Eine gewerkschaftspolitische Zwischenbilanz
Vortrag im Gewerkschaftshaus Stuttgart, am 23. November 2010
Zäsuren wie Geburtstage, Hochzeitstage oder Sylvester sind immer gute Anlässe zu bilanzieren und Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn man nach 28 Jahren – rechnet man Vorzeiten in Gewerkschaftsprojekten und am OSI in Berlin ein, nach 36 Jahren - aus einem politischen Beruf ausscheidet, dann, so fand ich, ist eine politische Bilanz angemessen.
Ich danke Euch, dass Ihr das mit mir zusammen machen wollt – denen, die mein Agieren eher aus der Distanz oder mit Skepsis verfolgt haben genauso wie jenen, mit denen ich zusammen gearbeitet und gekämpft habe und weiter arbeiten und kämpfen werde und denen ich heute vermutlich nicht viel Neues bieten werde.
Marx hat ja mal zwei Wege zur Erlangung von Klassenbewusstsein beschrieben, wobei er unter Klassenbewusstsein nicht eine Erleuchtung, sondern das Begreifen der Gesellschaft und ihrer Veränderbarkeit meinte. Entweder man ist der täglichen „Lohnsklaverei“ ausgeliefert und, indem man sich ihrer erwehrt, begreift man, Zug um Zug, wie der Hase läuft. Oder man will es einfach wissen, egal wo man herkommt. Die Auseinandersetzung mit den unbefriedigenden Erklärungen der bürgerlichen Philosophen und Ökonomen machen einen zum Kritiker der politischen Ökonomie.
Diese zweite Weg war, biografisch bedingt, meiner. Er war freigekämpft und geebnet in Folge des 68er Aufstands, der ganz neue, heute längst wieder abgeräumte Freiräume an den Unis geschaffen hatte. Fast unbehelligt von den Zwängen der Studienfinanzierung und Prüfungsordnungen, konnte man dem Erkenntnisinteresse frönen und die politische Ökonomie kritisieren, Debatten über Theorie und Praxis der Gewerkschaften führen.
„Diese siebziger Jahre waren ...“ die Spätblüte des Rheinischen Kapitalismus und sie waren die Hochzeit der Organisationsmacht, gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit und Bedeutung der ins Modell Deutschland integrierten Gewerkschaften. Die Erweiterung der Mitbestimmung 1974 und der legendäre Streik im Öffentlichen Dienst 1974 mit dem 11%-Ergebnis, der angeblich den Sturz Willy Brandts ausgelöst hat, waren gar Anlass einer Arbeitgeberkampagne gegen den Gewerkschaftsstaat – lange her, dass die Gegenseite uns so fürchtete. Und die 70er waren die Hochzeit der kritischen Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften – an den Unis, in der Forschung, in vielen politischen und wissenschaftlichen Zeitungen und Büchern in der Linken (z.B.: kritisches Gewerkschaftsjahrbuch, 72 bis 82) und gemäßigt auch in den Gewerkschaften und ihren Einrichtungen und Zeitungen.
Die siebziger Jahre waren aber auch eine Zeitenwende, ein Hochplateau, auf dem sich der Kapitalismus neu strukturierte: das Kapital setzte zum Sprung auf die Weltmärkte an, das Exportmodell Deutschland nahm Gestalt an, die Regierung Kohl begann das große Aufräumen im Sozialstaat, von Krise zu Krise stieg die Arbeitslosigkeit. Als sie 1975 vorübergehend die Millionengrenze in Westdeutschland überschritt, war das ein Schock – und einer der Auslöser des Kampfes um die 35 Std. Woche. Er markiert zugleich einen Wendepunkt am anderen Ende des Hochplateaus. In Deutschland gelang nur der IG Metall und der IG Drupa noch der Durchbruch zur 35 Std-Woche. Der Öffentliche Dienst und viele andere Branchen schafften es nur noch bis 38.5Std.
„Faktische Beendigung der Arbeitszeitverkürzungspolitik“
Nachdem selbst ein nomineller voller Lohnausgleich nicht mehr durchsetzbar war, verabschiedeten sich die Gewerkschaften faktisch von der Politik der Arbeitszeitverkürzung, auch wenn AZV als das strategische Instrument gegen Arbeitslosigkeit, für Geschlechtergerechtigkeit und ein besseres Leben rhetorisch und programmatisch bis heute zum gewerkschaftlichen Grundkonsens zählt. Faktisch aufgelöst wurde damit das Junktim zwischen gewerkschaftlicher Lohn – und Arbeitszeitpolitik als den beiden Dimensionen des Preises der Arbeitskraft: wieviel Geld für wie lange arbeiten?
Beschäftigungspolitisch wurde das Instrument preisgegeben, mit dem die Gewerkschaften es im Rheinischen Kapitalismus - und auch davor - immer wieder geschafft hatten, die Freisetzungseffekte, die die Produktivitätssprünge der Konkurrenzökonomie mit sich bringen, aufzufangen. Statt sie zu Arbeitslosigkeit werden zu lassen, konnten sie in Zeitwohlstand der Beschäftigten umgemünzt werden – von der 48-Stundenwoche nach dem Krieg zur 35 Std. Woche, Urlaubsverlängerung, Vorruhestand, samstags gehört Papi mir.
Der große Irrtum in den späten 80er und 90er Jahren war, zu glauben, man könne – wenn denn kein voller Lohnausgleich mehr möglich ist - das Feld der Arbeitszeitpolitik straflos räumen und sich auf die Lohnpolitik und die Modernisierung der Lohnstrukturen konzentrieren. Des geräumten Feldes bemächtigten sich schnell Arbeitgeber und Politik, in dem sie in die Gegenoffensive gingen und uns fast alles wieder abrangen, was wir erreicht hatten. Sie verlängerten und deregulierten die Arbeitszeit, die inzwischen bei Vollzeitarbeit wieder weit über 40 Wochenstunden liegt und erhöhten die Lebensarbeitszeit durch früheren Eintritt in und späteren Austritt aus dem Berufsleben. Produktivitätsfortschritte setzten sich wieder in Massenarbeitslosigkeit um und brachten die Gewerkschaften in eine nicht enden wollende Defensive, eine Kette von politischen (Agenda 2010) und tariflichen Niederlagen in Form von Reallohnverlusten. Zugespitzt gesagt ist die Massenarbeitslosigkeit nicht verkürzte bzw. verlängerte Arbeitszeit.
