalt.
Rudolf Brunngraber blieb im Land und sein Roman Radium erlebte in der Nazizeit große Erfolge. Nach dem Krieg war es für Rudolf Brunngraber dann nicht leicht, wieder als Schriftsteller zu arbeiten. Die SPÖ allerdings hatte keine Probleme, ihn nach dem Krieg wieder zum Parteischriftsteller zu machen.
Karl Lackner ist Sohn einer Frau, die im ganzen Roman als «das kleine Weib» tituliert wird, der Vater ein Alkoholiker und Straßenbahnschaffner. Es gibt zwischen dem romanhaft beschriebenen Lebenslauf des Karl Lackner und Rudolf Brunngraber viele Gemeinsamkeiten. Lackner absolviert als Werkstudent die Lehrerbildungsanstalt und verpflichtet sich durch sein Abschlusszeugnis, fünf Jahre als Lehrer zu arbeiten, widrigenfalls er die ihm erlassenen Studiengebühren zurückzahlen muss. Der Erste Weltkrieg bringt Hurrapatriotismus, der bald vergeht, dazu noch Orden, die im Leben nach dem Krieg nicht helfen. Bei Kriegsende ist die Mutter zum Skelett abgemagert, der Vater an einer verirrten Kugel gestorben, und Lehrer braucht man keine nach dem Krieg. Lackner bekommt mal da, mal dort einen Kurzzeitarbeitsplatz. Auch in Schweden, wo er sich als Gelegenheitsarbeiter versucht, führt er ein Armutsleben. Als er nach Österreich zurückkommt, setzt sich der Abstieg fort.
Karl Lackners Lebensgeschichte ist eng mit den politischen und ökonomischen Ereignissen der Zeit verflochten.
«Aber schon vorher gibt es Verknüpfungen, wie etwa 1911: Als Karl am Lehrerseminar in den letzten Jahrgang eintrat, okkupierten die Franzosen Fez, womit sie abermals eine internationale Vereinbarung brachen. Die Spanier besetzten Alkazar und die Italiener eröffneten den Krieg gegen die von allen Mächten getretene Türkei um Tripolis und Cyrenaika. Hier wurden (1911) zum ersten Mal aus Aeroplanen Bomben abgeworfen…»
Die Gegenüberstellung der einen Realität, die des Karl Lackner, mit der anderen Realität – das wird eine soziale Anklage, die keines zusätzlichen Kommentars bedarf. Es ist die Geschichte, wie der arme Karl Lackner die Bekanntschaft mit der Globalisierung macht. Globalisierung hat eine Geschichte, und die beginnt nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Bei der Schilderung der Widersprüche zwischen der Armut einzelner Menschen und dem kaum beschreibbaren gesellschaftlichen Reichtum setzt sich eine spannende Detailgenauigkeit durch – sie zeichnet eine Literaturform aus, die fast völlig in Vergessenheit geraten ist. In der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sind in Österreich Werke mit deutlichen literarischen, nicht nur sprachlichen, Unterschieden entstanden, die bisher kaum beachtet wurden. In dieses Bild passt auch die fast völlige Ignoranz gegenüber der «Literatur der Arbeitswelt», die nach 1968 beachtliche Auflagen erzielte und mit dem «Werkkreis Literatur der Arbeitswelt» Betroffenen half, zu schreiben.
«Und nun erkennt Karl, dass er das Unglück hatte, in das zwanzigste Jahrhundert geboren zu werden und dass ihm nichts helfen kann. Es sei denn, dieses Jahrhundert hülfe vorerst sich selbst.» Rudolf Brunngraber sah nicht in eine weite romantische Ferne, er lenkt den Blick auf das Naheliegende.
Es gibt kein Nachwort, sondern den schon erwähnten Tagebuchtext von Kasimir Edschmid zum Tod von Brunngrabner und dazu zwei autobiografische Kurztexte von Brunngrabner, die einiges über sein «Überleben» während der Nazizeit verraten.
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