Etwas ist diesmal anders an den Unruhen in Nordafrika
von Karim Metref
In der zweiten Januarwoche löste eine 30%ige Preissteigerung bei Grundnahrungsmitteln und die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit Massenproteste in Algerien aus, die auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei führten, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen. Trotz Demonstrationsverbot rief die «Laizistische Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie» (RCD) für den 22.Januar zu einem Marsch für mehr Demokratie auf.
Die Machtstruktur in Algerien folgt nicht, wie in Libyen, Tunesien oder Marokko, dem klassischen Schema der arabischen Diktaturen mit einer starken Führungsfigur, dem «Zaim», an der Spitze und einer mafiösen, gewalttätigen, korrupten und korrumpierenden Klasse, die sich fast pyramidenartig um ihn herum schart. Sie folgt einer sehr komplexen Struktur verschiedener Machtzentren von Militärs, Politikern und Wirtschaftsleuten, falschen revolutionsgeschichtlichen Legitimationsbezügen und realen Klanstrukturen, die ihre Wurzel in der geografischen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer religiösen Bruderschaft, oder einer Gruppe von miteinander verbündeten Familien haben. Oder auch in der Komplizenschaft vieler Generäle, die das Land in den 90er Jahren in Brand gesteckt haben, weil sie eine gemeinsame Machtergreifung vor Augen hatten, oftmals mit der Unterstützung internationaler Mächte.
Das Gleichgewicht zwischen diesen Kräften hält so lange, wie es einen starken Pol und genügend Reichtum gibt, der aufgeteilt werden kann.
Von 1999 an, dem Jahr, als der jetzige Präsident aus seinem vergoldeten Exil in den Golfstaaten zurückkehrte, bis heute hat das System gehalten – dank einer allen genehmen Übereinkunft, der internationalen Unterstützung für Staatschef Bouteflika, dank seiner starken Person und vor allem dank den enormen Erdölerträgen.
Was funktioniert heute, in dieser der x-ten sog. «Brotrevolte» nicht mehr? Was ist gebrochen im Getriebe der algerischen Macht? Sicher ist die Wirtschaftskrise nicht die Ursache, deren Folgen haben Algerien kaum berührt. Der Ölpreis, oberste Einkommensquelle des Landes, ist auf unerträumte Höhen geklettert. Der algerische Staat war noch nie so reich wie in diesen Jahren. Die Regierung hat in den letzten zehn Jahren ihre Außenschuld definitiv getilgt und sitzt immer noch auf vollen Staatskassen.
Sicherlich haben Preissteigerungen die Unruhen ausgelöst. Die plötzlichen Preissteigerungen für einige Grundnahrungsmittel sind jedoch eine Folge der Spekulation und nicht plötzlicher Preissteigerungen auf dem Weltmarkt. Algerien ist nicht Tunesien, wo der Handel vollständig in privater Hand ist und wo jede Preissteigerung auf dem Weltmarkt unmittelbare Auswirkungen auf die lokalen Märkte hat. Der algerische Lebensmittelhandel wird stark vom Staat reguliert. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind geschützt – ein Überbleibsel aus der sozialistischen Ära –, vor allem die für Brot und Milch, aber auch für Öl und Zucker, jene Produkte, die im Mittelpunkt der jüngsten Unruhen standen.
Lebensmittelknappheit ist auf dem algerischen Markt jedoch ein chronisches Problem, Quelle der Spekulation, der Bereicherung oder auch der Unruhestiftung. Ein anderes chronisches Phänomen der algerischen Gesellschaft ist der Aufstand. Seit dem ersten Aufstand nach der Unabhängigkeit in der Kabylei im Jahr 1980 hat es wiederholt Volksaufstände gegeben – zwischen 2001 und 2010 sogar Dutzende jedes Jahr. Knappheit und Aufstand sind chronisch in Algerien.
Ist also ganz normal, was gerade geschieht? Nein. Es ist nicht normal, aus verschiedenen Gründen. Zwei wichtige seien genannt: erstens die parallel stattfindenden Unruhen in Tunesien, zweitens das Interesse der internationalen Presse an beiden.
Zum ersten: Wie schon erwähnt, ist das tunesische System anders als das algerische. Es gründet sich auf die Figur des absoluten Führers und einer rigiden polizeilichen Kontrolle des Landes. Aufstände sind nicht Teil der politischen Kultur Tunesiens. In Tunesien riskiert man sehr harte Gefängnisstrafen allein für das Öffnen einer verbotenen Internetseite (Amnesty International berichtete 2007 über den Fall der «Jugendlichen von Zarzis»). Proteste sind in Tunesien selten, sehr selten. Wenn es sie gibt, sind sie ein Anzeichen für eine große soziale Krise, aber auch einer großen Schwäche des Polizeistaats. Es bewegt sich etwas.
Merkwürdig ist auch die Gleichzeitigkeit der Unruhen. Bisher sind Unruhen nie von einem auf das andere Land übergeschwappt. Die Proteste in den Ländern des Maghreb waren immer isoliert.
Zum zweiten: Anormal ist die Aufmerksamkeit, die die internationalen Medien den Unruhen in beiden Ländern widmen. Das ist nicht immer so! In der Vergangenheit wurden sehr viele Volksaufstände von den Medien ignoriert. Wer von uns hat beispielsweise etwas von den Aufständen in der Kabylei 2001 und 2004 gehört? Nur sehr wenige. Die internationalen Netzwerke haben sie vollständig ignoriert. Dasselbe gilt für die Revolten der Bergarbeiter von Gafsa und Radayef in Tunesien 2008 und 2009. Totales Schweigen. Warum ist das nun anders?
Sowohl die rasche Ausbreitung der gewalttätigen Unruhen als auch die breite internationale Medienberichterstattung sind meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass es sowohl innen wie außen Zustimmung für einen Wandel gibt. Wenn man berücksichtigt, dass es im Fall der Elfenbeinküste ähnlich war, könnte man daraus schließen, dass der Westen beschlossen hat, in Afrika gemeinsam zu agieren und nicht mehr gegeneinander – ein Versuch, China an der Besetzung von Jagdrevieren zu hindern, die einstmals dem Westen vorbehalten waren.
Das wäre eine Strategieänderung, die auch eine Reorganisierung der lokalen Machtverhältnisse erfordert, eine Neuaufteilung der Macht zwischen den verschiedenen Verbündeten im Innern. Das geht, wie bei jeder Neuaufteilung der Macht, nicht ohne Gewalt und ohne Legitimierung durch das Volk, gleich ob sie real oder vorgetäuscht ist.
Karim Metref ist algerischer Herkunft und arbeitet in Turin als Erzieher. Er schreibt über interkulturelle Fragen.
Aus: www.ilmegafonoquotidiano.it (Übersetzung: Angela Huemer).
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