Diese Arbeitszeitverlängerungen angesichts höher Produktivitätszuwächse hätte zu einer noch viel höheren Arbeitslosigkeit geführt, hätten Arbeitgeber und Politik nicht gleichzeitig auch die Arbeitzeiten, ganz anders als wir das wollten, verkürzt: z.B. in der Krise durch Kurzarbeit, d.h. staatlich vermittelter, befristeter AZV mit Teillohnausgleich oder in Form von Teilzeitarbeit, mit einem neuen Schub in der Krise: Arbeitszeitverkürzung mit Null Lohnausgleich. So war denn die Zeit der Hauptamtlichen meiner Generation ein Viertel oder Drittel-Jahrhundert der Einbußen, der Konzessionen, des Rückgangs, der Niederlagen.
„Berufsoptimismus als Erkenntnisbarriere“
Das Wort „Niederlagen“ kommt mir schwer über die Lippen. Es auszusprechen ist der Verstoß gegen einen ungeschriebenen Berufskodex des Gewerkschaftssekretärs, des Zwangs zum Optimismus. Schließlich wollen wir die Kollegen und Kolleginnen gewinnen sich zu wehren, mit zu machen bei Streiks und Kampagnen. Und nichts ist entmutigender als GewerkschaftssekretärInnen, die am Erfolg ihres Einsatzes zu zweifeln scheinen bzw. Gewerkschaften, die nicht mehr siegen können. Dabei war oft das Ziel, noch größere Niederlagen zu verhindern, zwar das realistischere, aber eben nicht das motivierende und mitreissende.
Aber ist nicht dieser Berufsoptimismus auch eine Erkenntnisbarriere? Führt nicht das immer wieder neue Anrennen gegen Verhältnisse, die sich als immer weniger beeinflussbar erweisen, zu einem persönlichen und politischem Burnout? Kann man wirklich glauben, dass der ununterbrochene Trend des Mitgliederverlustes – 1981, kurz bevor ich hauptamtlich wurde, hatte der DGB in Westdeutschland knapp 8 Mio. Mitglieder, heute wo ich ausscheide, hat er in Gesamtdeutschland noch gut 6 Mio. – kann man da wirklich glauben, das werde sich schon wieder irgendwie einpendeln? Kann man wirklich glauben, dass ein solcher Mega-Trend quasi autosuggestiv, durch immer mehr von dem, was wir immer gemacht haben, zu brechen ist? Konnte man wirklich Ende der 90 er Jahre hoffen, durch die Fusionierung von fünf Einzelgewerkschaften, die alle an ähnlichen Problemen laborierten, diesen Trend zu brechen, ihm ein Schnippchen zu schlagen? Kann man wirklich erwarten, einen solchen Trend durch betriebswirtschaftlich gedachte Organisationsreformen und Anpassungsprozesse, von denen es in ver.di und andernorts sehr viele gab, irgendwie aufzufangen?
Kann man wirklich glauben, dass ein solcher Trend noch subjektiv, durch die vermeidbaren Fehler Einzelner, durch mangelnden Kampfeswillen und Konfliktbereitschaft von Führungen allein erklärbar ist, wie das manche Linken gern sehen? Wie wäre dann erklärbar, dass sich an der Grundtendenz auch nichts geändert hat, als mit der ver.di Gründung viele Linke in Schlüsselpositionen nachrückten? Frank Bsirske hatte als Ehrenamtlicher im Hauptvorstand der ötv zu Zeiten von Monika Wulf-Mathies eine ähnlich rebellische Rolle gespielt wie in den letzten Jahren Thomas Böhm im Gewerkschaftsrat von ver.di. Mit Sybille Stamm als LBZ- Leiterin von ver.di in BaWü, deren Mitarbeiter ich die ersten sechs verdi-Jahre war, Michael Schlecht und Jörg Wiedemuth als Leiter der WiPo- bzw. tarifpolitischen Grundsatzabteilung, Bernd Riexinger und andere als GeschäftsführerInnen von ver.di Bezirken, sind viele Linke aufgerückt – und haben auch mit einer offensiveren Gangart den säkularen Trend, die Grundtendenz, nicht brechen können.
Nachdem sich dieser, mehr oder weniger, früher oder später in allen Industrieländern vollzog, verweist doch alles darauf, dass diese Entwicklung (zumindest auch) struktureller Ursachen haben muss. Es ging also einerseits um die Frage, ob von einer veritablen Krise der Gewerkschaften geredet werden kann, darf bzw. muss. Und es ging andererseits um Erklärungen und Verstehen - in vielen Diskussionen mit Günter Busch, Thomas Böhm, Sybille, zu ötv-Zeiten Uwe Theilen und vor allem mit Bernd Riexinger, ging es immer wieder um die Frage: sind die Probleme der Gewerkschaften eine Folge von Fehlverhalten und Fehlern, die man abstellen könnte oder sind sie struktureller Art? Wäre alles besser, wenn wir offensiver, mutiger, professioneller auf die Herausforderungen reagierten oder lässt sich selbst dann der Abwärtstrend allenfalls verlangsamen?
Schlüsselkonflikt: Streik Bund/Kommunen in Baden-Württemberg 2006
Ein Schlüsselkonflikt, quasi der empirische Test für diese Debatte um subjektiv oder strukturell war der Kampf gegen die Verlängerung der Arbeitszeit bei Bund und Kommunen im Jahre 2006 in Baden-Württemberg. Ich glaube wir im Südwesten, in Stuttgart vor allem Bernd, hatten alle Spielräume einen effektiven Kampf gegen die von den öffentlichen Arbeitgebern betriebene Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden zu planen und zu führen. Auch im Nachhinein hat dieser Arbeitskampf nur Bestnoten erhalten. Wir hatten gemacht, was wir konnten. Alles ausgereizt. Und dennoch wurde die Arbeitszeit um eine halbe Wochenstunde auf 39 Std. verlängert.
Zwar stimmt, dass die offensive Arbeitskampfführung noch Schlimmeres verhindert hat, aber materiell haben wir unsere Unterschrift unter einen verschlechternden Tarifvertrag gesetzt. Unter anderen Bedingungen eine Steilvorlage für die subjektivierende Gewerkschaftskritik. Aber da es diesmal, zumindest in Stuttgart, vor allem Bernd war, als sozusagen anerkannter Rädelsführer der Gewerkschaftslinken, der dieses Ergebnis zu verantworten hatte, kam die Kritik nicht umhin, sich mit den strukturellen Gründen dieser materiellen Niederlage zu befassen.
Und die lagen auf der Hand: Wir haben einen Arbeitskampf u.a. in der Abfallwirtschaft geführt. Die ist aus gutem Grund in Stuttgart in öffentlicher Hand. Dass sie nicht privatisiert wurde bisher (und hoffentlich weiter nicht) haben die Beschäftigten im Laufe der Jahre allerdings mit erheblichen Leistungssteigerungen und verschlechterten Arbeitsbedingungen bezahlen müssen. Aber sie ist außer in Stuttgart eben nur noch in 7 anderen großen Städten des Landes kommunal, sonst überall privat bzw. privatisiert. Es ist gegen unseren Willen eine Branche Abfallwirtschaft mit ausgeprägten Wettbewerbsbedingungen entstanden. Unser Streik richtete sich also gegen 8 Betriebe einer Branche mit Dutzenden Betrieben, die ansonsten, wenn auch ebenfalls bei ver.di organisiert, außen vor waren. Die Folge: innerhalb weniger Tage waren die Arbeitgeber in der Lage den Streik durch Einsatz der der Privatfirmen zu unterlaufen und die Mülltonen einigermaßen zu leeren. Der Streikdruck verpuffte.
Zweitens: setzten die Arbeitgeber sofort ihr Einschüchterungsmittel Privatisierung ein und drittens dachten die vielen Kommunen mit privater Abfallwirtschaft überhaupt nicht daran, von ihren Forderungen abzurücken, weil sie unter keinerlei Streikdruck standen. Die Moral von der Geschicht: eine offensive und politische Streikführung konnte das Ausmaß der Niederlage begrenzen. Das war die subjektive Seite.
Dass es materiell eine Niederlage war, aber hatte strukturelle Gründe. Hier und in vielen anderen Tarifkonflikten in ver.di - z.B. ähnlich dramatisch beim Telekomstreik 2007, wo unser Problem war, nur die Telekom, nicht aber ihre privaten Konkurrenten wie O2 oder Vodafon bestreiken zu können, erst recht in global strukturierten Branchen wie Auto- oder Maschinenbau, Luftfahrt, Speditionen. Die Herstellung von Solidarität ist der Kern unserer Arbeit. Das Bewusstsein für die gemeinsame Interessenlage immer wieder zu stärken gegen die dieser Gesellschaft innewohnenden Mechanismen, die Menschen tendenziell gegeneinander in Stellung zu bringen, sie zu Konkurrenten zu machen, das ist unser täglich Brot.
Warum ist es seit vielen Jahren so ungleich schwerer, diese Solidarität herzustellen? Und: um welche Solidarität geht es eigentlich? Moralische und ökonomische Solidarität Solidarität ist zunächst ganz einfach das Füreinandereinstehen von Menschen in einer gemeinsamen Lebenslage, bei uns: der Lebenslage, lohnabhängig zu sein.
? Wir sind solidarisch mit der von Kündigung bedrohten Betriebsrätin bei Breuniger.
? Wir solidarisieren uns mit KollegInnen, die in Griechenland oder demnächst in Irland um ihre Arbeitsplätze kämpfen,.
? Wir organisieren Widerstand und Boykotte entlang der Wertschöpfungsketten für Textilarbeiterinnen in den Sweat shops in Bangla Desch oder
? wir solidarisieren uns mit KollegInnen, die in der Türkei, im Iran oder in Bolivien wegen Gewerkschaftstätigkeit im Gefängnis sitzen.
Diese moralische Solidarität ist die Basis von allem. Deswegen ist moralische Solidarität auch der Grundanspruch aller gesellschaftlichen Institutionen, denen es um emanziparorische Ziele geht, und eben auch unserer als Gewerkschaft.
Neben der moralischen Solidarität gibt es bei uns aber ein Funktionsprinzip, dass uns von jeder NGO unterscheidet: Als gesellschaftliche Gegenmacht im Kapitalismus organisieren Gewerkschaften ökonomische Solidarität. Gewerkschaften appellieren nicht nur, versuchen nicht nur über Kampagnen, über Politik oder auch Lobbyismus gesellschaftlichem Druck zu erzeugen, sondern sind darauf angelegt, Erzwingungswirkung im Zentrum der Ökonomie zu entfalten. Ob dieser Erzwingungsdruck funktioniert, wie das lange der Fall war oder kaum noch wie derzeit, hängt davon ab, ob bestimmte ziemlich genau definierbare ökonomische Rahmenbedingungen herstellbar sind, oder in welchem Maße sie herstellbar sind.
? Spricht die einzelne Kollegin die Chefin auf irgendeine Verbesserung bei Lohn, Arbeitszeit oder Eingruppierung an, wird sie nicht weit kommen, es sei denn sie hat irgendein Faustpfand in der Hand. Sie wird mit Verweis auf andere Kollegen, die den Job auch machen können oder mit den vielen, die vor der Tür stehen, wieder weg geschickt. Der Arbeitgeber hat eine Alternative, er nutzt die Konkurrenzsituation von ArbeitnehmerInnen, um die Forderung abzuweisen. Erst wenn dem Arbeitgeber dieses Erpressungsargument genommen werden könnte, käme die Kollegin mit ihrem Anliegen durch.
? Wenn nun die ganze Belegschaft beim Chef aufkreuzen würde? Sich also nicht gegeneinander ausspielen lassen würde, vielleicht vertreten durch eine Vertrauensfrau, einen Betriebsrat oder eine Gewerkschaftssekretär? Der Arbeitgeber würde auf die Wettbewerbslage des Unternehmens verweisen. Bei höheren Arbeitskosten müssten die Produkte oder Dienstleistungen teurer werden, die Verkaufszahlen oder Aufträge gingen zwangsläufig zurück, die Produktion müsse zurückgefahren, Abteilungen oder Standorte geschlossen oder umstrukturiert werden. Arbeitsplätze gingen verloren – wenn er die Forderung der Belegschaft erfüllte.
Zweifellos: wenn eine ganze Belegschaft antritt, ist Konkurrenz untereinander ein Stückweit aufgehoben, ist die Solidarität größer und der Druck stärker. Das Erpressungsmittel ist dem Arbeitgeber aber noch nicht aus der Hand geschlagen. Indem er auf die Wettbewerbslage verweist, drückt er aus, dass seine Konkurrenten auf dem Markt billiger anbieten können, u.a. weil deren Belegschaft keine Forderungen stelle und so ihre Arbeitsplätze auf Kosten der fordernden Belegschaft sichere. Es geht auch hier wieder um die anonyme Konkurrenz von Belegschaften von ArbeitnehmerInnen gegeneinander. Das gewerkschaftliche Bemühen, die vorgegebene Konkurrenz der Arbeitnehmer gegen einander aufzuheben oder einzuschränken, funktioniert auf dieser Ebene also noch nicht richtig.
? Hier ist unsere Antwort: überbetriebliche Solidarität, indem wir die Arbeitgeber eben zwingen unsere Flächentarifverträgen einzuhalten - von Autoindustrie bis Einzelhandel. Warum gelingt uns genau dies kaum noch? Es sind doch dieselben Tarifverträge wie seit Jahrzehnten. Geltungsbereich so und so. Steht doch Flächentarifvertrag drauf.??Wenn die IGM einen „Flächentarifvertrag“ für VW, Audi, Porsche, BMW, Opel, Ford-Deutschland und Mercedes abschließt, entkräftet das nicht den Verweis der Arbeitgeber auf die Wettbewerbslage und damit auf relativ billiger arbeitende Belegschaften bei Toyota, GM, Renault, Fiat, ja selbst bei den eigenen Töchtern in Spanien, Polen oder Tschechien. Ähnlich verweist die Post auf die billiger arbeitenden privaten Zustell- oder Paketdienste, die öffentlichen Abfallwirtschaft auf die privaten, Karstadt und Metro auf die Shoppingmalls auf der grünen Wiese, und die Telekom auf Vodafon und O2.
Ein Tarifvertrag, auch ein überbetrieblicher, der nur Teile eine Branche abdeckt, nur dort versucht die Arbeitnehmerkonkurrenz in den Griff zu bekommen, läuft letztlich ins Leere, weil das Druckmittel des Arbeitgebers, seine Option des Ausspielens im Kern erhalten bleibt.
? Eine wirkliche Erzwingungswirkung entfalten Tarifverträge erst, wenn sie im Wesentlichen alle ArbeitnehmerInnen, die von der Gegenseite gegeneinander in Stellung gebracht werden können, erfasst, organisiert und zu gemeinsamem Handeln führen kann. Welche das sind, ist nicht beliebig. Ökonomische Solidarität ist nicht beliebig. Der Arbeitgeber bedroht die Audi-Arbeiter ja nicht mit den niedrigen Löhnen im Einzelhandel oder in der französischen Stahlindustrie, sondern mit den niedrigen Personalkosten seiner Wettbewerber. Welche das sind, kriegen wir im Zweifelsfall in jeder Tarifrunde unter die Nase gerieben. Sie bringt den Automobilarbeiter in Tuscoloosa, Turin oder in Tokio vermittelt über die globale Branche Autoindustrie in ein Konkurrenzverhältnis zueinander. Ebenso den Müllwerker der Stadt Ulm gegen den bei Remondis oder Alba, den Zusteller der Post gegen den von bw-post oder PIN, ebenso den IT-Ingenieur in Indien gegen den bei Siemens hier.
Der Rahmen, indem Gewerkschaften die Konkurrenz der Arbeitnehmer einfangen müssen sind die realen Wettbewerbsräume, die Wirtschaftsbranchen. Das ist der Maßstab, an dem sich Gewerkschaften orientieren, sich organisatorisch aufstellen, arbeitskampffähig werden müssen, um Tarifverträge abzuschließen, die wirklich Flächentarifverträge sind. „Flächentarife“ und Flächentarife Die meisten unserer Tarifverträge genügen diesem ökonomischen Kriterium nicht. Sie spiegeln eine vergangene ökonomische Realität wieder, nicht mehr die Fläche, den wirklichen Wettbewerbsraum, die wirkliche dort stattfindende Konkurrenz, sondern nur Teile davon.
Diese Inkongruenz zwischen unseren Tarifverträge und den realen Wirtschaftsstrukturen bringt uns auch in argumentative, in ideologische Turbulenzen. Je weniger wir es vermögen, die Konkurrenz der ArbeitnehmerInnen in einer Branche in den Griff zu bekommen, desto mehr sticht das Arbeitgeberargument, dass sich billiger machen den eigenen Arbeitsplatz sichere. Natürlich wird hier viel geblufft von den Arbeitgebern. Auch wenn sie in dieser Frage über ein beträchtliches Erpressungspotential verfügen, muss man nicht jedem Druck nachgeben, wird auch Standhaftigkeit nicht sofort mit Standortwechsel und Arbeitsplatzabbau bestraft, zumal es ja noch einige andere Stellschrauben der Wettbewerbsfähigkeit außer den Lohn- und Lohnnebenkosten gibt.
Aber der Kern der Arbeitgebererpressung ist real. Wer den KollegInnen das versucht auszureden, wird Schiffbruch erleiden. Ihre betriebliche Erfahrung lehrt sie, so brutal sich das in unsren Ohren anhört: Lohnverzicht sichert meinen Arbeitsplatz, weil es die Wettbewerbsfähigkeit meines Unternehmens steigert. Verallgemeinert heißt die verheerende Botschaft: die unterdurchschnittliche Reallohnentwicklung der letzten 10 Jahre in Deutschland, die Agendapolitik der Lohnnebenkostensenkungen, das hat die Exportstärke der deutschen Wirtschaft begründet, den Krisenverlauf gedämpft, letztlich die Arbeitsplätze in der Krise gesichert.
Das richtige Bewusstsein im falschen
Der Satz „Deutschland hat seine Hausaufgaben gemacht“ avanciert zum volkswirtschaftlichen Allgemeingut. Der Satz „Griechenland muss jetzt nachsitzen“, weil es seine Aufgaben nicht gemacht hat, ist die Konsequenz daraus. Obwohl es genau umgekehrt ist: Lohnverzicht und Sozialabbau hier, die Überschwemmung aller Weltmärkte mit deutschen Produkten bringt die Nationalökonomien anderer Länder unter Druck und produziert dort Rezession, Arbeitslosigkeit und Haushaltskrisen. Die Auffassung, durch Lohnverzicht Arbeitsplätze zu sichern ist, um noch mal Marx zu bemühen, das richtige Bewusstsein im falschen. Sie ist zwar eine Ideologie, also eine sog. falsches Bewusstsein. Aber sie hat einen realen Anknüpfungs- und Erfahrungspunkt.
Deswegen ist sie auch mit noch so viel Materialien und Parolen nicht aus den Köpfen der KollegInnen zu vertreiben. Der Kollege denkt sich seinen Teil wählt dir Standortsicherer und wird, wenn es eng wird, denen folgen, die die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnverzicht sichern wollen. Vielleicht sogar in dem Bewusstsein, Tarifverträge zu schwächen und unserem Gesamtanliegen zu schaden. Dieses große gewerkschaftliche Dilemma ist nicht dadurch aufzulösen, dass wir die kritisieren, die am Ende die abgepressten Verschlechterungen unterschreiben. Dieses Dilemma ist kurzfristig kaum lösbar, sondern nur langfristig (bzw. wäre vielleicht schon gelöst, wenn es vor 30 Jahren langfristig angegangen worden wäre).
„Ausspielbarkeit eindämmen“
Es geht also um Wege raus aus der Erpressbarkeit. Ist uns erst einmal die Pistole auf die Brust gesetzt, wird man um des Überlebens willen einlenken müssen. Die Strategie muss sein, die Gegenseite erst gar nicht in den Waffenbesitz gelangen zu lassen. Die Waffe der Arbeitgeber ist unsere „Gegeneinanderausspielbarkeit“, die sich hinter dem Killerargument der Wettbewerbsfähigkeit verbirgt und dessen Schlagkraft begründet. Je mehr es uns gelingt, diese Ausspielbarkeit einzudämmen, in dem wir die Konkurrenz der gegeneinander Ausgespielten überwinden, indem wir eben „ökonomische Solidarität“ organisieren, desto wirkungsloser wird die Erpresserei der Arbeitgeber.
Wenn es – heute noch eine ferne Utopie – irgendwann gelingt, dass die Automobilarbeiter von Daimler in Stuttgart, von VW in Saragossa, von BMW in Tuscoloosa, von GM in Detroit, von Fiat in Turin, von Kia in Südkorea, von Renault in Rumänien gemeinsame Forderungen stellen, Z.B. Arbeitszeitverkürzung statt Werksschließungen und Massenentlassungen, gemeinsame Arbeitskämpfe führen, wozu sie eine gemeinsame Streikkasse benötigen (und irgendwann auch eine gemeinsame Gewerkschaft) und am Ende einen gemeinsamen Tarifvertrag durchsetzten, der sich zurecht Flächentarifvertrag nennen kann, selbst wenn er noch weit entfernt von einheitlichen Löhnen ist, dann ist das Spiel der Arbeitgeber am Ende. Dann verlieren sie auch selber das Interesse an der Ausspielerei, weil sie nicht mehr befürchten müssen, dass ihnen ein Konkurrent aufgrund niedrigerer Arbeitskosten die Butter vom Brot nehmen kann.
Dieses Argument ist uns eigentlich vertraut. Wir kennen es aus dem Kontext des deutschen Tarifvertragsrecht, in dem die Funktion des Flächentarifvertrag beschrieben ist, u.a. seine sog. friedensstiftende Wirkung, die darin besteht, die Lohnfrage aus der kapitalistischen Konkurrenz herauszuhalten. Sollen sie doch darum konkurrieren, wer die tollsten Autos baut, die besten IT-Lösungen entwickelt und die besten Hüftoperationen hinbekommt – aber nicht darum, wer die niedrigsten Löhne zahlt und wo am längsten gearbeitet und die Arbeitsbedingungen am billigsten, weil am miesesten sind!
Praktisch hat dieses System der Flächentarife, nach deren Logik auch die deutschen Einheitsgewerkschaften (ein Betrieb, richtiger müsste es heißen: eine Branche – eine Gewerkschaft) aufgebaut sind, nachkriegsjahrzehntelang gut funktioniert, war eine wichtige Basis von Tariferfolgen und Mitgliederzuwächsen. Warum endete Anfang der achtziger Jahre diese gewerkschaftliche Erfolgsgeschichte?
Ein neuer Kapitalismus als Rahmenbedingung unserer Arbeit
Weil ebenfalls Anfang der Achtziger eine fundamentale Umstrukturierung unseres Wirtschafssystems einsetzte, also der Rahmenbedingungen unserer Arbeit als Gewerkschafter. Keine Revolution, kein Systemwechsel, aber eine Revolutionierung der Produktionsverhältnisse innerhalb des Kapitalismus. Wie immer bei solchen Quantensprüngen in der Wirtschaftsgeschichte, geht der Umbruch von technischen Innovationen aus, diesmal der Entwicklung der neuen IT-Technologien, die tiefgreifende Innovationen in der Produktion, in vielen Dienstleistungsbereichen auslösten, die Branchen aussterben und neue entstehen ließ, völlig neue Branchengrenzen allein dadurch zog, dass sich die Ökonomie globalisierte, dass sie neue und andere Wertschöpfungsketten knüpfte und die Zyklen von Produktion, Verteilung und Konsum stark verkürzte. Es ist ein neuer, global vernetzter Kapitalismus entstanden, der räumliche und zeitliche und infolge dessen auch politische Schranken überrannt hat.
? Produktionsstandorte stehen in globalen Konkurrenzbeziehungen, Dienstleistungsanbieter stehen in vielen Branchen weltweit im Wettbewerb.
? Die Finanzmärkte sind für ihr entfesseltes Treiben auf allen Bühnen dieser Welt berüchtigt.
? Die Warenmärkte sind immer mehr globale Märkte: in Kapstadt, Kiew und Kassel fahren sie dieselben Autos und die Teenies in Kairo und Köln tragen dieselben Puma- oder Nike-Klamotten. Schon allein die globalisierten Warenmärkte machen die hinter ihnen stehende Arbeit und ihre Kosten vergleichbar und bringen die ArbeitnehmerInnen weltweit immer stärker in Konkurrenz gegeneinander.
? Aber auch die Arbeitsmärkte selbst sind aus ihren nationalen Fugen geraten. Handys, Skype und Billigflieger einerseits – eine Migrationssteuerung im Wirtschaftsinteresse andererseits, schaffen zunehmend einen Weltarbeitsmarkt.
Vielleicht wäre es hilfreich nicht nur monatlich die Zahlen vom deutschen Arbeitsmarkt zu erfahren, sondern auch die Zahlen der ILO oder OECD über die weltweite Arbeitslosigkeit. Dann würde schneller klar, wer die Krise bezahlt und dass sie beileibe nicht überwunden ist.
Globalisierung heißt nicht, dass jetzt alles woanders stattfindet, vor Ort alles an Bedeutung verliert. Globalisierter Kapitalismus heißt vor allem, dass die Rahmenbedingungen für unsere Arbeit anders geworden sind. Alles findet weiter hier statt, aber nach stummen Zwängen, die von einer andere Ebene in dieses Geschehen hineinwirken. Stummer Zwang auf unsere Tarifpolitik, auf den steuerfinanzierten Sozialstaat, auf die sozialen Sicherungssysteme, weil sie Lohnnebenkosten darstellen. Das erpresserische „There is no alternative“ stammt nicht von ungefähr von Magret Thatcher, britische Premierministerin 1979 bis 90 und eine der ersten UmsetzerInnen der Nötigungen des globalisierten Kapitalismus in nationale Politik.
Kaum war der Kapitalismus als strahlender Sieger aus der Systemkonkurrenz der Nachkriegsjahrzehnte hervorgegangen, kaum hatte er als globalisierter Kapitalismus unangefochten sein neues Reich der Freiheit in Besitz genommen, führte er die Welt an den Rand des Abgrunds in Form der sich anbahnenden Klimakatastrophe, in Form einer Welternährungskrise und alles einbeziehend in Form einer dramatischen Weltwirtschaftskrise. Je größer die Selbstzerstörungskräfte, je größer die Gefahr, dass sich die globale Profitwirtschaft selbst den Teppich unter den Füßen wegzieht, desto stärker das Interesse nach regulierenden Eingriffen, nach Spielregeln, die den Super-GAU abwenden.
So etablieren sich mit jedem neuen Akt im Weltwirtschaftskrisendrama Zug um Zug Elemente einer transnationalen, einer globalen Staatlichkeit heraus: kleine Schritte der Regulierung der Finanzmärkte, Welthandelsregelungen, Kriseninterventionspläne bis hin zu ersten Ansätzen einer Einnahmeseite globaler Staatlichkeit in Form einer Finanztransaktionssteuer oder einer europäischen Besteuerung von Flugbenzin. Damit einhergehend nehmen internationale Institutionen wie IWF, Weltbank, G 20, UNO immer mehr Form an, konturieren sich neu, sind vielleicht die Vorformen globalen Regierungshandelns mit Arbeitsteilung und Ministerien.
„.. und wo bleiben die Gewerkschaften?“
Die Staatlichkeit folgt dem Kapitalismus auf die globale Ebene. Eine Staatlichkeit zu Zwecke der Systemrettung, aber noch lange keine Sozialstaatlichkeit. Der Kapitalismus herrscht, die Staatlichkeit ist ihm als Mediator und Schiedsrichter auf den Fersen, aber wo bleiben die Interessenwahrer der Arbeitnehmer, der sozial Schwachen, der Krisenopfer?
Seien wir ehrlich: die Ebene, von der direkt oder indirekt der ganze Druck kommt, spielt in unserem Kosmos keine Rolle. Eher scheint’s, als würden wir uns in der Krise auch noch von den zarten Ansätzen in diese Richtung verabschieden: keine ernsthafte Beteiligung an den europäischen Krisenprotesten, keine Beteiligung an den europäischen und Weltsozialforen mehr. Kaum deutsche Beteiligung an den grenzüberschreitenden gewerkschaftspolitischen Diskussionen, Foren und Kongressen. Der sonst sehr geschätzte Vordenker der IG Metall, Hansi Urban, verkündet gar die Renaissance der nationalen Verteilungsebene.
Werden es vielleicht gar nicht mehr die Gewerkschaften sein, die zuvörderst die soziale Frage einbringen? Wenn es uns schon national so schwer fällt, wie dann erst auf den Etagen darüber? Ist Gewerkschaft vielleicht gar nicht mehr „Hauptsache“?
Viele haben in der Gründung der LINKEn auch eine Antwort auf die Krise der Gewerkschaften gesehen. Nachdem die SPD ihr Mandat als Vertreterin von ArbeitnehmerInneninteressen als Ansprechpartner der Gewerkschaften auf der politischen Bühne nicht mehr wahrnehme, müsse dies eine neue Partei tun und so auch der gewerkschaftlichen Stimme wieder Gehör verschaffen. Ich fand den Weg der Parteigründung richtig, um den politischen Platz zu besetzen, den die SPD verlassen hatte, und noch aus anderen Gründen.
Aber eine Ersatzlösung für unsere Probleme als Gewerkschaften ist die LINKE nicht. Eher leidet sie an denselben Problemen. Am Problem vorbei geht auch der Abgesang mancher Linker auf die Gewerkschaften, die meinen, der Kapitalismus stehe derart auf der Kippe, dass jetzt die Systemfrage und der Sozialismus auf die Tagesordnung gehöre. Die Defensive rühre daher, dass kein klares Bild einer Systemalternative bestehe.
Es kann in einer Situation, in der die Variante eines großen Systemcrashs in den Bereich des Möglichen gerät, nicht falsch sein, sich mit einem Plan B zu befassen. Aber wer soll Subjekt diese Plans sein angesichts einer ArbeiterInnenbewegung, die weltweit in der Defensive ist, die global keine Rolle spielt, sich mangels Alternativen hinter den nationalen branchen- und betrieblichen Standortinteressen verschanzt, sich gegeneinander ausspielen lässt und nicht zusammenfindet?
Hauptsache Gewerkschaft
Der Weg zurück in die Offensive kann m.E. nur bzw. zu allererst über die Gewerkschaften führen. So pessimistisch meine Bestandsaufnahme nach Jahrzehnten hauptamtlicher Gewerkschaftsarbeit ausfällt und so skeptisch ich die vorherrschende Gewerkschaftspolitik des „mit vereinten Kräften weiter So’s“ finde, so sicher bin ich mir nach allem, dass es letztlich auf die Gewerkschaften ankommt, oder vorsichtiger gesagt: auf .. Gewerkschaften ankommt.
Siegried Bleicher hatte recht: Gewerkschaften sind das Beste, das die Arbeiter haben. Ich bleibe also dabei: “Hauptsache Gewerkschaft“. Zum einen weil es besser ist, nur eine halbe Stunde länger arbeiten zu müssen als zwei. Oder nur einen kleinen als einen großen Reallohnverlust zu erleiden. Zum anderen, weil die gesellschaftliche Emanzipation der ArbeitnehmerInnen letztlich nur über die Überwindung der kapitalismusgemachten Konkurrenz untereinander möglich ist. Durch die Organisation der ökonomischen Solidarität, durch Gewerkschaften eben. Das ist die Basis. Alles andere kommt dann: die politische Behauptung, vielleicht irgendwann irgendein Sozialismus.
Gewerkschaften in dreißig Jahren?
Das Ziel in einem radikal neuen Kapitalismus den gewerkschaftlichen Funktionsmechanismus wieder in Gang zu bringen, erfordert einen ebenso radikalen gedanklichen Schnitt: nämlich die Verabschiedung von der Hoffnung, der alte Rahmen, auf den wir die Gewerkschaften zugeschnitten haben, sei wieder herstellbar und wir könnten so bleiben wie wir immer noch sind. Wir sollten uns eine Vorstellung von Gewerkschaften erarbeiten, die diesem neuen Kapitalismus paroli bieten kann, die die ökonomische Solidarität unter den neuen Rahmenbedingungen wieder funktionsfähig macht. Wir sollten die Frage zulassen: wie stellen wir uns die Gewerkschaften in dreißig Jahren vor, wenn vielleicht Ivo, Mark, Fehmke, Ariane, u.a. sich hier verabschieden.
Das Stirnrunzeln bei Leni vor Augen ergänze ich sofort: ein radikaler gedanklicher Schnitt bedeutet nicht die Abwendung von allem was wir täglich tun. Es bedeutet nur sich Denkspielräume zu erschließen und in diesem Lichte das neu zu bewerten und zu gewichten, was wir täglich tun. Ein linker Pragmatismus, für den für mich vor allem Leni steht, und von dem ich viel gelernt habe, darf nicht in einen Gegensatz zu perspektivischen Überlegungen geraten. In Erinnerung ist mir ein Spruch, eher ein Bekenntnis von Leni, der sich zwar auf die SPD bezog, aber auf unser ganzes Engagement in den Institutionen des Sozialstaats zu beziehen sein dürfte: „Die SPD ist zu schade, als dass wir sie denen überlassen dürfen“.
Wer von uns welche Hoffnung in welche Partei setzt, ist eine politische Frage, die wir in einer Einheitsgewerkschaft diskutieren können, aber nicht zu entscheiden haben. Aber in welchen Institutionen des ins Rutschen geratenden Sozialstaats wir mit welchem Aufwand und welchen Ressourcen kämpfen „um sie nicht denen zu überlassen“, das müssen wir diskutieren. Und zwar vor dem Hintergrund der Frage, wo wir hin wollen, wo wir in dreißig Jahren sein wollen.
„Lernen da, wo wir trotz allen Kämpfens nicht mehr weiter kommen“
Ein verlässlicher Kompass für die Beantwortung dieser Frage, für die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Leitbilds, ist das Lernen aus Erfahrungen, das Lernen an dem Punkt, wo wir trotz allen Kämpfens nicht mehr weiter kommen. Was war die Stärke der Gegenseite, gegen wen konnten wir ausgespielt werden? Bei der Telekom, bei der Abfallwirtschaft, bei den Postdiensten liegt das Notwendige auf der Hand und wir haben langsam und zögerlich begonnen, Schlussfolgerungen für unsere Tarifarbeit und unsere Organisationsentwicklung zu ziehen.
Wir müssen hinein in die gewerkschaftliche Diaspora, von der der Dumpingdruck kommt, wir müssen Ressourcen dorthin verlagern, und sei es zu Lasten der noch hoch organisierten Kernbereiche. Die Wirtschaftsstrukturen richten sich leider nicht nach den Geltungsbereichen unserer Tarifverträge oder Organisationskataloge, wir müssen uns schon nach ihnen richten. Immer häufiger werden solche erfahrungsgeleiteten Branchenanalysen zu dem Ergebnis führen, dass transnationale Wettbewerbsräume entstanden sind, innerhalb derer die Konkurrenzen ausgetragen werden.
Hier darf unsere gewerkschaftliche Fantasie nicht enden. Hier müssen die Verhältnisse erkundet werden, Kontakte zu den KollegInnen und Gewerkschaften in anderen Ländern geknüpft und Kooperationsformen entwickelt werden. In vielen Branchen werden wir auf Wirtschafts- und Gewerkschaftsstrukuren stoßen, die sich uns schnell erschließen. Der Kapitalismus vergesellschaftet die Arbeit. Der IT-Ingenieur in Silicon Vally, China oder Bangalore arbeiten nach denselben Standards wie ihre Kollegen bei Siemens oder SAP. Darauf hat Michael Schwemmle mit „Banghalore statt Böblingen?“ schon vor Jahren eindrucksvoll aufmerksam gemacht. Genauso der Autoarbeiter in Brasilien und Neckarsulm.
Marx würde sagen: Das Kapital bildet eine internationale Arbeiterklasse für sich heraus. In anderen Ländern ist die Erosion geregelter Lohnarbeit sehr weit fortgeschritten oder eine solche ist nie entstanden, z.B. in agrarisch strukturierten Ländern, über die der moderne Kapitalismus gekommen ist. Hier wird oft bis zu 90 % der abhängigen Arbeit im informellen Sektor geleistet, in allen möglichen Formen von Scheinselbständigkeit.
Ob hier oder dort, um in diese gewerkschaftliche terra incognita vordringen, sind neue Zugänge erforderlich: selbst organisierter, kampagnenförmiger, unter stärkerer Einbeziehung des sozialen Umfelds und der Öffentlichkeit - eben Organizing-Arbeit. Dabei geht es nicht darum, sich auf jeden weißen Fleck zu stürzen, sondern um einen spezifischen Zugang in gerade die Bereiche, die von der Gegenseite im Ernstfall einer Tarifauseinandersetzung gegen die gut organisierten Bereiche instrumentalisiert werden können. In den Organizing-Bereichen, wie generell bei gesellschaftlichen Themen, bei denen wir aus der Defensive heraus agieren, sei es gegen gesellschaftliche Mehrheiten oder mit gesellschaftlichen Mehrheiten gegen politische Mehrheiten kämpfen, wie das derzeit bei den Themen Gesundheitsreform, Rente 67 oder Mindestlohn der Fall ist, wird unsere eigene Durchsetzungsfähigkeit nicht mehr reichen.
Wir müssen uns verbünden mit allen, die wie wir oder ähnlich von diesen Themen betroffen sind. Auch wenn jeder, der hier mal um Aufrufe und Rednerlisten gerungen hat, weiß, dass das hartes Brot ist, können wir uns nicht leisten solchen Bündnissen der Rücken zu kehren. Wir sollten das fair tun. Ohne Überheblichkeit, aber auch ohne uns zu einer beliebigen NGO machen zu lassen, oder gar in sozialen Bündnissen den Ausweg aus unseren Problemen zu sehen.
Ich finde es eine beunruhigende Konstellation, dass wir auf der einen Seite völlig abgekoppelt von den Krisen und Krisenprotesten in anderen Ländern agieren, und uns andererseits zuhause aus Krisenbündnissen verabschieden und große Protestbewegungen an uns vorbeiziehen lassen. Damit bin ich – unvermeidlich – bei Stuttgart 21. Das Fremdeln der Gewerkschaften mit Stuttgart 21 Der ver.di LBV war 2007 nach einem Streitgespräch zwischen Peter Conradi und FDP-Rühlke eine der ersten Gewerkschaftsgliederungen, die für einen Baustopp eingetreten waren. Am 30. Januar in der Landesbezirkskonferenz des DGB war es eine Koalition von ver.di-Delegierten, v.a. der ver.di-Jugend mit kritischen IGM Delegierten, die mit großer Mehrheit einen Antrag durchgesetzt hat, aus S 21 auszusteigen und das Bündnis gegen S 21 zu unterstützen.
Die Erwartung, damit sei der Durchbruch geschafft, damit wären wir als Gewerkschaften jetzt ein starker Bündnispartner in der Kampagne gegen S 21, der sich an der Mobilisierung beteiligt, der hilft die Lügen und Infoblockaden zu knacken, erfüllte sich jedoch nicht. Die Gewerkschaftsapparate, allen voran der IG Metall und in deren Gefolge des DGB Landesbezirks weigerten sich schlichtweg, die Beschlusslage umzusetzen. Gerade wo S 21 eine bundesweite Demokratiedebatte ausgelöst hat, ist diese Ignorierung der innergewerkschaftlichen Demokratie eine schwere Hypothek und eine Reputationsschaden für die Gewerkschaften. S 21 wird seither gewerkschaftsoffiziell immer – mit Ausnahme v.a. des ver.di Bezirks Stuttgart und vielleicht des DGB Nordwürttemberg – als ein Fremdthema angesehen, als ein konkurrierendes Thema, was ablenkt von den eigentlichen gewerkschaftlichen Forderungen.
Dabei geht es doch bei S 21 vielmehr als bei anderen umstrittenen Fragen wie Atomenergie oder Afghanistankrieg um wichtige gewerkschaftliche Anliegen: - es geht um die Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte, um Kommunalfinanzen und den Druck auf die Daseinsvorsorge? - es geht um gerade für AN wichtige Entwicklungsperspektiven des Nah- und Regionalverkehr und um die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene, ? - es geht um die Frage der Privatisierung öffentlichen (Bahn-)eigentums zugunsten privater Immobilieninvestoren? - es geht um Versammlungsrechte und die Legitimität zivilen Widerstands (Blockaden , z.B. bei Streiks sind auch ein gewerkschaftliches Kampfmittel)
Wir wundern uns und fühlen uns immer wieder ohnmächtig, weil wir mit unseren Protesten nicht durch kommen, obwohl es klare gesellschaftliche Mehrheiten gegen Gesundheitsreform, R 67 und für Mindestlohn gibt. Und hier, bei S 21, wo es auch um die Ignorierung eines deutlichen Mehrheitswillen geht, wo sich der ganze Frust über die Sachzwangpolitik, die Mauschelpolitik der Eliten, das Hintergehen des Publikums entlädt - sind wir nicht dabei? Es sind Schüler, Studenten, Rentnerinnen, Erwerbslose und zu über 50 % Arbeitnehmerinnen (sagen soziologische Untersuchungen), die hier kämpfen. Es sind unsere Kollegen und Kolleginnen und gerade die AN-Schichten, die wir für unsere gewerkschaftliche Sache schon immer gewinnen wollen, die da demonstrieren - und wir sind als Gewerkschaften nicht dabei?
Hier finden Bewussteinsprozesse statt, hier kämpft eine junge Generation mit neuen Mitteln und Kommunikationsformen, viel über Internet - und wir sind nicht dabei? Hier haben wir bei einem Thema, was auch unseres sein könnte, mit einer echten Durchsetzungschance in der Sache und mit dem Potential, die auch die politischen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen - und wir sind nicht dabei? Wir berufen uns auf einige S 21- Befürworter, die immer gleich mit Austritt drohen, wenn sie ihren Kopf nicht kriegen, und sehen nicht, dass das viel größere Risiko für die Mitgliederentwicklung darin besteht, bei diesem Konflikt im Abseits zu stehen.
In irgendeiner Form, fürchte ich, wird sich das, was die SPD bei den nächsten Landtagswahlen erleben wird, auch in unserer Mitgliederstatistik niederschlagen. Noch in einer anderen Weise geht es bei diesem symbolhaften Großkonflikt um eine Zukunftsfrage auch für uns als Gewerkschaften. So modern S 21 in den Werbeprospekten daher kommt, es steht für ein gescheitertes Wachstumsmodell, das glaubt sich mit schierer Größe über gewachsene Sozialstrukturen und Stadtlandschaften, über die Geschichte einer Stadt, über die Ökologie und natürlichen Gegebenheiten hinwegsetzen zu können, ein Wachstumsmodell, das stark von einem männlichen Machbarkeitswahn geprägt ist.
Viele Jahrzehnte waren die Gewerkschaften treue Gefolgsleute dieses Wachstumsfetischismus. Wachstum schafft Arbeitplätze – egal welches Wachstum und welche Arbeitsplätze. So war der DGB an allen großen städtebaulichen Sünden der Nachkriegszeit beteiligt, von der Zerstörung von Kulturdenkmälern bis zur autogerechten Stadt. Diese Zeiten sollten doch überwunden sein. Spätestens die jetzige Krise hat uns doch gelehrt, dass sichere Arbeitsplätze und „gute Arbeit“ nur bei nachhaltigen Investitionen entstehen, die einen wirklichen gesellschaftlichen Nutzen bringen. Der Kampf um die gewerkschaftliche Position zu Stuttgart 21 ist daher m.E auch ein Ringen um die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften.
Es bieten sich an dieser Stelle drei Schlussformeln an entweder: oben bleiben – sowohl als Appell für das K 21- Konzept als auch als Wunsch für unsere gewerkschaftliche Zukunft oder mit Bertold Brecht mehr im Bezug auf das Hauptthema meines Beitrags: „Wer sich selbst versteht, wie soll der aufzuhalten sein“ oder einfach: machts gut, man sieht sich. Denn wer an denselben Themen (weiter)arbeitet und kämpft, wird sich immer wieder über den Weg laufen!
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